The Bad Doctors

JAMES-ENSOR-THE-BAD-DOCTORS(James Ensor, The Bad Doctors. Photo via Biblioklept)

Ein Alptraum liegt hinter mir, ein weiterer vor mir, und hätte nicht irgendein kluger Mensch Schmerzmittel erfunden, wäre das Ganze noch unerfreulicher.
Kann wahrscheinlich passieren. Ist halt Pech. Gehöre ich eben zu den 5 Prozent, bei denen das schief läuft.
Ist ja nicht so, dass mir Katastrophen in der persönlichen Vita unbekannt wären.
Was da weh tut ist nur der Schmerz.

Trotzdem hätte der operierende Chirurg mich vielleicht besser nicht mit Fieber und erhöhten Entzündungswerten nach Hause schicken sollen, und möglicherweise wäre es gut gewesen wenigstens einen kurzen Blick auf die Wunde zu werfen irgendwann in diesen Tagen in der Klinik, oder zumindest vor der Entlassung. Dann hätte man nämlich sehen können, dass…
Hätte, hätte.
Stattdessen Gebete aus dem Lautsprecher, heilloses Gefrömmel und der gnadenlose Druck der Fallpauschale.

Ja, bin schlecht drauf und außerdem sehr, sehr wütend.

Nietzsche/ Das Zwiegespräch

Friedrich Nietzsche, 1869

Friedrich Nietzsche, 1869 (Photo credit: Wikipedia)

„Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil Alles, was der eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde in strenger Rücksicht auf den Anderen, mit dem gesprochen wird, erhält, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim Zwiegespräch gibt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens: diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen.“
(Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 374)

Himmel und Hölle

20140916_154256Die Siegessäule ragt in den tiefblauen Berliner Himmel, die Flügel der Viktoria sind sonnenbeschienen, ihr Blick in die Ferne gerichtet.
Auf der Raucherterrasse abstrakte Bronzeplastiken, die mit ihrer dunklen, rauen Oberfläche und den schlanken Vertikalen an Giacomettis Schreitende Männer erinnern.
Mit amputierten Zehen und dunkelviolett verfärbten Beinen sitzen die Patienten an den Bistrotischchen und rauchen, während der Infusor das venenreizende Mittel in ihre Adern träufelt um die verbliebenen Gefäße offen zu halten und die letzten Zentimeter ihrer Stümpfe zu retten.
Eingefallen und rauchend warten sie auf den Tod.
Unten auf Station diese frischen, schwungvollen Menschen. Jung, mit leuchtenden Augen und rosigem Teint. Bemüht darum, die grauen Echsen am Leben zu halten. Noch für das kleinste zuckende Flämmchen, das letzte Glimmen eines erlöschenden Lichtleins wird alles getan.

Ehrfurcht vor dem Leben

Am frühen Abend gehe ich auf die Besucherempore der Kapelle, und finde mich Aug in Aug mit dem Erlöser wieder. Neben mir ein Weihwasserbecken, unter mir der Altar. An langen Seilen hängen zylinderförmige Lampen und erleuchten mit mattem Schein die schlichten Holzbänke, auf denen die Bräute Jesu während der Heiligen Messe Platz nehmen.
Durch die Bleiglasfenster gegenüber sickert milchiges Tageslicht. Draußen ist die Welt.
Aus der Sakristei klingen gedämpft die Stimmen der Ordensschwestern herauf.
Ich sehe meinen Großvater im Talar vor mir.
Ungezählte Male hat die Erde sich seit seinem Tod gedreht, und sie tut es verlässlich weiter, die dicke blaue Spindel.

Der vollbärtige Professor läuft mit ausgestreckten Armen auf mich zu und streicht mit dem Handrücken zärtlich über meine Wange, als wäre ich sein liebes Nichtchen.
Wenn wir nichts finden, sind Sie bald wieder Zuhause.
* * *

Der Oberarzt, der nächste Woche die OP vornehmen wird, sitzt auf meiner Bettkante und erklärt und malt auf.
Gerade erst aus der weißen Milch aufgetaucht, staune ich über seine blauen Augen.
Später kommt einer mit dem Sonografiegerät und legt seine schlanken, eleganten Hände auf meinen Bauch. Kein Druckschmerz.
Er erklärt mir die Nierenfunktion, die Kelche, das Becken, die Darstellungsweise des Ultraschalls.
Eine Zyste, nichts Schlimmes.
Auch er hat blaue Augen, ein markantes Gesicht und ein selbstbewusstes Lächeln.
In Plauderlaune erzählt er mir interessante Geschichten aus dem Reich der Urologie.
Einmal ist ein Kranführer bei ihm vorstellig geworden. Jeden Morgen war der Arbeiter die sechzig Meter bis zu seiner Kabine nach oben gestiegen, und erst am Abend die Leiter im Turminneren wieder herab geklettert. Durch den ständigen Harnverhalt war seine Blase über die Jahre auf das unglaubliche Volumen von 4 Litern angewachsen, und in der Folge der Mann inkontinent, niereninsuffizient und dialysepflichtig geworden.
Vier Liter! Groß, wie ein Fußball!
Ich dachte immer, die haben eine Flasche zur Hand, oder erleichtern sich gleich auf die Baustelle herunter“ sage ich.
Dieser nicht. Hätte er mal.“
Wir lachen.
Zum Abschied reicht er mir die Hand und drückt fest zu.
Montag, wir sehen uns Montag wieder. Schönes Wochenende, und kommen Sie nüchtern, bitte.“
Sie auch,“ antworte ich und er freut sich über meinen schlechten Scherz.

Zerstört

20140915_163520Da glaubt man, ein alter Hase zu sein: abgebrüht, mit allen Wassern gewaschen, abgestumpft, schmerzfrei.
Und dann spaziere ich nach einem langen Gang durch die Stadt heimwärts und will den Mann durch die ruhigeren Straßen Berlins lotsen, weil er in seiner beschaulichen Alsterstadt derartig imperialen Lärm, geschweige denn 4-Stunden-Märsche nicht gewohnt ist.
Komm, lass uns über den Acker gehen.“
Sage es, biege um die Ecke und stehe vor diesem großen Schild:

PATRIZIA
HIER ENTSTEHEN NEUE WERTE
Wohneigentum in Mitte.

Und nicht nur ich bleibe stehen und schaue und kann die aufsteigenden Tränen kaum niederkämpfen. Auch zwei alte Frauen, die auf ihren Hollandrädern die gewohnte Abkürzung über diese letzte große Brache, das letzte Stück Mauerstreifen im Kiez nehmen, stehen dort und schauen und sind fassungslos und wie betäubt.
Hier nun auch. Wir wussten es. Die ganze Zeit.
Als sie anfingen sämtliche Freiflächen hinter der Bundesdruckerei und Richtung Engelbecken mit großmäuligem Fertigteilprotz (Villa Fellini) oder seelenloser Krisenarchitektur, fast ausnahmslos hochpreisiges Eigentum, versteht sich, zuzubauen, ein Haus schlimmer als das andere, da wussten wir, dass es eines Tages auch unseren Acker treffen würde. Diesen Ort des Wildwuchses, der seit dem Fall der Mauer in einem Dornröschenschlaf lag und von uns gerne zum Spazierengehen und Verweilen genutzt wurde.
Die Essigbäume, die Hagebuttensträucher, die Wildrosen, die Akazien, der Kastanienhain, der Walnussbaum, der kleine Kugelahorn, der sich an die benachbarte große Silberpappel schmiegt, die riesige Wiese mit Weißdorn, Rauke, Goldrute, Disteln, Gräsern, Korn, Winden und zahllosen Wildblumen und Kräutern, der schattige Hohlweg, die Schmetterlinge, der Fuchs, das Käuzchen, die vielen Vogelarten und Insekten, all das wird in wenigen Wochen Vergangenheit sein, und das tut so weh, dass es mir beinahe den Atem raubt.
Die ersten Bäume, zur Straße hin, sind bereits gefällt, das Unkraut zum Gehweg gemäht, hier und da neonfarbene Markierungen vorgenommen. Das Gelände ist vermessen und vorbereitet für die Erschließung.
Wie ein Faustschlag trifft es mich, und so fröhlich, wie ich eben noch plapperte, so traurig und verstummt bin ich mit einem Mal.
Nein, es ist nicht der Regenwald, der da gerodet und auch kein Naturschutzgebiet, das platt gemacht wird. Nicht mein Geburtshaus, noch ein besonderes Kulturzeugnis. Es ist doch nur dieses zugewucherte Stück Mauerstreifen. Die letzte lebendige Erinnerung an das was war. Das Nowhereland. Die zirpende Insel. Der Ort zwischen gestern und heute. Das Verbindungsstück zwischen zwei Welten und Zeiten, die sich  voneinander abgekoppelt haben und auseinander triften wie zwei Kontinente. Mehr ist es nicht. Für mich aber ist es ein Stück Heimat, das da zerstört wird.
Und für was? „Neue Werte“ in Form von Privateigentum natürlich.
Es ist zum Heulen.


Kommentare werden möglicherweise mit Verspätung freigeschaltet, sind aber, wie immer willkommen.
Bin mal für ein paar Tage stationär.

Von Muskeln und Musik

English: Bodybuilder

Irgendwo dudelt ein Radio tausendfach gehörte Oldies hoch und runter.
Ich erkenne die Melodie von I want muscles.
Als ich das Lied vor vielen Jahren zum ersten Mal hörte mochte ich es nicht, und das dazu gehörige Video, in dem sich Diana Ross mit einer Gruppe spärlich bekleideter Bodybuilder auf einem Bett räkelt, war mir erst recht zuwider.
Damals neigte ich noch dazu, mich in spindeldürre, schlaksige Jungalkoholiker mit schlechter Körperhaltung und ungewaschenen Achseln zu verlieben und Punkrock zu hören.
(Schwer vorstellbar: ein nach Seife duftender Punkrocker mit ausgeprägter Skelettmuskulatur ).
Bei den meisten setzte das Bier noch nicht an, nur bei einigen wenigen zeigte sich in der altersuntypischen Aufgedunsenheit bereits das schwache Bindegewebe, und man ahnte, wie dieser Verfall sich über die Jahre fortsetzen und schließlich unumkehrbar manifestieren würde.
Der Lauf der Dinge.
Mein Geschmack, was attraktive Körper anbelangte, entwickelte im Laufe der Zeit eine größere Diversität. Inzwischen durfte einer sich auch gerne ein wenig pflegen und leichte Ansätze von Muskulatur aufweisen. Später im Leben freundete ich mich sogar mit von Arbeit gestählten Körpern an und entwickelte in der Folge reizvolle Landarbeiterphantasien.
Interessanterweise erweiterte sich mit der Öffnung der ästhetischen Grenzen auch mein Musikspektrum. Von Punk und Rock´n´Roll zu Ska, Funk, Blues und Hip Hop usw.
Zur Not hörte ich auch mal klassische Musik, und wurde mit dieser zunehmend toleranter gegenüber Wohlstandswampen und Genießerkörpern.
Heute ertappe ich mich tatsächlich beim Fußwippen, als ich Diana Ross höre.
Bis zum Muskelmannfaible scheint es nicht mehr weit.

Musik zum Text: Diana Ross, Upside down

Hinter dem Thron

SAMSUNG

Wir fahren auf der Autobahn Richtung Hamburg. Stadtkoller und Sehnsucht nach dem vergangenen Sommer.
Noch einmal in den Märchenwald, einen Vollmond später. Rehe, Füchse, kleine Tiere im Scheinwerferlicht sehen.
Der Hinweg führt durch spätsommerliche Landschaft.
Autobahnbäume, deren silbrige Kronen sich im Fahrtwind der schweren Lastwagen hin und her werfen. Tosende Einsamkeit.
Später dann über Land. Abgeerntete Felder mit runden Heuballen.
Am Wegesrand ein kleiner Hof mit Verkaufsladen. Im Vorbeifahren sehe ich Ziegen und Zicklein, die sich um eine hölzerne Futtertraufe drängeln und mit gereckten Hälsen einzelne Halme aus dem großen Ballen zupfen.
Wenige Meter weiter bietet ein Schild Ziegenkäse, Ziegenmilch und Ziegenfleisch zum Verkauf an. Nutztiere.

Ihr seid nicht da um geliebt zu werden.

Eine Stadt im Osten, erbaut aus Backsteinen, glattsaniert mit EU-Geldern.
Ungenutzte Radwege, schattige Alleen, Kopfsteinpflaster, leere Straßen.
Vorbereitung auf ein Leben, das lange zurück liegt und niemals beginnen wird. Spielwelt.
Ein großer, lang gezogener See. Wasser soweit das Auge reicht. An der breiten Uferpromenade stellen die Schwäne die Flügel auf und fauchen die Hunde an, als wir vorbei schlendern. Möwen schaukeln auf dem Wasser, ein Blässhuhn jagt krächzend einer Ente hinterher.
In dem Pavillon am Ende des Stegs sitzen zwei Teenager ineinander verschränkt da und befummeln sich mit Krakenarmen.
Falling down
Kurz hinter dem großen Außenbereich der holzverkleideten Therme endet der Uferweg.
Ein Zaun, Zutritt verboten.
Auf der anderen Seite Wildwuchs, eine halbzerfallene Fabrik, Geröllberge, Glasscherben. Die typischen großen Bodenplatten, die ich nur aus dem Osten kenne und mit denen die Transitstrecke gepflastert war.
Mit ein paar Sätzen sind die Hunde im staubigen Dickicht verschwunden. Man hört es rascheln, hier und da schreckt ein Vogel auf und fliegt davon.
Gelb blühen Rucola und Goldrute, vereinzelt stehen trockene Ähren im wuchernden Unkraut. Zitronenfalter flattern paarweise umher.
September.

Hinter der Brache stoßen wir auf eine kleine Straße, die über eine verengte Stelle des Sees führt. Drüben bringt uns ein Hohlweg wieder hinunter ans Wasser.
Hintereinander laufen wir durch den grünen Tunnel. Erinnerungen an die Kindheit zwischen Schule, Schlingpflanzen und Schrebergärten.
An einer Stelle verbreitert sich der Weg zum See hin und eine quadratische Liege aus Holzlatten lädt zum Verweilen ein. Im Schilf liegen Prospekte, zerknüllte Alufolie und Fastfood-Verpackungen. Daneben lässt eine alte Trauerweide ihre langen Äste ins Wasser hängen, in ihrem Schatten stehen kleine Fische am sandigen Grund.
Wir essen einen Apfel und kraulen die Hunde, die auf die Bank gesprungen sind und sich neben uns gelegt haben.
So sitzen wir im Sommerduft. Die große Stadt ist weit entfernt, die Sonne brennt auf der Haut. Die Zeit plätschert gemächlich dahin.
Schön ist es hier. Das könnte man öfter mal machen. D. erinnert sich an ihren Liebhaber mit dem rostigen Cabriolet. Ob man den nicht doch nochmal aufleben lassen sollte um gemeinsam an den See zu fahren und sich den Wind durch die Haare blasen zu lassen? Ach was, das lohnt nicht; bald ist Herbst und dann nützt auch das Auto nichts, wenn der Mann nicht taugt. Wir lachen.
Am späten Nachmittag ziehen Wolken auf. Mit ihnen kommen die Boote. Ihre weissen Segel leuchten vor milchigem Graublau.
Weit hinten am Horizont fließen Himmel und Erde ineinander.

Gegen Abend gehen wir zurück zur Promenade und nehmen bei dem Biergarten unter den großen, orangefarbenen Schöfferhofer-Schirmen Platz. Am Nachbartisch trinkt einer ein frisch Gezapftes. Sein Glas ist beschlagen. Zum ersten Mal seit langer Zeit flackert Hopfendurst in mir auf und erlischt sogleich wieder. Ich bestelle einen Cappuccino. D. erkundigt sich nach Gebäck. Mandarinenkuchen gibt es, mit Stückchen. Ansonsten Fischbrötchen. Sie bestellt einen Kuchen.
Wir schauen auf den See, der ruhig vor uns liegt und unterhalten uns über den Islamischen Staat. Im Fernsehen haben sie gezeigt, wie die Krieger des IS eine Gruppe Ungläubiger erschießen. (Eure Morde sind barbarisch, unsere notwendig). Grund allemal für Waffenlieferungen an die Kurden.
Wir reden über die Brutkastenlüge. damals beim Zweiten Golfkrieg; herbeifabulierter Kriegsgrund. Über die Ukraine-Krise und die fortschreitende, immer unverhohlenere Macht des Kapitals. Über  affirmative Presse, neoliberalen Druck, Ausbeutung, Arbeitssklaven, Menschenhandel, Überwachung, Sozialabbau und über die vielen Kriege, die näher und näher rücken. Atem anhalten.
Schweigen.
Wir zahlen.
Auf dem Weg zum Auto, drehen wir noch eine kleine Runde durch die Stadt und begegnen gleich zwei Mal dem selben Mann, der mit Camouflage-Klamotten, Oberlippenbärtchen, ausrasiertem Nacken und weißem Terrier seinen Abendspaziergang macht und uns freundlich zunickt.
Ansonsten sind nur wenige Menschen auf der Straße unterwegs, an diesem lauen Spätsommerabend. Kein Lokal weit und breit.  Sämtliche Geschäfte geschlossen. Ein Schaufenster in der Fußgängerzone stellt Waffen und Schneidwerkzeuge aus, ein anderes gebrauchtes Kinderspielzeug. Daneben die Angebote des Immobilienmaklers, der ganze Häuser mit Grundstück zu Spottpreisen verschleudert.
Auf der großen Wiese im Zentrum lassen wir die Hunde noch einmal laufen, ehe wir uns auf den Heimweg machen.
Die Sonne steht tief, das Licht ist golden. Wir fahren zurück in die Hauptstadt.