Man könnte an so vielen wunderbaren Orten in der Welt sein. Dort, wo der Himmel tiefblau, die Mittagssonne hoch und der Schatten lang ist; ein rötlichgoldener Boden, vielleicht Stein oder Sand. Möglicherweise in der Nähe eines Sees oder des Meeres, im Hintergrund Berge, dazwischen eine weite Ebene, in der die Schatten Platz haben sich aufzustellen und eine weitere Welt zu erschaffen. Eine dunkle, kühle, ohne Gewicht.
Man könnte in einer Stadt leben, in der die Häuser schmal sind wie übriggebliebene Tortenstücke und hoch wie der Himmel, die Taxen gelb, die Brücken weit aufgespannt und die Winter klrrend kalt.
Man könnte irgendwo am Fuße einer goldenen Buddhafigur sitzen, klein, wie der Zeh des Erleuchteten und hinauf blicken in sein goldenes Gesicht, dessen Weisheit durch seine geschlossenen Lider schimmert und auf dessen Scheitel sich das Licht sammelt.
An einer großen Kreuzung könnte man warten, der Verkehr brandet von links und rechts heran, der Lärm kommt näher und immer näher und gleich wird die Welle einen überrollen, wegspülen, fort, ins Meer, das große klare dunkelblaue, den Ozean, den Pazifik vielleicht, und tief unten tummeln sich ungekannte Wesen ohne Augen, die in der Dunkelheit leuchten, aus sich selbst heraus, ohne unser Wissen, nur füreinander oder für sich selbst. Ungesehene Morsezeichen in ewiger Stille.
Vielleicht würde man im Vorübergleiten eines von ihnen berühren und wäre überrascht, wie warm es ist, und gar nicht glitschig. Eher seidig und zart. Und wenn man noch weiter nach unten schaut, auf den Grund, sieht man röhrenförmige Ausstülpungen aus deren offenen Enden lange rote Fäden wachsen. Wie Getreide im Wind lässt das Wasser die Würmer hin und her wogen und andere Tiere mit alten Gesichtern zupfen an ihnen, wie an frischem Gras.
In einer geflochtenen Matte liege ich im nächsten Moment, nicht am Strand und nicht mit Blick aufs Wasser, sondern in den Tropen, in einem Wald, die Luft dampfig nach einem Regenguss, döse ich ganz oben, in den Kronen der Bäume, zahllose Schattierungen kräftigen Grüns, die Augen halb geschlossen, schwappen leichte Gedanken sachte gegen meine Schädeldecke und ich lausche den Geräuschen, den kleinen Schreien von irgendwo, dem Atem unsichtbarer Tiere einem leisen Fauchen gleich. Weit unten, auf dem feuchten erdigen Grund ein roter Fleck.
Wusch und heruntergesprungen mit scharfen Krallen bin ich, mich an der Rinde des nächsten Baumes festgehalten, von Ast zu Ast gehangelt, mit dem Schwanz hier und da gesichert, von Baum zu Baum und immer weiter, bis ich an der Lichtung ankomme, im vollen Lauf die Arme ausbreite und springe. Mit dem Schwanz lenke ich mich zwischen hervorstehenden Ästen hindurch, mein aufgespanntes Fell trägt mich sicher, ich fliege mit großer Geschwindigkeit, lande mit allen Vieren auf dem Boden, dem weichen duftenden Gemisch aus Erde und Laub, mache einen Satz in die Mitte der Lichtung hinein, schnappe mit sicherem Griff das Rote und krieche damit ins dichte Unterholz.
So sitze ich in einer Küche, in einer Stadt, in der es acht Monate im Jahr kalt ist, lausche dem Rauschen der Heizung und dem Summen der Welt und blicke in den verregneten Garten mit dem kleinen Hügel und den blühenden Sträuchern. Oben, im Ahorn brütet ein Elsternpaar, unverkennbar ihr Ruf, das harte schnarrende Getschäcker, ein paar Zweige tiefer singen die Meisen ihr rostig-monotones Lied, heiser flötet die Amsel dazu, geduckt unter einem Busch verharrend. In der Ferne höre ich dunkel die Ringeltäubchen gurren. Huhuhuh.
Der Ginkgo. Auch er zeigt das erste Grün, dreieckige Blättchen, entlang der ausgestreckten Äste, ein Gekreuzigter. Weiter hinten im Garten die junge Kirsche im rosa Frühlingsgewand. Feucht und dunkel glänzen die Blätter des hohen Bambus, der sich raschelnd im leichten Wind wiegt.
Aus dem Fenster schaue ich, auf die regennassen Dächer, auf das Meer von Schornsteinen und Antennen und auf die Satelittenschüsseln auf den Balkonen der Neubauten, große Ohren, fragend ins Weltall gerichtet. In der Entfernung der Warnruf einer Sirene und über allem die fliegenden Aprilwolken.
Ich sitze und schaue und höre, neben mir zischt und rauscht es leise. Ich drehe mich um, strecke die Hand aus und führe die feuerrote Cola-Dose an meine Lippen.