
Ich hab immer mal wieder Phasen und Vorlieben. Derzeit sind es Unfälle und Artikel über Kriminalität, nach denen ich mehrmals täglich die Gazetten durchsuche. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Angefangen vom gestohlenen Autoradio Moped (Autoradios gibt’s gar nicht mehr, oder?) über das Ehepaar, das tot in seinem Haus aufgefunden wurde, bis hin zu der 18-Jährigen, die ihre Entführung nur vorgetäuscht und insgesamt schon 150 Straftaten auf dem Kerbholz hat. Fleißig, fleißig.
In etwa 3 Wochen, spätestens aber, wenn ich mein Umfeld derart sensibilisiert habe, dass es mir ganz von selbst und freiwillig die neuesten Kriminalfälle zuträgt, werde ich das Interesse an diesen schlagartig verlieren und mich anderen Dingen zuwenden. Ganz und gar.
Jetzt aber bin ich noch mit Herz und Seele dabei.
Eine Sache, die eng mit dem Thema Unglück verknüpft ist, die mich allerdings schon viel länger beschäftigt, und die, befeuert durch den Hacker-Angriff auf die Telekom vor wenigen Tagen, noch mehr an Raum gewonnen hat, ist das Feilen an einer tragfähigen Überlebensstrategie für den Fall, dass in Europa die Lichter ausgehen, vulgo das Stromnetz zusammenbricht, woran der Iwan, den Verlautbarungen zufolge, ja schon kräftig am Arbeiten ist.
Wie wird das sein? Wieviel Zeit werden gerade wir, die wir in der Stadt leben, haben um unsere Haut zu retten?
Geldautomaten und Zapfsäulen werden ebenso stillstehen, wie die Züge und der gesamte ÖPNV. Supermarktkassen werden nicht mehr funktionieren. Das Internet, das Telefon- und das Mobifunknetz werden ausfallen. Weder Wasser, noch Klospülung werden laufen, von der Heizung ganz zu schweigen.
Erst im Sommer hat die Bundesregierung die Bürger dazu aufgefordert für den Fall der Fälle eine Mindestbevorratung für 2 Wochen anzulegen. Konserven, Wasser, Kerzen, Batterien, Medikamente und unbedingt auch ausreichend Bargeld (wo doch der Bargeldsumpf als Nährboden krimineller Machenschaften möglichst schnell trockengelegt werden soll).
Was passiert eigentlich wenn beispielsweise im Krankenhaus nach 48 Stunden die Notstromaggregate aufgeben und die Beatmungsgeräte stillstehen? Wird der Arzt dann zum Sterbebegleiter? Überhaupt: wann werden die ersten Kliniken geplündert? Wo sind die Notfalltelefone? Wie weit ist der nächste Bunker entfernt, in dem Essen ausgeteilt wird? Was passiert mit den Pflegebedürftigen? Kommt da immer noch der ambulante Pflegedienst, oder muss man sich um die keine Sorgen machen, weil sie demnächst sowieso alle in Heime zwangseingewiesen und dann gemeinsam ver- oder entsorgt werden?
Was geschieht mit den Milchkühen? Wer soll sie melken, wenn die Maschinen ausfallen?
Wer füttert die Tiere im Zoo? Wird jemand ihre Käfige öffnen? Und dann?
Und die Atomkraftwerke, wie lange wird man sie kühlen können, so ganz ohne Strom?
Nachdem ich mir nun wochenlang haarklein überlegt habe, was ich einkaufen müsste, was in einen Fluchtrucksack gehört und wie ich mich mit einem kleinen Campingofen versorgen könnte, den ich übrigens mit den Holzpellets des Katzenstreus zum Brennen bringen würde, wieviele Kerzen ich im Haus vorrätig haben sollte und ob die Anschaffung eines Kurbelradios nicht sinnvoll wäre, fiel mir gestern Abend ein, dass das Haus in dem ich wohne ein eigenes Blockheizkraftwerk hat und folglich überhaupt nicht vom Stromausfall betroffen sein würde. Dieser Teil der Katastrophe bliebe mir also erspart.
Ich werde lediglich mit dem Lebensmittel- und Wasserproblem zu kämpfen haben und vielleicht damit, dass meine schikanöse Vermieterin dann endgültig die Axt auspackt und meine Türe einzuschlagen versucht, weil die Notrufsysteme längst alle ausgefallen sind und niemand niemandem mehr zur Hilfe eilen wird.
Was sie nicht weiß, die Vermieterin, ist, dass ich in einem lange zurückliegenden Anfall von Paranoia, meine Wohnungtür einbruchssicher habe machen lassen, indem ich auf die Innenseite eine Metallplatte montieren ließ und in an den Bändern einen Aushebelschutz. Da kann sie lange hacken und unterdessen wird ihr sowieso die Puste ausgehen, Kettenraucherin, die sie ist. Wenn ihr Suchtstoff dann eines schönen Tages endgültig aufgebraucht ist, wird es ihr wahrscheinlich ergehen wie Helmut Schmidt, kurz nachdem er aufgehört hatte zu rauchen.
Gemütlich werde ich, als eine der wenigen Stadtbewohnerinnen, in meiner geheizten Bude sitzen und ein köstliches Chili wird auf dem Herd vor sich hin köcheln, derweil draußen in der Eiseskälte die Welt untergeht.
Sobald die letzten Plünderer sich gegenseitig erschossen und die Krähen deren sterbliche Überreste beseitigt haben, verlasse ich, an einem schönen Apriltag, als einzige Überlebende in Kreuzberg Südost, das Haus, zusammen mit meinem lieben Hund (unbedingt das Medikament für sie bevorraten!) trete auf den leeren Mariannenplatz und blicke empor zu dem ehemaligen Bethanienkrankenhaus.
Durch die Eingangshalle des schönen Gebäudes schreite ich und nehme, begleitet vom Klackern meiner Absätze, den ersten Gang nach rechts, werfe, an dessen Ende angekommen, mit einem mitgebrachten Pflasterstein die Glastüre der Fontane-Apotheke ein, steige, den Hund auf dem Arm, vorsichtig über die Scherben und gehe zu dem deckenhohen Regal hinüber, wo ich sämtliche Porzellandosen durchsuche, bis ich jene mit den Veilchenpastillen gefunden habe. Ich nehme sie herunter, greife hinein und lasse eine Handvoll der kleinen Kugeln in meine Jackentasche rollen.
So ausgerüstet setze ich mich in die Laibung des großen Westfensters und schaue hinunter in den Hof, wo ausgestorben die Wagenburg, das Kreuzdorf und das Rauchhaus liegen.
Den wundersamen Veilchengeschmack im Mund, denke ich über die erstaunliche Wendung meines Katastrophenlebens nach und lausche unterdessen dem Zwitschern der Vögel, bis es dämmert und es Zeit für uns wird zu gehen.
Draußen ist es kühl geworden, und rot glühen die Backsteine der St. Thomas- Kirche im Abendlicht.
Ausgelassen rennt Töle auf eine Gruppe Krähen zu, die krächzend davon hüpfen. Irgendwo bellt ein Fuchs.
Ich stelle meinen Kragen auf und atme tief durch.