Bei lebendigem Leib frisst die Krankheit mich auf. Wie der Varan die Hirschkuh.
Kaum ein Gedanke lässt sich noch denken, während der Körper sich selbst zerstört und verschlingt.

Doch langsam verwandelt das stechende Selbstmitleid sich in hölzerne Trauer. Trauer, die mich, wenn ich am Abend zitternd vor Schwäche zu Bett gehe, in den Schlaf begleitet und die am Morgen wenn ich erwache, neben mir sitzt und mich mit müdem Blick betrachtet, ihre knochigen Hände in den Schoß gelegt.

Ich möchte weinen, bis aller Schmerz aus mir heraus gewaschen ist.

Nur ein Schub. Es geht vorbei.

Abendrot

Gedanken wie Nebel, wie Herbstgischt, wie Milch.
Die Fruchtbarkeitstänzerin erträumt, wahrscheinlich die Mutter, die ihr fließendes Sommerkleid der kantigen Frau des Studienrates lieh, um sie bloß zu stellen. Posen, Posen, immer Posen. Verkaufsgespräche selbst im Wald, wo das mittelalte Paar unter dunkelgrünem Blätterdach vor mir her spaziert und sie ihm von dem Bikinioberteil erzählt und von dem Handwerkerbesuch und dem täglichen Sport, der ihren Körper in Form hält. Wie zur Anerkennung  umschlingt der graugelockte Mann ihre Hüften. Sie redet weiter.

Die Studienratsfrau ist inzwischen verstorben, ihre Schädelknochen ausgelagert in einer Knochenbank, ihren älteren Sohn hat im letzten Jahr die Grippe erwischt. Im Krankenwagen sei er ins Koma gefallen und aus diesem nicht mehr erwacht, erzählt der Kanzler.

Die Störche waren bis vorgestern da. Tagelang staksten sie über die Feuchtwiesen oberhalb des Sees. Ihre Kniegelenke auf der Rückseite der Beine angebracht (zu welchem Zweck und mit welchem Vorteil). Rückwärts und mit ausgebreiteten Armen schreiten wir den Berg hinauf, rechterhand ein Grüppchen Schafe und zwei schokoladenbraune Ziegen, meckmeck.

Das Sriii-sriii der Mauersegler gehört den sommerlichen Häuserschluchten, den halbgeträumten Sätzen, den nächtlichen Rufen (au petit matin, au petit gris).

 

Hier fliegen Schwalben durch die Lüfte. Viele davon. Mit kugelrunden lieben Köpfen. Hoch- und tief, darunter endlose Meter dürerscher Wiesenvielfalt. Ein großer Raubvogel landet auf dem Fußballtor. Neugeborene Kälbchen stehen in Plastikiglus und zählen ihre Tage. Auf dem Misthaufen wachsen Kürbisse. Tellergroß die Blätter.

Bedächtigen Schrittes und mit gespreizten Zehen spazieren Puten durch Vorgärten.  Zwischen zwei Zaunlatten klemmt ein Stoffhäschen mit blaugeblümten Fußsohlen. Katzen lauern im Gras. Ich meide stiergesäumte Wege. Sie machen mir mehr Angst als die Sonne.
Derweil gehen Zellkerne zugrunde. Kalt ist der Kopf. Bleierne Müdigkeit, Schüttelfrost in der Nacht. Benommenheit je heller der Tag. Kurkuma soll helfen, auch Blaubeeren und Öle. Zusätzlich zum Hut begleitet der Regenschirm meine Wege. Sich einen Namen machen.

 

 

Verschwunden ist die alte Frau mit schwarzen Sissi-Perücke wie ein Fladenbrot auf ihrem spitzenbekleideten Rücken. An der tosenden Kreuzung vor dem Luxus-Rewe sah ich sie zum letzten Mal, das Vogue-Magazin zusammengerollt und als Fernglas vor das Auge gesetzt: die Bergkette im Süden im flammenden Abendrot.

la grue jaune

Am Morgen schnürt eine Frau im langen, schwarzen Kleid über das Dach des Zuges. Ihre Bewegungen ein Fruchtbarkeitstanz.
Bald nach dem Aufstehen lege ich mich wieder hin. Obstbäume vor dem Fenster.

Nachts höre ich Dokus. Nach wenigen Minuten bricht die Verbindung ab und ich schlafe ein.

Gegen 6 Uhr das helle Läuten der nahegelegenen Kapelle. Im Garten brennt Licht für die Heimkehrer. Ich schließe die Augen und öffne sie als ein regelmäßiges Scheppern die Stille zerschlägt. Jemand wirft Äpfel in eine Schubkarre.

Auf dem Hof ist keine Stimme zu hören.

 

Am Nachmittag erhebe ich mich noch einmal aus dem Bett. Nach einem Becher kalten Morgenkaffees ziehe ich einen roten Rock über und gehe durch das Dorf. Die Sonne scheint auf den See, die Bergspitzen liegen im Nebel. In einem düsteren Nadelwäldchen steht ein schwarzer Holzverschlag. Verborgen allen die nicht von ihm wissen. Ich horche auf Klopfzeichen oder Wimmern und gehe rasch weiter. Wieder zirpen die Zikaden und die Sonne sticht und schmerzt. Ich will mich abstützen und finde keinen Halt. Mit geschlossenen Augen stolpere ich davon. An der nächsten Biegung höre ich die alte Frau und hebe vorsichtig ein Lid. Als sie mich sieht, stellt sie sich vor ihren Schäferhund und redet beruhigend auf ihn ein. Ihre Stimme klingt blechern. Auf Eierschalen schleiche ich an ihr vorbei.

 

Ein Schnipsen und es hört auf

 

Vor der Kurve das heisere Horn der Lokomotive. An den Gleisen steht ein Mann und sagt: Mit dem Hut sehen Sie aus wie Gabriele Münter.

Blind II

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Auf dem Weg zum Supermarkt passiert es plötzlich. Scheuklappen, Schwindel, Brennen und Druck im Hinterkopf, Augenflimmern. Es sind 30 Grad und mir klappern die Zähne. Ich weiß nicht wie ich es in den Markt und zu dem Regal mit den Müsliriegeln schaffe. Blindlings greife ich nach dem erstbesten, Inhaltsstoffe und Verträglichkeit spielen keine Rolle. Alles verschwimmt vor meinen Augen und Panik überfällt mich. Die letzte Ohnmacht liegt viele Jahre zurück. In Paris, im Café nebenan, wo ich auf Eric wartete, mit dem ich diese eine, unsere letzte Nacht verbringen wollte. Kurz ehe er eintraf, ging ich beim Bezahlen meines Milchkaffees zu Boden.

 

Mit zitternden Händen reiße ich jetzt das Papier auf. Beim Abbeißen wird mir schwarz vor Augen, mein Herz rast, mir ist heiß und kalt, ich halte mich fest und versuche mich auf das Kauen zu konzentrieren. Schlucken, bloß schlucken. Mit geschlossenen Augen stehe ich da und atme konzentriert, um mich herum Hallenbaddröhnen. Weit weg und unter einer fernen Glocke die stumme Geschäftigkeit der Einkaufenden. Das Sirren der Kühltruhen, klappernde Einkaufswagen, gedämpfte Stimmen. Jemand geht dicht an mir vorbei. Ich fühle die Nähe eines Körpers. Dann der Geruch nach Deo und einem weiß gefliesten, tageshellen Badezimmer. Flipflops. Es ist wie damals auf dem Teppichboden im elterlichen Wohnzimmer. Unten im Haus der Vater, der alle Stunde die Treppe hinaufsteigt, um mit seiner Stablampe in mein blindes Auge zu leuchten. Nach ein paar vergeblichen Minuten verschwindet er wieder, ich horche seinen Schritten hinterher und bleibe zurück in meiner Dunkelheit und mit den Klängen der Welt.

 

Den angebrochenen Riegel in den blaukalten Fingern taste ich mich wenig später zur Kasse. Unterzuckert, flüstere ich und mein Kinn zittert. Die Kassiererin nickt.

Ich fühle mich sehr schwach und klein.

 

 

 

 

 

 

Bild: untitled, Yo´Papa, flickr
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Mit freundlicher Genehmigung/ with friendly permission von Yo´Papa. Thanks a lot!

Kipppunkt

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Die Tage ziehen dahin. Nach dem Regen heute endlich die große Abkühlung und die bange Frage: wird es so bleiben. Was mit dem Klima los ist, erklären die Meteorologen. Einer gebraucht das Bild eines großen, unterspülten Steines. So verhalte es sich auch mit den klimatischen Kipppunkten. Ist der Prozess der Erosion erst weit genug fortgeschritten, kippt der Stein und löst möglicherweise eine Kaskade umkippender Klimafaktoren aus, die sich gegenseitig verstärken und zu einem Heißzeiteffekt führen. Einen Vorgeschmack gibt dieser Sommer.

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Im Garten liege ich unter Obstbäumen, anders ist die Hitze nicht zu ertragen, und lese noch einmal Almut Klotz. Die Lektüre macht mich traurig. Also greife ich nach dem frisch erworbenen Büchlein mit den Heiligen und versenke mich in deren Martyrium. Häuten, rädern, erdolchen, in Öl sieden. Man war nicht zimperlich, wenn es um den falschen Glauben ging, damals.

 

Als ich klein war, dachte ich oft darüber nach, wie ich einem Einbrecher, der plötzlich nachts neben meinem Bett stünde, begegnen würde. Ich überlegte mir, dass ich auf keinen Fall Angst zeigen dürfte, sondern so tun müsse, als hielte ich den Einbrecher für einen Onkel oder einen Freund der Familie. Ich würde dem Dieb dann den Weg zu sämtlichen Schätzen der Familie zeigen und mich später fröhlich winkend von ihm verabschieden. Sobald er aber aus dem Haus getreten wäre, würde ich die Polizei anrufen, die ihn sodann stellen würde. Meine Eltern und Geschwister bekämen von all dem nichts mit. Erst wenn die Polizisten an der Haustür klingelten, um die Beute zurück zu bringen, erführen sie von meiner Heldinnentat.

Das einzige Problem bei der Geschichte sah ich darin, dass der Dieb womöglich auf Rache sinnen und nach seiner Haftentlassung wiederkommen würde, um mich zu töten. Wenn er lange genug einsaß, könnte ich bis dahin ausgezogen sein. Wenn nicht, musste ich meine Eltern überreden, einen Hund anzuschaffen.

Glücklicherweise kam es nicht soweit und heute, wenn ich nachts bei gekipptem Fenster in dem alten Hühnerstall schlafe, habe ich Tölchen an meiner Seite.

Es ist so schön hier.