Die Weihnachtstage werde ich alleine verbringen. Alle Freunde verlassen die Stadt. Auch der Bekannte wird im Norden weilen. Doch vielleicht schneit am Heiligen Abend wenigstens die Goldschmiedin bei mir herein. Das wäre schön.
Ihr könnte ich dann auch gleich die Handvoll Steine zeigen, die von meiner Mutter übrig geblieben sind und die der Kanzler kürzlich zur Ansicht mitgebracht hat. Sämtliche anderen Besitztümer landeten auf Geheiß meiner Mutter posthum im Müll, sie selbst, wunschgemäß, in der Ostsee. Vermutlich haben auch ihre Geschwister ein paar Dinge beiseite geschafft (wo ist bloß die Eigentumswohnung hingekommen). Es ist mir ganz gleich.
Meine Mutter besaß viele Ringe, doch nur einer ist mir deutlich in Erinnerung geblieben. Diesen einen Ring, ein großer in Gelbgold gefasster Amethyst, hätte ich, nach ihrem Tode im vergangenen Jahr, gerne noch einmal gesehen und sei es nur auf einem Foto.
Doch als die Demenz begann an dem Hirn meiner Mutter zu nagen und als eine ungeheure Wut und Enttäuschung über ihr ausklingendes Dasein, das längst jeden Glanz und Glamour eingebüßt und sie zu einer einsamen Seele gemacht hatte, sie erfassten und groß und immer größer wurden, als die Blicke in den Badezimmerspiegel erst ungläubig, dann verzweifelt und schließlich bitter wurden, weil alles, alles, was ihre Schönheit einst ausgemacht hatte in einem schmallippigen Streifen, dem niemand mehr zum Reden, Beschimpfen oder Bespucken geblieben war, ausgelaufen war, als also ihr mondänes Leben einer Diva zu Ende ging und sie nichts, aber auch gar nichts dagegen tun konnte, verfügte meine Mutter, dass wenn schon nicht sie, auch niemand anderes mehr mit ihrem Geschmeide brillieren solle und dass, um diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, nach ihrem Tode sämtliche Steine aus ihren Schmuckstücken ausgefasst, das Edelmetall verkauft und ihren ungeliebten Kindern allenfalls die Klunker zum Fraß vorgworfen werden sollten, die bloßen amputierten nackten Steine, in denen nichts mehr von ihr sich fände, die aber doch als Stachel, als Pfeil aus dem Jenseits, als ewiger Vorwurf, als Rache für ihren Tod, den wir nicht hatten verhindern können oder wollen, dienen sollten.
Kein Ort der Trauer, keine Erinnerungsstücke für uns, das war ihr ausdrücklicher Wunsch.
Das alles ist und bleibt unverständlich. Manchmal bin ich noch traurig darüber, manchmal empört, doch meist empfinde ich gar nichts mehr dazu. Diese Stelle der Seele ist abgenutzt, oder zugesperrt, ich weiß es nicht, vielleicht ist auch der Schmerz verbraucht oder die Resignation zu groß. Mal so, mal so und dann wieder ganz anders.
Doch heute sitze ich hier und auf dem Balkon gegenüber blinkt der Weihnachtsschmuck in den frühen Dezemberabend hinauf und ich denke an meine Mutter und ich sehe sie vor mir, ganz in Schwarz, tief ausgeschnitten und dramatisch geschminkt. Ich sehe sie, wie sie, den Kopf zur Seite geneigt, vor einem runden Mahagonitisch sitzt, mit ihrer kleinen, knochigen Hand über die glänzende Oberfläche fährt und ich höre das leise Kratzen von Metall auf Holz. Und ich schaue auf den großen, dunklen Amethyst an ihrer Hand, in dessen poliertem, rundem Bauch sich das ganze Zimmer und sogar der Himmel vor dem Fenster spiegeln und ich brauche ihn gar nicht zu besitzen, diesen Ring, ich werde ihn nie vergessen, sowenig wie meine Mutter,
Auf meinem Küchentisch liegt ein winziges Plexiglasdöschen, ein oder zwei Dutzend kleiner Edelsteine darin. Einen einzigen davon, ein klitzekleines Splitterchen, könnte ich gut gebrauchen, um einen alten Schulterring zu reparieren und ihn dann wieder tragen zu können. Doch möchte ich das?
Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie, die sie gerne und coram publico von ihrer missglückten Selbstvernichtung sprach und dabei mitten aus einem Lachen heraus das ernste oder entrückte Gesicht eines Stummfilmstars zaubern konnte, geeignet jeden Menschen der ein fühlenden Herz hat, zum Weinen zu bringen, ausgenommen die Wenigen – uns – die sie gut kannten und die während der Vorstellung ungerührt oder allenfalls angewidert und mit versteinertem Gesicht sitzen blieben, statt sich zum Komparsen zu machen und sie zu umarmen, oder ihr ein Taschentuch zu reichen als dann endlich auch die Rotweintränen flossen, weil wir diese histrionischen und manipulativen Darbietungen längst kannten und zweifelsfrei von echten Gefühlen unterscheiden konnten, wie meine Mutter es wohl finden würde, wenn sie erführe, dass ich, die ungeliebte Tochter, mich über ihren Willen hinweggesetzt hätte, indem ich ihr in einem alten Ring das Denkmal gesetzt hätte, das sie immer haben wollte, und mir selbst damit einen Ort der Trauer geschaffen hätte.
An Weihnachten werde ich mit der Goldschmiedin die Steine anschauen und an die vielen Weihnachtsfeste mit meiner Mutter zurückdenken.