Sette sorelle

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Ich möchte fast sagen, die Träume sind nur Erinnerungen oder Combinationen von Hasen mit einer Papierscheibe gedeckt, kalt gestellt.

(Bot)

 

Ein heiteres, ausgelassenes Grüppchen – alle Menschen werden Schwestern- hat sich auf der Michaelkirchbrücke zusammen gefunden. Entspannt stehen wir am Geländer und schauen in das weite Himmelszelt. Ein freundlicher Mann erklärt uns das Geschehen am Firmament:
vor uns im Osten steht der Blutmond, der gerade aus dem Erdschatten heraus tritt, darunter, an der Häuserecke und viel, viel kleiner, der orange-rot funkelnde  Mars, zukünftige Heimat der Erdianer, im Süden gleich hinter dem großen Baukran Saturn, im Südwesten Jupiter und über uns die ISS, die in diesem Augenblick  in Richtung Nordosten davon fliegt. Fröhlich und ergriffen und sterblich wie wir sind, winken wir ihr zu und lachen und rufen „Alex!“ und eine Brise kommt auf in dieser tropischen Nacht und der Wind kühlt die Stirn und die Arme und weht das Haar aus den erhitzten Gesichtern und unten auf der schwarzen Spree zieht ein einzelnes Blässhuhn krächzend seine Bahnen. Irgendwo am Ufer brennt ein großes Feuer, in der Ferne höre ich Sirenen und den Gesang der Stadt. Rot leuchtet das Rathaus in unserem Rücken.
Im federleichten Flatterkleidchen und mit Rokokoperücken schweben drei Transen über die Brücke. Man sieht ja gar nichts, näselt die Eine.  Hätt´ ich auch nicht extra wachbleiben müssen, sagt die Andere.
Wir lachen.
Leben.

Später treffe ich die Nachbarin auf dem Platz. Verloren steht sie mit ihrem Dreirad vor der roten Kirche. Wo ist der Mond fragt sie und ich zeige vage in Richtung Spree.

 

Es sind diese Nächte die man ein Leben lang erinnern und von denen man nie genau wissen wird, ob sie ein Traum waren.

 

 

 

 

 

Bild: cc, public domain

fate

Andere Menschen starten ein Auto. Ich rufe den ADAC, der sich keinen Rat weiß. Als der Nachbar helfen möchte, verschmort sein Überbrückungskabel und mein Auto tut weiterhin keinen Mucks. Am Ende ist der Transponder des Schlüssels die Ursache allen Übels, ein neuer muss her und dieser dann in der Fachwerkstatt „eingelernt“ werden. Hab ja sonst nix zu tun.

 

Anderntags quäle ich mich bei sengender Hitze über den flirrenden Asphalt zum Höllenbaumarkt, einen neuen  Klappwäschekorb zu kaufen.
Zuhause schäle ich das Teil aus seiner Folie. Es ist am Boden gebrochen.

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Meine Nahrung besteht weiterhin aus Nüssen und Bohnen mit Hihikichererbsen.

Cashewkerne, so lese ich, sorgen dafür, dass die sie erntenden (Kinder)Hände durch die Säure der Nusshaut verätzt werden, ihr Profil verlieren und die Menschen geschäftsunfähig werden bzw. bleiben, weil in den Ländern, in denen der Cashewbaum wächst, jeder Handel mit Fingerabdruck besiegelt wird.

 

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Manchmal, immer häufiger, besuche ich die ungekannte und blindlings betrauerte Emma auf dem Friedhof der Halbinsel und lege Blumen auf ihr Grab. Silbrig glitzernd zieht die Spree an uns vorbei. Sinnbilder wohin das Auge blickt. Ach.

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In meiner Tasche klebt´n Bonbon.

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Die Straßen sind leer, überall freie Parkplätze, ich warte darauf, dass die Zapfsäulen wieder D-Mark-Preise anzeigen und später in den Herbstpfützen bunte Öllachen schillern.

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Um mich herum werden alle nochmal schwanger. Apfelbäumchen pflanzen.
Ich hingegen bin im Begriff meinen fruchtlosen Körper und den meines Hundes in die Alpen zu kutschieren, wo ich einen Monat zu ruhen gedenke. Keine Menschen, keine Worte. Berge, See, Schweigen.

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Vor meinem Fenster summen unbeirrt die Bienen.

In den USA bereiten sogenannte Prepper sich auf den Weltuntergang vor
und in meinem innenliegenden Bad hat eine einzelne grüne Heuschrecke ihre letzte Bleibe bezogen.

 

 

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Oft denke ich an meine Grundschullehrerin mit den schnurglatten hellroten Haaren. Im Religionsunterricht las sie uns einmal eine Geschichte von einer sich stetig nähernden Sonne und dem kollektiven Hitzetod vor, der alle Menschen zu Brüdern und Schwestern werden ließ.

 

 

 

 

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heute jedoch nicht

 

Die Welt gehört uns, steht auf Nabelhöhe an die Hauswand gesprayt. Gleich daneben lehnt eine festgekettete Holzleiter. Ein paar Meter weiter sitzen die neuen Kiezbewohner auf den sonnengefleckten Gehwegen am Park und genießen hinter dunkler Brille und sattem Lächeln einen Taschengeldkaffee aus unseren Kolonien.

Der Bekannte und ich versuchen es noch einmal mit einem gemeinsamen Spaziergang durch Kreuzberg. Den Rückweg geht wieder jeder allein. Der Enzian ist ein Mythos und mein Wille zur Steilwandbezwingung ist erlahmt. Nur manchmal noch brennt die Vergeblichkeit ganz oben an der Nasenwurzel.

Am Kanal stehen die verbotenen Angler und locken mit blinkenden Ködern japsende Fische aus dem überwärmten Gewässer. Auch der hessische Riesenwels soll demnächst gefangen werden und anderswo, bei als weniger wertvoll erachteten Arten, für einen darwin´schen Alptraum sorgen. Bereits auf einsfuffzich ist das gefräßige Tier meanwhilst herangewachsen. Sie tauften es auf den Namen Walli.

Ich lese, dass wieder irgendwo in der Republik ein Vater seine Tochter getötet hat, um damit die ungehorsame Kindsmutter zu strafen. Toxische Männlichkeit nennt man das heute. Ich nenne es: verfluchtes Schwein.

Mein Bedürfnis der Welt etwas mitzuteilen scheint verbraucht. Lieber betrachte ich die Feuerwanzen auf den Gehwegplatten, wie sie mit ihren aufgebockten Hinterleibern von links nach rechts torkeln, um sich später am Abend auf Mauern und Baumstämmen zu sammeln, wo sie ihre rotflammenden Panzer für die kommende Nacht mit Wärme betanken.
Am Engeldamm kreuzt ein querschnittgelähmtes Eichhörnchen meinen Weg und kriecht unter dem Bauzaun am Kinderbauernhof hindurch. Neugierig steckt der Taubenzüchter seinen Kopf aus dem federflusigen Holzverschlag. Gemeinsam beobachten wir wie das kleine Tier durchs Unkraut robbt, um den nächsten Baum zu erreichen, ehe der Kater kommt. Ich warte bis ich einen rostroten Fleck auf dem hellen Stamm des Essigbaums entdecke und trotte erst dann mit Tölchen weiter.

Auf dem Oranienplatz ist es selbst für die Trinker heute zu warm und auch die häkelnden Türkinnen finde ich nicht auf ihren Bänken unter den Kastanien.
Nur der Krähenfütterer und ich tun weiter ihren Dienst.
Hinter den Scheiben des farbbeutelverschmierten Hotel Orania stoßen derweil die betuchten Gäste mit einem erlesenen Tropfen an.

 

 

Früher stand hier auf dem Platz ein Mast. Darauf ein umgekippter Katamaran.
Der Wind entlockte den Drähten seiner Segel sphärische Klänge.

Ruhen Sie sanft, Herr Graff.

 

 

ultramarin

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In Frankfurt brennt ein weiteres Ausflugsziel nieder. Zwei Pferde kommen dabei zu Tode. Der Goetheturm, der Monate zuvor in Flammen aufging, war das Freitodtool der Mutter eines Freundes. Nun liegt er in Asche und die Trauer blickt zu Boden.

Beim Wäscheaufhängen erinnere ich mich an die Mutter der Freundin, die sich weigerte mein versehentlich in ihre Maschine geratenes, weißes T-Shirt aufzuhängen, weil sie sich für den Grauschleier schämte, den meine Mutter nicht in den Griff bekommen hatte und den die lurgenden Nachbarn womöglich ihrem hausfraulichen Unvermögen anlasten könnten. Mit dem rund gefönten, blonden Bob und den krokodilsledernen Schuhen an gertenschlanker, zierlicher Puppenfigur stand sie vor der Wäschespinne auf ihrem nagelscherengepflegtem Rasen und zeigte der Welt ihre unendliche, ultramarine Reinheit.

Das Talent, so wurde mir erst Jahre später klar, weiß in grau zu verwandeln, habe ich, wie manch anderes, von meiner Mutter geerbt. Diese Inselbegabung zeigte sich bereits in frühester Kindheit, als mir beispielsweise gelang, auf einem mitten im Raum platzierten Stuhl sitzend, mein blütenweißes Kleidchen binnen kürzester Zeit in eine schmutzige, lommelige Fahne zu verwandeln, eine mütterlicherseits gerne und oft erzählte Anekdote, die viele Jahre später einen zufälligen Zuhörer rasend verliebt in mich machte und uns gemeinsam nach Frankreich fliehen ließ, wo wir jede Nacht auf einem frischen Laken einschliefen.

Die Frau mit der weißen Wäsche fuhr übrigens einen dunkelblauen Porsche in dessen winzigen Kofferräumchen sich eine Goethe-Büste befand, die uns bei einer gemeinsamen Reise nach Berlin einige Unannehmlichkeiten mit den DDR-Grenzkontrollen einhandelte. Ihr Ex-Mann, der in der zweiten Doppelhaushälfte wohnte, kutschierte seine neue Frau (blonder Bob, krokodilslederne Schuhe, schlanke Erscheinung) gerne in seinem klassisch grünen Jaguar durch die Gegend. Die beiden Ex-Partner verstanden sich prächtig, betrieben einen erfolgreichen Obstgroßhandel, nannten mutmaßliche Juden gerne Itzigs und zeichneten dabei, wenn sie sich entre eux wähnten, eine große gebogene Nase in die Luft.

Ihre Töchter indes bewohnten die Souterrainwohnungen der beiden Haushälften, gaben viel Geld für Kleidung aus und hörten schnelle Musik. Die ältere der beiden, die sich später ihre Nase schönheitschirurgisch begradigen lassen würde, hatte ein ungewöhnliches Hobby:  sie verwahrte nämlich, monatelang schon, ein großes  Glas Vollmilch hinter der getönten Glastür ihres Stereoracks.
Jeden Abend, ehe sie zu Bett ging, schaute sie nach, wie es dem alternden Drüsensekret, welches zu Beginn seines Transformationsprozesses noch einen sehr starken Geruch verströmt hatte, dort erging. Bereits im Frühjahr machte sie sich große Sorgen, dass ihre Mutter während des Schüleraustauschs im Sommer, das Glas finden und alles Leben darin vernichten könnte.

 

 

 

 

 

 

 

Foto: Mario Sixtus, Baum, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/

do not pick up anything that you haven’t dropped yourself

Mehr erfahren, statt mehr zu erwarten. Den halben Tag schauen und driften; gondeln, um das fragile Gleichgewicht nicht zu erschüttern. Seelen-Mikado. .

Schwarzer Regen umkreist die Stadt, die seit Monaten vor verschlossener Vitrine verdurstet, wie auch die Bäume am Kanal die Blätter hängen lassen. Zuviel, zuwenig. Das Maß. Wie immer.

Abgebrochene Gespräche, lose Enden. Kaudern, um die Wundränder trocken zu halten. Ein großer Irrtum der Glaube sie würden heilen je. Nichts heilt. Staub legt sich auf Alles. Gemahlene Zeit. Ein Schritt nur und und was war liegt frei.

War children is just a shot away

Ich lese, dass die Oberflächentemperatur des Mondes dort, wo ein Menschenfuß sie betrat, signifikant gestiegen ist. Verwirbelter Sand hat die darunter liegende, dunklere Schicht zum Vorschein gebracht. Einfallendes Licht erwärmt diese schneller als den helleren Staub. Et voilà.
Ob etwas brennt ist oft eine Frage der Toleranz oder der Sturheit und selbst der Fakir sehnt sich im Stillen nach Flausch.

 
Vor den Briefkästen treffe ich den hageren Mann, den ich seit Tagen durch den Garten stiefeln sah. Lächelnd kommt er auf mich zu und ergreift mit beiden Händen meine fragend dargebotene Hand. Seine Lippen formen meinen Namen. Wir kennen und freuen uns. Der 17 Jahre verschlossen gehaltene Sarkophag fragloser Loayalität öffnet sich. Darin ein verblichenes Geheimnis. Erinnerung an das andere Ende der Welt, an Urwald, Tradition, Ahnen und tropfnasses, tiefes Grün. Regen.

Schmerzfallen

Das kleine Mädchen folgt mir langsam über den halben Friedhof. So vieles möchte sie von mir wissen (was ist das für ein Hund, wie heisst der, beisst der, wie heisst du, wo wohnst du) um am Ende das einzig Bedeutsame sagen zu können: Mein Papa ist tot. Wir leben jetzt auf ibiza.
Ich drehe mich um und sehe ihre Mutter ein Stück entfernt vor einem Grab knieen und Unkraut zupfen.

Wer ist Emma, fragt das Mädchen mich jetzt. Meine Mutter, lüge ich.

Wie sollte ich ihr erklären, dass das Grab, das ich mit Blumen schmücke, das einer fremden Frau ist, dass meine Mutter ihren Kindern keinen Ort der Trauer lassen wollte, und dass ich deshalb an ihrem Todestag auf diesem Friedhof am Fluss gestrandet bin, wo ich sie zu finden hoffte.
Sie würde das so wenig verstehen wie ich.

Wie alt war deine Mutter, fragt sie. Viel älter als dein Papa, antworte ich. Sie nickt.