voranschreiten

(Ein alter Text von mir. Wenn ich wieder in der Verfassung bin, so zu schreiben, geht´s hier bestimmt wieder mit Verve weiter)

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Es ist so, zumindest im Augenblick, und der gilt eben jetzt, ist die Wahrheit, so, wie alles, wovon ich, und sei es auch nur für einen kurzen Moment, überzeugt bin, aus tiefstem Herzen oder sogar bei vollem Verstand, die Wahrheit ist, die ganze absolute und unumstößliche Wahrheit, für alle Zeiten, in diesem Augenblick. Das alte Autofahrer-/ Radfahrer-Ding. Egal in welcher Rolle, die anderen haben Unrecht und ich habe Recht.
So ist es.

Im Winter, wenn es dunkel ist und meine Gedanken sich nach und nach grau einfärben, ab und an von heiteren Anfällen überbunt, beinahe lackglänzend und blendend überpinselt, weil mir in der düsteren Atmo jedes Maß für Farben fehlt- das ist wie Schminken im Dunkeln, was soll schon dabei rauskommen außer einer Horrorfratze –

nein Mutti, es ist alles gut, geh schön in dein Zimmer, der Arzt kommt gleich-

Der Rest des Satzes ist mir irgendwie abhanden gekommen, war wahrscheinlich nicht wichtig.

Wenn ich jetzt alles oben Geschriebene lösche, fehlt der halbe Text und bis hierher war´s doch gar nicht so übel, denn nicht jede Sackgasse ist ein Irrtum, so wie die Evolution zwar nicht gerade auf mich gewartet hat, vielleicht sogar just noch dachte, es läuft sehr gut derzeit, so könnte es ewig weitergehen, mal gucken, was noch kommt, und dann kam schon ich (immer nur als klitzekleines Splitterchen vom großen Wir gedacht), und mit mir ist völlig überraschend das Ziel und somit das Ende der Evolution erreicht.

Mission erfüllt

Eine super Sackgasse, in der man es sich endlich einmal gemütlich machen und mit den Beinen baumeln kann, sich einnischen, ein paar Fehlerchen, na gut, aber im Großen und Ganzen ist es vollbracht, wollen wir nicht kleinlich sein.

Die Evolution ist vorbei, ich bin da!

Wenn man denkt, wie das früher zuging. Da waren alle Menschen noch schwarz-weiß, sahen komisch aus und wackelten wie aufgezogen durch die Gegend. In den 80ern ist auch noch mal irgendetwas ganz stranges (so sagte man damals) passiert. Lag wahrscheinlich an Reagan, Thatcher und dem Peter Dingens, der Formel 1 moderierte (die Frisur!), danach aber wurde die Welt modern und glitt auf lautlosen Kufen durchs All und tut es bis heute und könnte auf diesem Höchststand den totalen Stillstand ausrufen und endlich Ruhe geben.

Tut sie aber nicht. Partout kaputt gehen möchte sie, unter Spielkonsolen und voll schönen Dingen begraben. Im überheiteren Krisenloop chong chong chong dreht sie sich in rasender Ausgelassenheit und blindem Übermut, dass es die Ecken abschlägt bei jeder Runde, wie ein Klapptisch auf´m Kopf und immer round about in der dunklen Kammer, in der sich schon Mutti schminkte, mit bekanntem Ergebnis, spratzt es die Ecken weg, es splittert, wenn schon nix mehr zu tun ist und die Entwicklung vorbei, das Rad erfunden, sich nur noch dreht, ganz langsam im Wald im Wind, im rostigen Gestern.
Der hüpfende Ball auf dem Wasser, er schwippt und schwappt und schwimmt obenauf und landet doch irgendwann im Magen der Möwe, die daran zugrunde geht und wir mit ihr und am Schluss ist er das Ende der Welt Menschheit. Ein kleiner Plastikball.

Wer hat´s erfunden?

Den Kopp unter´m Tisch oder den Spiegel vor´m Bauch und dann durch die Wohnung getapst, die Zimmerdecke spiegelt sich im Spiegel (logisch) und man schaut unentwegt hinein, hält sich das Teil mit beiden Händen vor den Bauch, wie ein Tablett, klettert über Lampen und Kabel und spaziert so aus dem Haus, ohne Schuhe, sieht ja keiner. Ganz vorsichtig, damit man nicht stürzt, stelzt man ins Treppenhaus, die Stufen von obendrüber hinab, Schritt für Schritt, mit Maß und Würde, als trüge man einen Reifrock oder eine Schleppe und ginge zum Altar, die spitze lange Scherbe im Bauch immer vor Augen, ohweh, und vorbei wäre der Gipfel der Evolution – welche Verantwortung man trägt! – und dann an der Türe, nachdem man endlich den vollgesprayten, nach Gras und Pisse stinkenden Hausflur durchquert, die letzte Stuckrosette mit einem Satz übersprungen hat- obacht!-  trete ich auf die Straße. Ich schreite mit geradem Rücken, den Walzer im Ohr, und
sehe,
sehe,
sehe: den HIMMEL,
so blau und weit (el cielo es azul) und mache einen großen Schritt, einen Satz, hart wie Stein unter den Füßen, laufe durch das Blau, den Himmel, das Universum. Ich bin ein Engel oder bin ich schon tot?

 

 

 

 

 

Gedenken an eine Diva

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Die Weihnachtstage werde ich alleine verbringen. Alle Freunde verlassen die Stadt. Auch der Bekannte wird im Norden weilen. Doch vielleicht schneit am Heiligen Abend wenigstens die Goldschmiedin bei mir herein. Das wäre schön.
Ihr könnte ich dann auch gleich die Handvoll Steine zeigen, die von meiner Mutter übrig geblieben sind und die der Kanzler kürzlich zur Ansicht mitgebracht hat. Sämtliche anderen Besitztümer landeten auf Geheiß meiner Mutter posthum im Müll, sie selbst, wunschgemäß, in der Ostsee. Vermutlich haben auch ihre Geschwister ein paar Dinge beiseite geschafft (wo ist bloß die Eigentumswohnung hingekommen). Es ist mir ganz gleich.
Meine Mutter besaß viele Ringe, doch nur einer ist mir deutlich in Erinnerung geblieben. Diesen einen Ring, ein großer in Gelbgold gefasster Amethyst, hätte ich, nach ihrem Tode im vergangenen Jahr, gerne noch einmal gesehen und sei es nur auf einem Foto.
Doch als die Demenz begann an dem Hirn meiner Mutter zu nagen und als eine ungeheure Wut und Enttäuschung über ihr ausklingendes Dasein, das längst jeden Glanz und Glamour eingebüßt und sie zu einer einsamen Seele gemacht hatte, sie erfassten und groß und immer größer wurden, als die Blicke in den Badezimmerspiegel erst ungläubig, dann verzweifelt und schließlich bitter wurden, weil alles, alles, was ihre Schönheit einst ausgemacht hatte in einem schmallippigen Streifen, dem niemand mehr zum Reden, Beschimpfen oder Bespucken geblieben war, ausgelaufen war, als also ihr mondänes Leben einer Diva zu Ende ging und sie nichts, aber auch gar nichts dagegen tun konnte, verfügte meine Mutter, dass wenn schon nicht sie, auch niemand anderes mehr mit ihrem Geschmeide brillieren solle und dass, um diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, nach ihrem Tode sämtliche Steine aus ihren Schmuckstücken ausgefasst, das Edelmetall verkauft und ihren ungeliebten Kindern allenfalls die Klunker zum Fraß vorgworfen werden sollten, die bloßen amputierten nackten Steine, in denen nichts mehr von ihr sich fände, die aber doch als Stachel, als Pfeil aus dem Jenseits, als ewiger Vorwurf, als Rache für ihren Tod, den wir nicht hatten verhindern können oder wollen, dienen sollten.

Kein Ort der Trauer, keine Erinnerungsstücke für uns, das war ihr ausdrücklicher Wunsch.

Das alles ist und bleibt unverständlich. Manchmal bin ich noch traurig darüber, manchmal empört, doch meist empfinde ich gar nichts mehr dazu. Diese Stelle der Seele ist abgenutzt, oder zugesperrt, ich weiß es nicht, vielleicht ist auch der Schmerz verbraucht oder die Resignation zu groß. Mal so, mal so und dann wieder ganz anders.

Doch heute sitze ich hier und auf dem Balkon gegenüber blinkt der Weihnachtsschmuck in den frühen Dezemberabend hinauf und ich denke an meine Mutter und ich sehe sie vor mir, ganz in Schwarz, tief ausgeschnitten und dramatisch geschminkt. Ich sehe sie, wie sie, den Kopf zur Seite geneigt, vor einem runden Mahagonitisch sitzt, mit ihrer kleinen, knochigen Hand über die glänzende Oberfläche fährt und ich höre das leise Kratzen von Metall auf Holz. Und ich schaue auf den großen, dunklen Amethyst an ihrer Hand, in dessen poliertem, rundem Bauch sich das ganze Zimmer und sogar der Himmel vor dem Fenster spiegeln und ich brauche ihn gar nicht zu besitzen, diesen Ring, ich werde ihn nie vergessen, sowenig wie meine Mutter,

Auf meinem Küchentisch liegt ein winziges Plexiglasdöschen, ein oder zwei Dutzend kleiner Edelsteine darin. Einen einzigen davon, ein klitzekleines Splitterchen, könnte ich gut gebrauchen, um einen alten Schulterring zu reparieren und ihn dann wieder tragen zu können. Doch möchte ich das?

Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie, die sie gerne und coram publico von ihrer missglückten Selbstvernichtung sprach und dabei mitten aus einem Lachen heraus das ernste oder entrückte Gesicht eines Stummfilmstars zaubern konnte, geeignet jeden Menschen der ein fühlenden Herz hat, zum Weinen zu bringen, ausgenommen die Wenigen – uns –  die sie gut kannten und die während der Vorstellung ungerührt oder allenfalls angewidert und mit versteinertem Gesicht sitzen blieben, statt sich zum Komparsen zu machen und sie zu umarmen, oder ihr ein Taschentuch zu reichen als dann endlich auch die Rotweintränen flossen, weil wir diese histrionischen und manipulativen Darbietungen längst kannten und zweifelsfrei von echten Gefühlen unterscheiden konnten, wie meine Mutter es wohl finden würde, wenn sie erführe, dass ich, die ungeliebte Tochter, mich über ihren Willen hinweggesetzt hätte, indem ich ihr in einem alten Ring das Denkmal gesetzt hätte, das sie immer haben wollte, und mir selbst damit einen Ort der Trauer geschaffen hätte.

 

An Weihnachten werde ich mit der Goldschmiedin die Steine anschauen und an die vielen Weihnachtsfeste mit meiner Mutter zurückdenken.

 

 

 

 

 

 

Bild: screenshot twitter

Silber

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Manchmal wenn der Verdacht sich mir aufdrängt nicht ganz bei Trost zu sein, weil Dinge fehlen in meinem Schrank (beispielsweise Tassen) und ich nach dem Duschen in den beschlagenen Badezimmerspiegel schaue und an schwarz beborstete Zahnbürsten denke, die die Kinder sich über die Oberlippe hielten und sich dabei wie fröhliche Hitler im Bademantel fühlten, versuche ich die Wege nachzugehen die mein Verstand genommen haben könnte, folge ihnen mit System, gelernt ist gelernt, und finde mich wieder im elterlichen Schlafzimmer mit den weißen Interlübkeschränken und einer Weltkarte über dem Bett in einem Haus mit rosa Sandstein und Fachwerk, einer dramatisch geschminkten Mutter und schwarz gekleidetem Vater mit der Klarinette an den Lippen und der Schwester mit den roten Haaren wie die Urgroßmutter, von deren 9 Geschwistern eines den Namen meines jetzigen Hundes trug, und hinter dem Haus der Blick auf die Berge, die mittleren: ein Taunus, ein Spessart und ein Vogelsberg, der Odenwald nicht weit, und Hochhäuser in der Mainebene, wie Pilze nach dem Regen. Alles weit weg, geschmolzen wie die Scholle die der Eisbär nicht erreicht und unterdessen die Robbe ihm entkommt und nun sind es plazentahungrige Möwen die die Robben töten. Anpassungsspezialisten. Ich und die Möwen deren Rufe den Hund  noch immer aufhorchen lassen, die größten Futterkonkurrenten waren sie auf der Insel, neben den anderen Hunden oder meinen Geschwistern, wie wir so da saßen mit unseren Frottierlätzchen auf Hochstühlen bei Tisch und ich narkoleptisch und anorektisch und die Mutter mit dem Blattlausaugenmakeup und dem zischenden bösen Mund und ihrer heillosen Wut.

Ich sehe aus wie Hitler, denke ich im beschlagenen Badezimmerspiegel, wenn die Haare so strähnig und glatt auf der Stirn kleben, weil erst Trockenheit die Locken dreht und Hitler zurückdrängt in den Zahnputzbecher mit den (heutzutage) weißen Bürsten mit denen nur ein Greis sich nachahmen ließe, doch gottseidank ist er lange schon tot und sein Ende besiegelt mit dunklem Haar. Wie eine Anorektikerin fühle ich mich wieder, mein ausgemergeltes Rhesusaffengesicht und die Hosen die von den Hüften rutschen, überdiszipliniert und traurig sehe ich aus, der Ehrgeiz einer Ballerina über dem Zenith und der Stress, dieser Stress und sein Spaten im Gesicht und immer in meinem, die harten Kanten, grobe Schnitzer mit dem scharfen Messer gehöhlt. Es wird heilen, bald schon in den Bergen mit ihrem schroffen Grat oberhalb der Baumgrenze, wo der Fels auf sich selbst gestellt ist, nur Stein, nur Zeit und Wind und das Fieber brennt und ich zähle die Stunden rückwärts und die Kilometer nach vorne. Kühl soll es werden, am Fuße der Berge spielt mir Petrus in die Hände. Schlafen, schlafen, die Kuhlen füllen, grasüberwachsene Kanten, die Berge, die Ebene und der See und ich freue mich so, ich freue mich und über den Alpen die Sonne.

 

 

 

 

 

 

Bild: Modifica cfs 6512, carmelo fabrizio scordini, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/

Zusammenwirken

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I woke up and saw the light of dawn through the cracks in the Venetian blinds. It came up from so deep in the night that I had a feeling like that of vomiting up myself, the terror of coming into a new day with its same presentation, its mechanical indifference of every time: consciousness, a sensation of light, opening my eyes, blinds, dawn.
In that second, with the omniscience of half-sleep, I measured the horror of what astounds and enchants religions so much: the eternal perfection of the cosmos, the unending rotation of the globe on its axis. Nausea, the unbearable feeling of coaction. I am obliged to bear the daily rising of the sun. It´s monstrous. It´is inhumane. Before going back to sleep I imagined (I saw) a plastic universe  *

 

 

Wäre es mir gegeben an Gott zu glauben, ich täte es und legte mein ganzes Herz darein. Wie viel einfacher erscheint es mir, hätte alles Hadern ein Gegenüber, jede Regel Jemanden, der darüber wachte, jedes Sehnen ein Ziel und jeder Schmerz seinen Trost. Überall fände sich Halt in einer beseelten Welt, in der jeder Halm und jeder Lichstrahl von einem höheren Willen, Wesen und einer allumfassenden Liebe zeugte.

Stattdessen

April. Der kleine Junge fährt mit seinem Dreirädchen unter einem weiten Himmel umher. Über ihm ziehen die großen Wolkenschiffe vorbei, dunkel ihr Bauch und schnell ihr Flug, Wind kräuselt die Pfützen, eine Öllache schillert im Sonnenlicht.
Ein alter Mann ist der Junge geworden,. Mein Vater. Seine Erinnerung ein Staffelholz.

Meine Mutter ist tot. Bald ein Jahr schon. Manchmal fällt es mir ein und ich weine. Meist fühle ich nichts dazu. Nicht einmal Erstaunen. Es ist, als säße ich auf einer Bank in einem Einkaufszentrum und schaute der Poliermaschine bei der Arbeit zu. Der Boden glänzt und bleibt doch blind.
In der Lübecker Bucht liegt ihre Urne.

In Norwegen fangen sie wieder Wale, vorwiegend Weibchen. Fast alle sind trächtig. Und so töten sie immer gleich zwei, wenn sie einen abschlachten: Mutter und Kind.

Ich finde keine Worte, wie traurig mich das macht.

 

 

 

 

 

I follow rivers

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(…)

1 Blick
in dein Auge würde mir sagen ob du müde
bist oder ob es noch weitergeht. Weinen
würden wir trotzdem oft, weil
der Abschied noch vor uns läge –

Friederike Mayröcker

 

 

Am Morgen ruft der Kanzler an. Ich sehe seine Nummer auf dem Display und weiß, daß das nichts Gutes bedeutet. Nicht um diese Uhrzeit. Mit klopfendem Herzen hebe ich ab.
Ganz ruhig redet er und mir laufen die Tränen, während er erzählt was geschehen ist, völlig unerwartet.
Ich kann gar nicht trauern, sagt er, nach einer Pause, so ist eben das Leben. Grausam.

Mich schüttelt es und ich denke: es steht mir gar nicht zu, so zu weinen, sie ist ihm viel näher als mir.

Heute Nacht habe ich sehr intensiv geträumt, sagt er dann unvermittelt. Ganz ungewöhnlich für mich. Ich träumte, dass ich fliegen kann. Nicht nur ein bißchen, sondern richtig. Zwischendurch dachte ich immer: das kann nicht sein, ich träume. Und dann war es doch so und ich flog 2000 und dann 3000 Meter hoch und immer höher.
Flieg du nicht auch noch davon, Papa, denke ich und sage es nicht.

Sie ist in dem gleichen Alter, wie unsere Mutter, als sie starb, dabei ist sie die Jüngste von uns fünfen.
Sie ist meine Lieblingstante,
sage ich.
Ja, ich weiß, antwortet der Kanzler, sie ist ein so sanfter Mensch.

Die Geräte sind abgeschaltet, wir warten auf den Tod.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle Zitat: http://www.poetenladen.de/theo-breuer-friederike-mayroecker.htm
Bild:
陶德, flickr, 20100829-0090,
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Das Gewand

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Auf einem hölzernen Bügel hängt ein schwarzes Gewand.
Aus schwerem Stoff gefertigt, wird es im Rücken mit einem durchgehenden Reißverschluss zusammengehalten.Vorne ist es hochgeschlossen und seine schmalen Ärmel reichen bis zum Saum. Die auf der Vorderseite eingelassene Falte lässt es nach unten hin ein wenig aufspringen.

Vor einigen Wochen, vielleicht sind es auch Monate, erwarb ich dieses ungewöhnliche Kleidungsstück, dessen talarähnliches Aussehen mich bereits beim Betreten des, von lauter Musik durchwummerten, Geschäftes auf eine unerklärliche Weise angezogen hatte und mich es ohne Anprobe kaufen und nach Hause tragen ließ.

Ein paar Tage hing es dort und immer wieder beäugte ich es ratlos. Dann nahm ich es vom Bügel, brachte es zur nahegelegenen Schneiderin und bat sie es zu kürzen. Nach dem Abholen hängte ich es erneut auf, wählte dieses Mal aber einem Platz dicht unter der Zimmerdecke, so, dass ich seither aufblicken muss um es zu betrachten.

Manchmal stelle ich mich direkt darunter, schaue in sein Inneres hinein, wie in ein Zelt und sehe mich plötzlich in einem hellen, gefliesten Raum stehen. Unbekannte Hände streifen mir das Gewand über meine ausgestreckten, willenlosen  Arme und verschließen es im Rücken. Unterdessen laufen tuscheschwarze Tränen über mein bleiches Gesicht.

Vor diesem Tag fürchte ich mich und bis heute habe ich es nicht gewagt auch nur das Preisschild zu entfernen, geschweige denn das Kleidungsstück in den Schrank zu hängen.
Ich habe Angst, dass die Regel, nach welcher allein der mitgenommene Schirm den Regenguss verhindern kann, auch hier Gültigkeit finden würde.

Solange ich das Gewand unberührt hängen lasse wird das Ereignis, für welches ich es mir gekauft habe, nicht eintreten.

 

 

 

 

 

 

Bild: flickr, px4u by team cu29, Herbst
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/

Corrida

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Vom Anfang bis zum Ende der Corrida saß sie in angstvoller Spannung, erfüllt von Schrecken, der Ausdruck eines unüberwindlichen Verlangens war, einmal dabei zu sein, wenn einer der ungeheuerlichen Hornstöße, mit denen eine Stier in blinder Wut unablässig auf die Leere der roten Tücher einstürmt, den Torero in die Luft warf. Hier ist im übrigen zu sagen: wenn das furchtbare Tier ohne langen Aufenthalt und ohne Ende wieder und wieder unter der Capa hindurchschießt, nur einen Fingerbreit von der Körperlinie des Toreros entfernt, ahnt man das Gefühl einer totalen und wiederholten Projektion, wie sie dem physischen Liebesspiel eigen ist. Und in der gleichen Weise empfindet man hier die Nähe des Todes. Solche Folgen von glücklichen pases sind selten und entfesseln in der Menge ein wahres Delirium; die Frauen erleben in diesen pathetischen Momenten einen Orgasmus, so sehr spannen sich die Muskeln ihrer Beine und ihres Unterleibes.

Georges Bataille, Das Obszöne Werk

Bild: diadà
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Prince


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He was masculine and feminine and casually, frankly sexual. He was forever prolific. His music was deeply satisfying, with a sophistication that was both intellectual and physical. It got to us everywhere.

(The New Yorker)

 

 

 

Sometimes It Snows In April

(youtube-Direktlink)
Bild: Peter Tea
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/

Junktur/ der letzte Schrei

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Der Küstenbewohner schüttelt milde den Kopf, derweil der Städter sich jubelnd über Slipanlagen freut.

 

 

 

Das große Gebäude aus Waschbeton ist mit vertikalen und horizontalen Dehnungsfugen versehen. Das Material soll sich bewegen können um Rissbildung zu verhindern.

(Er war noch nicht alt. Wieviele Jahre bleiben mir noch?)

Ein Puffer um das Auseinanderbrechen zu verhindern. Spalten, die zusammenhalten und gleichzeitig Spielräume lassen. Wie Knochenfugen. Erst wenn der Knorpel vollständig verknöchert ist, hört der Mensch (das Lebe-Wesen- welche könnte es sonst noch geben? Tote-Wesen?) auf zu wachsen.

Ich stelle mir vor, dass mein ganzes Sein durchzogen ist von diesen Fugen, den Nahtstellen, die es beweglich halten und ihm erlauben sich an alle Erfordernisse anzupassen, die die Zeit ihm abverlangt. Und während ich mehr und mehr skelettiere, die Knorpel aushärten und zu Knochen transformieren, ehe ganz am Ende wieder alles brüchiger Brösel (aber weich nimmermehr) wird, formt sich, durch ständige Bewegung, das Selbst (qui est-ce?) zu einem unverkennbaren und einzigartigen verbogenen, verwrungenen, gezeichneten künftigen Wrack. Ein Werkstück. Jede Erschütterung, jedes Beben, jeder Erdrutsch gräbt sich ein und hinterlässt eine spezifische Spur.

Vielleicht geht die Zeit nicht über uns hinweg, sondern wir werden, bzw. sind ein Teil von ihr. Eine Spur (von vielen) bespielt mit unseren Lauten, neben jenen all der anderen, synchron oder zeitversetzt, ein Konzert, eine Sinfonie, von der Wiege bis zur Bahre, die ersten und die letzten Schreie.

Verbindungsstellen.

(Ein Bild, das ich nicht loswerde ist der Sack auf der Bahre vor meiner Wohnungstüre und die beiden starken Männer, die sich den Schweiß von der Stirn wischen, nachdem sie ihn abgesetzt haben).

/

Heute telefoniere ich mit dem Kanzler, der zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder Anteilnahme zeigt, Interesse an dem, was um ihn herum geschieht, und der nun auch endlich staunen kann über die unglaublichen Zufälle, die mein Leben aus den – – Fugen geraten lassen.

Man stelle sich vor: ich steige an einer beliebigen Stelle aus dem Auto um eine Toilette aufzusuchen. Weil ich schon mal da bin, lasse ich den Hund ein wenig laufen und mit ihm gemeinsam gehe ich durch den eisigen Wind und den Regen traumsicher einen Abhang hinauf, der mich zu einem Sehnsuchtsort an der Steilküste bringt, den ich von Fotos kenne und der so verborgen liegt, dass nicht einmal der Vorsatz ihn hätte finden können.

Es ist beinahe so, wie seine Tasche zu verlieren, in die nächstbeste Telefonzelle zu spazieren, den Hörer in die Hand zu nehmen, (ich komme aus einer Zeit der Telefonzellen, Telefonhörer und Telefonbücher) eine beliebige Nummer zu wählen und sogleich den Finder am Apparillo zu haben.

Lotto, und ich bin die Königin.

Wir sind verbunden, mon roi.

 

 

 

 

 

Musik zum Text:

(youtube-Direktlink)