Galapagos

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Ich bin indisponiert. Seelisch. Mir geht es nicht gut, um nicht zu sagen: mir geht es nicht gut. Alles ist mir fremd und das meiste zuviel. Nicht, weil ich besonders empfindlich wäre, sondern weil es einfach zuviel ist. Viel zuviel und das beständig. Kummercanyons.
Manchmal denke ich: Jedem da draußen in der großen weiten Welt wäre das zuviel; und um mich herum sagt schon kaum jemand mehr etwas anderes als: das hört wohl nie auf bei dir.

(Wer hier bereits länger mitliest, kann an dieser Stelle getrost zu lesen aufhören und gleich zur letzten Zeile springen.
Was davor steht ist hinreichend bekannt und lässt sich subsummieren unter:  Katastrophenchronik & saisonale Verstimmung & lästige Larmoyanz).

 

Tut es nicht (aufhören), niemals. Darauf ist Verlass.
Schon als Kind besaß ich analytische, wie auch seherische Fähigkeiten und malte beinahe täglich einen schwarzen Berg mit einem schwarzen Wimpel darauf, schwarze Wolken drüber.

Zugegeben, es ist Winter und die Tage sind kurz. Dazu dieses nahende Weihnachten und die wiederkehrende Frage, was ich eigentlich am Fest der Liebe zu tun gedenke.

Ich gedenke in die Kirche zu gehen, irgendwo in Mitte (schöner wäre Berkersheim), und mir die Seele aus dem Hals zu berserkern singen. Bei gnadenbringend wird sich meine Stimme hysterisch überschlagen und die bunt geschmückten Mütter werden in die Hocke gehen und ihre Kinder schützend in den Arm nehmen. Einen Rollkragenpullover aus Schurwolle werde ich tragen, einen der am Hals juckt. Zur Selbstkasteiung und zur Feier des Tages.

Nach der Kirche schlurfe ich dann mit hängendem Kopf nach Hause (overacting) um mich im Kreise derer, die um mich sind, alleine zu fühlen. Sie werden, am Rande meines Schlammloches stehend, ihre sauberen Hände nach mir ausstrecken und sagen: das wird schon wieder.
Nicht mal von der Klippe spingen kann man, wenn man schon unten steht bzw liegt, werde ich jammern und innerlich aufstampfen dabei. Besorgt werden sie die Stirn runzeln und mich mit ihrem nächstenliebenden Lächeln beschenken.

Launisch bist du, sagst du zu mir, als ich während eines unerwarteten Euphorieschubs zu singen beginne.
Launisch? frage ich, ich wechsele doch höchstens 3 bis 4 mal am Tag die Stimmung.
Eben
, sagst du.

Ich würd´ sagen: stabiles Tiefdruckgebiet mit gelegentlichen Auflockerungen. They call it winter, Dahlink, und im Winter soll ein Tief ja was Gutes sein. Da fürchtet man das Hoch, und die dadurch drohende russische Kältepeitsche, mehr als alles andere auf der Welt (mehr als der Teufel das Weihwasser/ als Dracula das Kruzifix / als Judas den morgendlichen Hahnenschrei uswusf.).

Der Schlamm ist eine verlässliche Größe. Selbst die Natur-Kitas schwören inzwischen darauf und kippen tonnenweise teuren Urschmutz in ihre Keller, damit die lieben Kleinen sich beizeiten daran gewöhnen. Manche Kitas halten auch non-allergene Fauchschaben als Streicheltiere vor.

 

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(fadeout)

 

 

 

 

 

Bild: pantxorama, Galapagos, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

I follow rivers

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(…)

1 Blick
in dein Auge würde mir sagen ob du müde
bist oder ob es noch weitergeht. Weinen
würden wir trotzdem oft, weil
der Abschied noch vor uns läge –

Friederike Mayröcker

 

 

Am Morgen ruft der Kanzler an. Ich sehe seine Nummer auf dem Display und weiß, daß das nichts Gutes bedeutet. Nicht um diese Uhrzeit. Mit klopfendem Herzen hebe ich ab.
Ganz ruhig redet er und mir laufen die Tränen, während er erzählt was geschehen ist, völlig unerwartet.
Ich kann gar nicht trauern, sagt er, nach einer Pause, so ist eben das Leben. Grausam.

Mich schüttelt es und ich denke: es steht mir gar nicht zu, so zu weinen, sie ist ihm viel näher als mir.

Heute Nacht habe ich sehr intensiv geträumt, sagt er dann unvermittelt. Ganz ungewöhnlich für mich. Ich träumte, dass ich fliegen kann. Nicht nur ein bißchen, sondern richtig. Zwischendurch dachte ich immer: das kann nicht sein, ich träume. Und dann war es doch so und ich flog 2000 und dann 3000 Meter hoch und immer höher.
Flieg du nicht auch noch davon, Papa, denke ich und sage es nicht.

Sie ist in dem gleichen Alter, wie unsere Mutter, als sie starb, dabei ist sie die Jüngste von uns fünfen.
Sie ist meine Lieblingstante,
sage ich.
Ja, ich weiß, antwortet der Kanzler, sie ist ein so sanfter Mensch.

Die Geräte sind abgeschaltet, wir warten auf den Tod.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle Zitat: http://www.poetenladen.de/theo-breuer-friederike-mayroecker.htm
Bild:
陶德, flickr, 20100829-0090,
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

1616

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Frau meertau hat gefragt, was ich am Tag der Bestattung meiner Mutter machen werde.
Die Frage an sich klänge im Leben der meisten Menschen schon merkwürdig.

Da ich nicht an ihrer Bestattung teilnehmen darf und auch nicht mehr möchte, weil ich mir nur schwer vorstellen kann mit dem selbstgerechten Onkel und dem histrionischen Bruder an Deck eines Schiffes zu stehen, theatralisch nach vorne zu blicken und später dem Blumenstrauß hinterher zu weinen, wie er auf dem Wasser schwimmend davontreibt, während die Urne auf den Grund des Meeres sinkt, ist es für mich eher ein Trost zum Zeitpunkt der Bestattung meiner Mutter auf dem Zahnarztstuhl zu sitzen, mit weit aufgerissenem Mund, an die Decke zu starren und in dem weit aufgerissenen Mund über mir das Universum zu betrachten.

Ob ich dabei Trost oder Tränen finden werde oder beides ist noch nicht entschieden.

Mein Ritual findet ein paar Tage später auf einem verlassenen Friedhof statt. Gemeinsam mit Menschen, die mir nahe stehen, werde ich dort alles lassen, jeden Kummer und jede Wut, die ich meiner Mutter gegenüber empfinde und empfand. Auch die guten Gefühle, die es durchaus gab und manchmal noch gibt. Ich werde ihr sagen, was mir auf dem Herzen liegt, ihr erklären, dass sie nicht ausgelöscht ist, weil sie in uns weiter lebt und wir ein Teil von ihr sind, und dass ich irgendwann nachkomme und wir hoffentlich noch einen zweiten Versuch miteinander bekommen. Irgendwie, irgendwo.

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„Fegt mich weg!“

(Kierkegaard)

 

Gründe parat haben, triftige am besten, für alles. Einem Schuldgefühl folgend oder ihm unterworfen. Es geht nicht anders, das leuchtet ein.

Entladungen, alles nur Entladungen, was soviel heißt wie: die Zeit ist reif, sie hängt schwer und voller Ereignisse, die es herunterprasselt in der Folge von etwas oder einfach so. Fallobst. Geschichte als ein einziger Matschhaufen, ein Klumpen überreifen notgedrungenen Handels, wurmzerfressen. Schwerkraft. Was soll schon dabei heraus kommen.

Und heraus kommt ja sowieso nichts, eher zusammen, aufeinander, massenweise, ganze Berge gilt es wegzuschaufeln. Doch wohin damit und wer tut es? Soldaten. Gedungene. Ein Napoleon in hundert Jahren, der Oberschüttler. Ein Beweger.

Geschenkt ist der freie Wille, soviel wert wie alles, was es nicht gibt und was nix kost´, außer der Entscheidung zu schaufeln oder zu schütteln. (Totengräber).
Ihn sich lassen, gegenseitig und gut verschnürt (mach was du willst, meinen Segen hast du) und dann rin damit in den Schub und rein mit der Lade in den Bauch, den dunklen, auch Universum oder der Einfachheit halber Kommode genannt, nur um ein Bild zu haben, irgendeines, das ich stemmen kann. Ein Trostwort bloß, denn bequem ist es nicht und auch nicht unheimlich, wie man glaubt, wenn es dunkel und weit wird und hallt. Eher schon heimlich, doch nicht für die, die draußen sind und Löcher fressen oder stopfen, nach Gusto und Perspektive.

Eine Mitochondrie, eine Blattlaus, etwas, was man unter dem Nagel zerquetscht, nachdem man es vom Baum geschüttelt hat, und schon wird wieder geschaufelt und gefegt, wir kennen das, es hört nicht auf, wie könnte es. Wohin damit in dieser verplombten Welt aus Einstreu und Gras. Kein Entrinnen. Wir sind allein.

Where is everybody?

Pest, Typhus, Ebola im Zeitraffer. Katastrophen, schnell und effizient wie Heuschrecken oder Dickmaulrüssler auf der Akelei, die ich am Abend noch goß und am Morgen vergeblich suchte. Dahin, dahin.

Das Haus ist voller Tränen, der Kater sucht seine Gefährtin.
Leer ist es geworden. Aus fünfen wurden zwei. Trauernde Tiere, was kann man  tun, außer zu warten auf den Tod aller. Er beendet das Experiment.

 

 

 

 

 

 

 

Houdinis Tod

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Fragen, die ich mir nie gestellt habe, weil sie nicht aus meinem Inneren an mich heran oder aus mir heraustreten. Nicht treten und nicht einmal klopfen, oder wenn, dann nur ganz sachte. Worte, die nur als Text vor mir stehen, weil andere sie sagen oder sie präsentieren, so wie die lange Bücherreihe der Neuen Juristischen Wochenschrift im Wartezimmer des Anwaltes, die nicht zu mir spricht. Wohl aber der dort befindliche riesige verschlossene Kasten hinter der übergrünen Zimmerpflanze, breit und tief und etwa kniehoch, laut brummend und uns, die vom Neonlicht Begossenen, zum Nachdenken anregend. Wer oder was und weshalb, und wieso hier?

Drei Hirschköpfe aus Plastik als Garderobenhaken. Schwarz weiss rot, der Anwalt wird doch nicht? Bestimmt nicht.

Ein Entfesselungskünstler könnte sich darin befinden, die Kiste angeschlossen an ein Belüftungssystem, daher das Brummen. Wo bin ich bloß hingeraten?

Houdini, Houdini, wer erinnert sich noch an Harry Houdini? Gehörte er nicht der gleichen Gattung an, wie die Menschen, die Frauen zersägen. Kuriositätenklimbim aus vergangenen Tagen. Oder ist Entfesselung immer noch en vogue als Gegenstück zu BDSM (das kennen inzwischen nicht nur die Eingeweihten. Es sagt sich so wissend und so angepornt: BDSM. Dabei schreckten die meisten wohl schon vor einem einfachen Kabelbinder zurück).

Wir sitzen an dem langen Schreibtisch, dahinter das großformatige Foto einer West-Berliner Straßenkreuzung, und reden über die Verwaltung eines Todes. Wir besprechen, wie es sein wird und was es zu bedenken gilt. Ganz ernst und ruhig sitzen wir und imaginieren den freien Fall. Keiner zuckt. So ist das eben, der Lauf der Dinge.

1000 Gulden. Ich habe Dir 1000 Gulden gegeben und nun musst du sehen, was du daraus machst.

Ich denke mir ein großes Fenster. Mit Blick und weit genug oben, um ihn für immer abzuwenden.

Man stürzt so tief, wenn die Wurzeln sterben.

 

 

 


Foto: 
Kevin Doley, Saboten-Com lomo portraits  https://www.flickr.com/photos/pagedooley/4256706596/in/photostream/
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Im Hola

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Du kommst nicht drin vor. Ich denke gerade nicht an dich. Nicht ständig, jedenfalls.
Ich lehne das Gefühl ab, das entsteht, wenn mich deine Kälte streift. Oder Gleichgültigkeit. Dein Hadern vielleicht.
Ich frage mich nicht, ob wir uns verloren haben. Es geht nicht immer um alles oder nichts, obwohl es doch immer in Allem enthalten ist, das Alles und das Nichts, und immer auf´s Neue durchschimmert.
Ich wundere mich. Manchmal. Angestrengtes Wundern, wenn es so etwas gibt.
Da glaubt man, wundern wäre etwas Schwebendes, Federleichtes. Kinderleicht sogar. Mit Ah! und Oh! Ich aber wundere mich stirnrunzelnd und schwer und auch ein wenig traurig, nur Tränen vergieße ich nicht. Heute jedenfalls nicht. Sie stören bloß. Auf die Palme bringen sie dich innerlich, irgendeine Verachtung oder einen Ärger schüren sie, so genau weiss ich das nicht. Du vielleicht ebensowenig. Und es spielt auch gar keine Rolle, denn Verdruss und Überdruss hängen schwer an mir, wie regennasse Kleidung und sofort sprudeln die Erinnerungen, auch an diesen Nachmittag (so viel Grün, Juliregen, dampfige Schwüle/ cruel summer) an dem ich unter Tränen und ohne Appetit vor der kleinen Asia-Bude am S-Bahnhof Treptower Park sitze und weder Eierreis noch Gemüse herunter bekomme, so traurig ist mir, so beladen ist mein Herz und nebenan raucht einer Kette und der Rauch wabert über unseren Köpfen umher, in der klammen Luft, dem bleiernen Tag, und trinkt ein Bier nach dem anderen, in Handwerkerpose, den Ellbogen weit abgewinkelt, im Blaumann, so sitzt er hier, jeden Tag, von früh bis spät, mit eingefallenen Wangen, Oberlippenbart und dünnem Haar.
Ich bin dort im Sommerkleid, mit dem Unterfranken, der nicht weiss wie ihm und noch weniger wie mir geschieht, ich weiss es ja selbst nicht, weiss nur, wie traurig ich bin über dieses letzte Gespräch und sein unerwartetes Ende und das Ende überhaupt, nach einem langen Anfang, den wir hatten, so intensiv und klimperleicht.
Den Schlüssel im Zündschloss,

rrrrrrooooaaaaaaaaaaarrrr

warst du verschwunden. Wenige Worte nur, kühl und nasal. Klipp und klar. Verschwunden aus meinem Leben, ohne Bedauern und ohne Wiederkehr. Und ich nahm nicht in Anspruch, was ich mir erbeten hatte: ein paar Tage Aufschub, zum Verstehen, für Fragen. Nicht mehr. Ich nahm sie nicht in Anspruch, die gewährte Frist, wozu auch, deine Worte ließen keinen Zweifel, du liebst mich nicht, nicht mehr oder noch nie, legte die Hände in den Schoß und weinte, schmal wie eine Prinzessin, und schoß ein Foto, das ich dir nie würde zeigen können, nur mir selbst, zu Dokumentationszwecken und zum Unterhalt von  Schmerz und Tränen. Oh, holdes Selbstmitleid.

Ich sitze dort an der S-Bahn vor dem großen Haufen Reis und weine und zittere und der Unterfranke wird erst unsicher, dann ärgerlich. Das hast du dir selbst eingebrockt, soll ich etwa Mitleid mit Dir haben, ausgerechnet ich?
Ja, das sollst du nicht, nein,
mit bebendem Kinn, der Hund zu meinen Füßen, verpasse ich den Bus und erreiche tropfnass die Wohnung, wo ich dir nah genug bin um mich von dir zu entfernen. Auf dem Weg ins Hola, wie man in Frankfurt sagt, dem Ort, an dem ich frei bin und unverwundbar.
Später dann wirst du mir deine Fotos zeigen. Am dritten Tag war der Schmerz einem soldatisch beherrschten Ausdruck gewichen.
Ich wusste nichts von deinen Tränen.

 

 

 

Bild: http://publicdomainreview.org/collections/the-nantucket-sea-serpent-hoax-1937/

 

 

 

 

 

 

Lieben

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Ich lese andernorts über das Vergehen der Liebe und über das Entlieben.
Darüber, wie es ist, wenn man versucht nicht mehr an den geliebten Menschen zu denken, wie traurig es macht und wie unendlich viel Kraft es kostet.
Das Abebben bestimmter Hormone, das Meiden sozialer Netzwerke und gemeinsamer Freunde. Keine Anrufe, keine sms. Keine Fotos anschauen.
Wie man sich auf einmal frei und stark, oder aber hart und ganz verloren fühlt.

Die Zeit vergeht, der Schmerz mit ihr. Bilder verblassen.
Immer seltener denkt man an den Anderen, den Menschen für den das Herz schlug.
Und eines Tages erwacht man und ist geheilt. Frei. Der Bann ist gebrochen.
Man hat sich die Welt rückangeeignet. Das Café, ein Lied, eine Straße.

(Wie sollte das gehen? Ganz Berlin ist durchdrungen von dir)

Ich versuche mich zu erinnern und spüre, wie der leiseste Gedanke daran mich sehr, sehr traurig macht. Das Ende der Liebe erscheint mir als der größtmögliche Schmerz. Die Amputation eines lebenswichtigen Organes. So schlimm beinahe, wie der Tod des geliebten Menschen.

Dance me to the end of love

Und dann frage ich mich, was eigentlich los ist mit mir. Wieso tue ich mir solche Gedanken überhaupt an? Wir wollten schon nicht 45 years zusammen gucken, uns nicht betrüben mit anderer Leute Kummer (es gibt genug davon im eigenen Leben, und es nützt ja niemandem, schon gar nicht, wenn es sich bloß um ein Filmpaar handelt. Aus dem gleichen Grund schaue ich fast keine Nachrichten mehr: I can´t help it).
Nicht im Schatten frieren, während die Sonne scheint. Das haben wir gesagt. Wir haben es so schön zusammen, in jeder Hinsicht.

Was ist es, dass ich selbst in den glücklichsten Phasen meines Lebens an ihr Ende, an das Unglück, das zwangsläufig über mich kommen wird, ja kommen muss, denke?

Ist es die Gewohnheit der Katastrophenchronistin, habituelles Leiden also, oder die Einsicht, dass alles was entsteht in jedem Fall zugrunde geht, oder ist es vielleicht prophylaktisches Leiden, Vorleiden sozusagen, um das, was auf mich zukommt schon in Gedanken zu durchleben und auf diese Weise gefeit zu sein, wenn es wirklich einmal so weit ist. Mich impfen gegen den zu erwartenden Schmerz.
Sollte man es dann nicht gleich sein lassen? Unter der ständigen Erwartung des Verlustes kann es nicht gut werden, bzw. gut bleiben.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Hier zeigt die Redewendung ihren tieferen Sinn.

Vor Jahren erzählte mir ein neuseeländischer Freund von einer wunderbaren Frau, die er getroffen habe. Sie hatten eine tolle, besondere Zeit miteinander, verstanden sich gut, lachten viel, führten interessante Gespräche, begehrten sich leidenschaftlich, aber er konnte nicht mit ihr zusammen bleiben. Nach ein paar Wochen beendete er die Liaison und brach den Kontakt vollständig ab.

Wieso das denn, frug ich ihn.

Weil sie fast vierzig war.

Aber sie gefiel dir doch.

Sehr. Aber bald ist sie alt, und dann gefällt sie mir nicht mehr.

Vorbeugendes Schlussmachen also?

Sozusagen.

Hast du ihr das gesagt?

Nein.

Natürlich war das keine Liebe, sonst hätten ihn die Falten der Zukunft nicht interessiert, die Liebe liebt auch die Schwielen an den Füßen und die Krähenfüße unter den Augen, aber es hätte Liebe werden können. Vielleicht beschwört man die Dinge erst durch seine Gedanken.
Es ist beinahe schon eine Binse, aber der einzige Weg glücklich zu sein ist das Leben im Hier und Jetzt. Sich an dem erfreuen, was ist. Es nicht betrauern, solange es währt.
Achtsam umgehen mit dem, was einem gegeben ist. Keinen Horizont zeichnen, wo keiner ist. An die Ewigkeit glauben und das Beisammensein nicht mit bangem Hoffen beschweren.
Je weniger Lebenszeit vor mir liegt umso zuversichtlicher werde ich, dass ich sie im Glück und in Liebe verbringen werde.

Love you, darling.

 

 

 

 

 

 

Dampfnudel

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Meine Mutter lässt die Zeitung auf den Schoß sinken und schaut mich an. Ihr Gesicht ist verschwitzt, auf der Oberlippe stehen Schweißperlen.
Ihr Blick macht mir Angst. Und sie sagt: Kathe, ich muss dir etwas sagen, es ist etwas passiert.
Ich sitze im Schneidersitz auf dem Rasen und beobachte die Ameisen, wie sie über die Grashalme torkeln, immer in Eile, und ich bin froh keine von ihnen zu sein. So allein.
Mit beiden Händen greife ich ins Gras und halte mich daran fest. Gleich wird sie etwas Schlimmes sagen, das weiß ich.
Mir ist stumpf und schwerfällig und plump zumute, eine dicke Kartoffel, eine Dampfnudel in einem Setzkasten voller Fingerhüte und Zinnfigürchen. Etwas warmes, das sich ausdehnt, ungeformt und wertlos.
Solange ich sie nicht anschaue kann sie nicht weiter reden. Ich richte meinen Blick fest auf den Boden.
Kathe, ihr sanfter Ton ist alarmierend.
Es ist etwas Schlimmes passiert, sagt sie jetzt und die nackte Angst kriecht mir die Wirbelsäule hoch bis in den Nacken. Ich halte den Atem an, Tränen steigen mir in die Augen.
Es nützt nichts, sie spricht. Ich muss sie gar nicht anschauen. Sie spricht und sie sagt: Matthias ist tot.

Es brennt in der Nase, zwischen den Augen, im Kopf hinter der Stirn. Mir wird heiß und ich dehne mich aus.
Weil sie lügt. Es steht in der Zeitung, sagt sie. Sein Vater. Mit dem Brotmesser im Schlaf.
Die Presse lügt, hat jemand gesagt. Der Onkel oder jemand anderes.
Nachts im Schlaf, mit dem Brotmesser aus Liebeskummer. Sich selber konnte er dann nicht mehr und hat die Polizei angerufen. Später in der Zelle hat er sich am Fenstergitter erhängt.
Ich weine und ich weiss nicht warum, denn es stimmt ja gar nicht und ich fühle mich so schwer und schaue sie immer noch nicht an, wie sie schwitzt auf der Gartenliege.
Matthias ist der Beste im Schnell-Gehen. Mit kurzen Hosen. Matthias ist der Lustigste. Matthias ist mein Freund. Ich bin verliebt in Matthias, schon lange.

Sommerferien. Es ist heiß, die Ameisen torkeln über die Grashalme, meine Mutter hat Schweißperlen auf der Oberlippe und Matthias ist tot. Wegen der Freundin, die den Vater verlassen hat.
Ich werde ihn besuchen. Vielleicht in der Gerichtsmedizin oder im Krankenhaus, wenn es ihm besser geht.

Am ersten Schultag liegen Blumen auf seinem Platz. Ich hatte es vergessen aber die anderen Kinder wissen es und ihre Eltern kommen mit in den Klassenraum heute und stehen und schweigen neben seinem Tisch. Ich habe keine dabei, weil ich es nicht wusste und weil er ein Junge ist. Und die Lehrerin, die mit Vornamen Hortensie heisst und spitze Eckzähne hat wie Dracula, ist sehr blass. Ihre Arme hängen schwer am Körper herunter. Sie trägt ein dunkles Kleid mit gelben Rechtecken, wie erleuchtete Fenster in der Nacht. Wie New York.

Matthias kommt nicht an diesem Tag und im Krankenhaus ist er auch nicht. Er kommt das ganze Jahr nicht mehr und ich bin immer noch verliebt in ihn.

Er liegt jetzt unter der Erde zusammen mit seinem Vater.

 Bild: See page for author [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or CC BY-SA 2.5-2.0-1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5-2.0-1.0)%5D, via Wikimedia Commons

 

 

 

 

 

 

Wie es begann

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Als ich von der Physiotherapie zurück komme sind quer durch das Zimmer dünne Seile gespannt. Längs gespaltene Möhren sitzen darauf, wie steife Reiter; der Strunk ihr Kopf.
Ein Brief ist mit einer Wäscheklammer an einer der Schnüre befestigt. Ich erkenne die Handschrift. Das Telefon klingelt, ich ducke mich unter den Schnüren hindurch und hebe ab.

Es ist Freitag der 17. Mai. Ich höre die Stimme meiner Schwester. Sie sagt meinen Namen und sie sagt „Papa hatte einen Herzinfarkt, er liegt auf Intensivstation, wir wissen nicht ob er es überleben wird.“

Ich verlasse die Klinik und setze mich mit M. ins Auto. Ich habe keine andere Wahl. Er bringt mich nach Frankfurt. In der Nacht legt er sich nackt auf mich. Ich weine.
Meine Mutter weint auch. Ohne euren Vater bin ich verloren.

Ich trinke sehr viel Bier und rauche und trinke noch mehr Bier. Meine Haut brennt, ich warte und hoffe und finde keinen Halt.
Ich darf nicht zu ihm; keiner von uns.
Zwei traurige Tage später fahre ich mit M. zurück. Ich ekele mich vor ihm.

Es ist Sonntag, früher Abend, als M. mich auf der Station N2 abliefert. Die Schnüre in meinem Zimmer sind verschwunden, der Brief liegt ungeöffnet auf dem Tisch.
Ich setze mich aufs Bett und weine die letzten Tränen. Eine Taube hat durch die offene Balkontür den Weg zu mir gefunden und läuft kopfruckend über das Linoleum. Die Abendsonne malt ein helles Viereck auf den Boden. Aus roten Augen schauen wir uns an. Sie nickt.

Auf dem Balkon, vor meinem Fenster steht ein junger Typ in der Bewegung erstarrt. Er sieht mich an und lächelt vorsichtig. Ich senke den Blick und er geht weiter.

Nebenan sitzt ein fröhliches Besuchergrüppchen und lacht, während mein Vater mit dem Tod ringt und die Tumore in den Köpfen der Mitpatienten sprießen, wie Brokkoli.

Teil II Junge Hunde
Teil III Nine years later and change

Foto: By User:Mattes (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)%5D, via Wikimedia Commons