All night long

2014-03-19 15.37.19#1
Manche Lampen sind mir besser in Erinnerung, als der Gesichtsausdruck des Menschen, über dessen Schulter hinweg ich sie an der Decke hängen sah.

Eine Nacht in Hamburg. Für das Konzert in dem kleinen Club waren wir an die Elbe gefahren, um noch einmal zusammen Chris Bailey zu hören.
Mit einer Pistole an seiner Schläfe hatte er diese Reise erzwungen und alles versprochen, was er in den letzten Jahren nicht hatte halten können.
Auf der Hauswand unseres Hotels ein gemalter Scherenschnitt: eine Reihe schwarzer Hühner, die platt getreten und zerrupft auf dem Boden liegen. Weiter vorn der unersättliche Hahn mit aufgestellten Schwanzfedern, der dem Rest der flüchtenden Hennen hinterher jagt.
Drin sind die Tische und die drehbaren Metallhocker fest am Boden verschraubt, wie bei John Irvings Hotel New Hampshire. Frauen vom horizontalen Gewerbe kommen in Begleitung und gehen, kurz nachdem ihre Freier das Hotel wieder verlassen haben.

Unser Zimmer ist schlicht möbliert, das Bett mit gestärkter Wäsche bezogen. An der Wand eine grüne Plastikgarderobe aus den 70ern, wie auch die groß gemusterten Vorhänge und die weiß- rote Küchenlampe mit floralem Dessin aus dieser Zeit stammen.

Das Konzert ist eine Qual, jedes Lied ein Stich. Innere Blutungen.
Er nimmt mich in den Arm, und für einen Moment werde ich weich und küsse ihn mit der ganzen Liebe und Verbundenheit von sieben Jahren.

Es ist kalt draußen, der Rückweg zum Hotel verläuft schweigend. Das Unglück knirscht unter unseren Sohlen.

Zuhause wartet ein Eifersüchtiger darauf, dass ich ihm von meinem Besuch bei der Tante in Hannover Meldung mache.
Ich werde heute nicht mehr anrufen, weder bevor, noch nachdem die Dinge zwischen uns geschehen sind, von denen wir beide wissen, dass es zum letzten Mal sein wird.

Im Hotel dann macht er sofort das Licht aus. Er läuft von Fenster zu Fenster und zieht die Vorhänge zu, bis ich nichts mehr sehen kann. Nach einer Weile, gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich erkenne die vertraute Kontur seines Körpers und das Aufglimmen einer Zigarette.
Dann zieht er sich langsam aus. Seine Hand tastet sich an meinem Bein entlang nach oben.
Als er sich auf mich legt, quietschen die ausgeleierten Federn, wir umarmen uns und ich weine.

In den nächsten Stunden, finden wir nur wenig Schlaf.
Mit der Kraft des Verzweifelten fängt er wieder und wieder von vorne an.
Kennt alle Orte. Jeden Winkel, jedes Tal, jede Wölbung, jedes Tor.
Er ist ein Kenner, ein Künstler, ein Forscher und ein Gott.
Wie gut er riecht, wie sehr ich ihn vermisst habe.

Ich werde vom Blitz seiner Kamera geweckt.
Sternchen tanzen auf meiner Netzhaut.
Ich bin müde, er ist wach.
Ein weiteres letztes Mal.

Er fotografiert mich, wie ich unter ihm liege, mit zerlaufener Wimperntusche und offenem Haar.
Die angeblitzte Lampe wirft einen langen Schatten an die Wand.
Er fotografiert uns, wie wir uns küssen.
Ich sehe unser gemeinsames Profil.
Er fotografiert Amok, während er mich einhändig liebt.

Überall schlägt der Blitz ein, und der Raum beginnt zu zersplittern. Schatten wechseln ihren Ort, bewegen sich unvorhersehbar auf und ab, die Küchenlampe springt schnell zwischen Decke und Wand hin und her. Der Schrank stürzt auf uns zu.
Schlaglichter. In rasender Folge.
Mir wird schwindlig.
Ich bitte ihn aufzuhören. Da schluchzt er.

Am Morgen sickert das fahle Winterlicht durch die Vorhänge in den Raum und legt sich milchig auf unsere Körper. Ich muss telefonieren, doch er bittet mich noch zu bleiben.
Für das letzte Mal.

Eng umschlungen liegen wir, und ich schaue an seiner Schulter vorbei auf die weiß-rote Lampe, während seine Tränen sich in meinem Schlüsselbeingrübchen sammeln.

 

 

Влади́мир/ Vladimir

Broimp
Das Haus brannte lichterloh. Nur das Holz im Kamin war unberührt.“ *


Vladimir, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele.
Vla-di-mir: die Zungenspitze macht zwei Sprünge den Gaumen hinab und legt sich bei Drei vor die sich öffnenden Lippen. Vla. Di. Mir.
Er war Vovchik am Morgen, Volodja am Mittag und Vladimir auf amtlichem Papieren. Vlad, wenn er sich Nachts auf mein Lager rollte. Drăculea. Der Sohn des Drachen, der mit seinem schieren Odem ein Feuer entfachen konnte, das erst verlosch, wenn nichts mehr übrig war, das zu verschlingen sich anbot.
In meinen Armen aber war er immer nur Lapotschka, das Tätzchen.

(frei nach Vladimir Vladimirowitsch Nabokow, Lolita)

*Martin Suter, Small World

 

Gischt und Uniform

English: El Malecon, Havana Deutsch: Malecon, ...

Malecon, Havanna (Photo credit: Wikipedia)

Im gleißenden Sonnenlicht liegt die Necrópolis Cristóbal Colón vor uns. Eine Stadt aus weißem Marmor.
Zwei Millionen Menschen sind hier begraben. So viele, wie die Einwohnerzahl von La Habana. Die Pracht und Vielfalt der Mausoleen, Skulpturen und Büsten aus verschiedenen Epochen ist beeindruckend.
Neogotik, Neobarock, Art Deco, Eklektizismus.
Struppige Hunde mit roten Augen dösen auf den schweren Marmorplatten, die die Familiengruften abdecken.
Inselhunde, die ihre Gene immer im Kreis herum reichen. Sie ähneln sich zum Verwechseln.
An manchen Gräbern stehen, trotz des Verbotes, Schnittblumen in einer Vase. Malariagefahr.
Ein Mann nähert sich auf einem der Seitenwege, bleibt an dem Grabstein neben uns stehen und benutzt den Metallring, der in die Platte eingelassen ist, wie einen Türklopfer. In der Hocke sitzend spricht er zu seinen Verstorbenen.
Auf dem nächstgelegenen Hauptweg schaukelt ein blauer Straßenkreuzer aus den 50er Jahren im Schritttempo vorbei.
Abel erzählt uns von seiner Stadt, von den Familien, den Revolutionären und Helden, den Kolonialherren und dem Embargo.
Auf dem Rückweg Richtung Capitol schlängeln wir uns auf Seitenwegen durch die zerfallende Altstadt, die pastellfarbene Schönheit. An den größeren Straßenkreuzungen stehen Soldaten in olivgrüner Canvasuniform, mit Patronengürtel, Castro-Kappe und Schnellfeuerwaffe auf einem umzäunten Holzpodest. Mit laut knatterndem und rückkoppelndem Funk kündigen sie dem nächsten Kontrollposten unsere Ankunft an und mustern uns ernst, als wir vorbei gehen. Die Drohgebärde ist lächerlich, aber ihre Dienstkleidung steht ihnen gut.
Unweit unseres Hotels, kommen wir an einem der großen Plattenbauten vorbei, vor dem eine Gruppe schwarzgekleideter Männer wartet. Nahe bei haben zwei größere Einheiten Soldaten Stellung bezogen, dieses Mal mit rotem Barett und locker gebundenem Gürtel auf schmalen Hüften. Eine Militärkapelle hat sich vor und hinter einer offenen Kutsche aufgestellt, die mit einer kubanischen Fahne ausgeschlagen ist.
Abel geht zu einem der Männer, die in Anzug und mit Funkgerät  herum stehen und die Lage im Blick behalten. Als er zurück kommt, erzählt er uns, dass ein hochrangiger Militär gestorben sei, und man seinen Sarg nun zur Necrópolis geleiten werde. Kurz darauf öffnen zwei Männer die Eingangstür des Hauses. Sechs hoch gewachsene Soldaten schreiten, einen dunklen Holzsarg geschultert, im Stechschritt ins Freie. Mit ernster Miene tragen sie den Sarg die zwölf steilen Eingangstufen hinunter, und stellen ihn auf der Kutsche ab, wo er mit einer zusammen gefalteten Fahne geschmückt wird. Die Militärkapelle stimmt einen heiteren Marsch an, der Zug setzt sich in Bewegung und ein Soldat mit Querflöte schreitet allen voran. Ich denke an Vineyard von Thomas Pynchon. Schon andere sind diesem Charme erlegen. Anton weiß Bescheid, er stößt mich an, und zusammen folgen wir dem Zug mit angemessenem Abstand.
Abel begreift, legt seinem Arm um meine Schulter, massiert mein Ohrläppchen, rollt die Krempe des Ohres zwischen Daumen und Zeigefinger auf, und zieht sie sachte nach außen. So laufen wir eine Weile, ich wie betäubt von seinem Griff, bis er vorschlägt ins Hotel zu gehen.
Es ist später Nachmittag. Bis zum Abendessen ist noch genügend Zeit. Ich werfe einen letzten Blick auf den Trauerzug und reisse mich los, Zu Dritt kehren wir um und gehen Richtung Malecón, wo die Gischt weit über die Ufermauern bis auf die Straße spritzt. Durchnässt und fröstelnd, erreichen wir das Mélia Cohiba, betreten die Haupthalle und gehen zum Aufzug, als von allen Seiten Männer in Anzügen auf uns zukommen und Abel bitten das Hotel zu verlassen.

Hotel Melia Cohiba

Hotel Melia Cohiba (Photo credit: Phil Guest)

Niemand sagt es, jeder weiss es: der Kontakt zwischen Einheimischen und Touristen ist nicht erwünscht. Es kommt zu einer Diskussion zwischen dem Hotelmanager und mir, der uns nach längerem Hin und Her gestattet zusammen hinauf zu fahren. Genau 30 Minuten gibt er uns.
Als wir im fünfzehnten Stock ankommen, stehen bereits zwei Soldaten vor meiner Tür. Jeder hält ein Gewehr mit beiden Händen quer  vor der Brust. Sie treten zur Seite und lassen uns ein.
Uns bleiben noch 27 Minuten.

Chan Chan. Kubanische Früchte.

English: Wolga GAZ 24 Taxi Deutsch: Wolga GAZ ...

Wolga GAZ 24 Taxi (Photo credit: Wikipedia)

Mit einem alten GAZ 24 holt der Fahrer uns vom Hotel ab. Den Wagen, ein inoffizielles Taxi, hat uns Abel vermittelt. Gemeinsam mit ihm wollen wir in die Provinz Cienfuegos auf der anderen, der karibischen, Seite der Insel reisen. Der Fahrer ist ein bärtiger Mann Ende Vierzig, mit dunklen Augen und einem strengen Blick. Er weist mir den Platz auf der Beifahrerseite zu, die anderen drei steigen hinten ein. Es gibt keine Sicherheitsgurte. Ich bitte Anton um seine Jeansjacke, die er von hinten um den Sitz schlingt und deren Ärmel ich vorne über meinem Becken zusammen knöpfe. Vor meinem inneren Auge sehe ich uns in einen Unfall auf staubiger Piste verwickelt. Der Wolga knallt gegen ein Hindernis, kurze Stille, dann steige ich unversehrt aus, die Jacke mit einer Hand lässig über die Schulter geworfen. Unbeeindruckt laufe ich Richtung Horizont.
Originals stand the test of time
Wir fahren den Malecón entlang, an der Tankstelle vorbei, wo wir Abends biertrinkend sitzen und der Musik der staatlich geprüften und zugelassenen Straßenmusiker lauschen.
Hasta siempre Comandante Che Guevara
Aus La Havana heraus. Am Straßenrand lacht der bewaffnete Revolutionär über den zähnefletschend auf dem Festland stehenden Uncle Sam, der hilflos mit den Armen droht.
Señores imperialistas ¡No les tenemos absolutamente ningún miedo!
Bald nehmen wir die Autopista Richtung Südwesten, die breit, schwarz und eben vor uns liegt, und einen merkwürdigen Kontrast bildet zu den maroden Straßen der Hauptstadt.
Der Wolga tuckert langsam über die Teerspur, der gleißenden Sonne entgegen.
Links und rechts immer wieder Zuckerrohr- und Obstplantagen.
Ab und zu brummt ein großer Pickup an uns vorbei. Dicht gedrängt stehen braun gebrannte Arbeiter in leuchtend weißen Trägerhemden auf der Ladefläche. Einmal müssen wir bremsen. Die Jacke hält. Von dem Lastwagen vor uns sind Früchte herunter gefallen. Einige zerplatzen auf dem Boden, ihr Fleisch ist leuchtend orange. „Papayas!“, rufe ich, und Abel lacht. „Fruta bomba,“ korrigiert er mich und der Fahrer wirft ihm einen merkwürdigen Blick durch den Rückspiegel zu.
In der Ferne sehe ich große Vögel am Himmel kreisen. Bald erreichen wir den Punkt, über dem sie fliegen und die letzten hüpfen zur Seite, als das Motorengeräusch zu nah kommt. Auf dem Mittelstreifen liegt ein fast vollständig skelettiertes Pferd mit gewaltigen Rippenbögen. Nur der Kopf ist noch intakt, und vom rotbraunen Fell glänzend bespannt

Birds came to feeding papaya fruit. (, , , , a...

(Photo credit: Wikipedia)

Überall ist Sterben

Als wir den kleinen Ort erreichen, müssen wir nicht lange suchen. Sofort kommen die Menschen aus ihren Holzhütten gelaufen und weisen uns den Weg.
Im Gepäck haben wir Fotos, Briefe und Geld, die uns Isidro für seine Familie mitgegeben hat, außerdem noch eine Flasche Rotwein aus dem Dollarshop. Für Pesos ist so etwas hier nicht zu haben.
Wir werden von der Familie mit der gleichen Ernsthaftigkeit und misstrauischen Zurückhaltung empfangen, wie ich sie schon mehrmals auf der Insel erlebt habe.
Zu Fünft wohnen sie in einem schlichten Raum, dessen Wände in blassem Türkis getüncht sind.
Gegenüber der Tür steht eine Heiligenfigur, davor ein paar Kerzen.
Niemand weiß, wie man eine Weinflasche öffnet, und die fünfzehnjährige Tochter läuft durch die kleine Siedlung um einen Korkenzieher zu besorgen. Am Ende behelfen wir uns mit anderem Werkzeug, und jeder bekommt einen Finger breit vom Barbera in sein Glas, das sie zuvor, hinter dem Vorhang, der den Raum von der Küche trennt, mit Petroleum ausgespült haben. Keinem schmeckt was er trinkt. Eine Flasche Rum wäre das bessere Geschenk gewesen. Das Gespräch will nicht richtig in Gang kommen. Der Fahrer steht draußen und raucht.
Ein großes Bananenblatt ragt durch das Fenster in den Wohnraum, der Baum trägt grüne Früchte.
Maribel, die Fünfzehnjährige steht in himmelblauen Frottée-Hotpants, mit bauchfreiem Top, prallem Bauch, kleinen Brüsten  und aufreizender Pose im Türrahmen und blickt zu Anton. Ein Bein angewinkelt, den Fuß an die Wand gestellt.
Sie ist eine Quinceañera, sagt ihre Mutter und schaut nun ebenfalls zu Anton herüber, der höflich lächelt. Der Großvater nickt. Sie ist ein gutes Mädchen. Anton nickt auch und bittet mich auf deutsch, so zu tun, als ob wir ein Paar wären. „Klar,“ sage ich, und streiche eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. Er nimmt meine Hand und verschränkt seine Finger darin.
Maribel wirft ihrer Mutter einen Blick zu. Sie sieht ihre Möglichkeiten schwinden, wie ihr Bruder die Insel zu verlassen, und fragt Anton mit dem letzten Mut, ob sie ihm das Dorf zeigen dürfe. Ich lasse seine Hand los, er küsst mich flüchtig auf den Mund, und die beiden verschwinden zusammen. Ich fange an mir Sorgen zu machen und frage mich, ob sie später behaupten wird, er sei ihr zu nahe getreten. Hoffentlich gibt es keinen Ärger.
Nach kurzer Zeit kommen sie zurück. Beide irgendwie zerknirscht. Ich mahne zum Aufbruch. Mir ist schlecht, und wir wollten in der Stadt Cienfuegos noch etwas essen. Der Abschied gerät irgendwie traurig und unbeholfen. Für Isidro sollen wir Briefe und Rum mitnehmen. Über seinen Freund fällt kein Wort, aber die Scham über seine Lebensweise steht im Raum.
Der Fahrer bringt uns zu einem einfachen Lokal. Wir laden ihn und Abel zum Essen ein.
Schnell geht die Sonne unter, wir müssen zurück fahren.
Es ist sehr dunkel. In der Nacht benutzen auch Pferdekutschen die Autobahn, und ab und zu glimmt das Lichtlein einer Petroleum-Laterne auf, die als Leuchte hinten angehängt wurde.
Ich frage mich, ob das Pferd auf diese Weise zu Tode kam.
Abel schlingt unerwartet seine Arme von hinten um die Lehne und umfasst meine Taille. Seinen Kopf legt er auf die Rückenlehne und riecht an meinem Haar.
„Papaya“ flüstert er in mein Ohr, und zieht meinen Rock hoch.
Der Fahrer räuspert sich laut.
Schweigend fahren wir durch die Dunkelheit.

Musik zum Text (vor allem wegen des Videos mit schönen Aufnahmen aus La Habana):

Styroporn

Absturzwagl

(Photo credit: Wolf-Ulf Wulfrolf)

Beim Thai hole ich mir ein grünes Curry. Zuhause öffne ich die, mit Alufolie versiegelte Styroporschale. Soviel Verpackungsmüll. Ich esse und lese dabei meine Mails.
X. hat mir Blumenfotos geschickt, die er heute in den Straßen Westberlins für mich gemacht hat. Eine kleine Diaschau, an deren Ende FIN steht. Schön.
Ich räume die Styroporschale weg, die jetzt ganz leicht ist.

Ich mag Styropor und mochte es schon als Kind, weil es das einzige Material war, das bei viel Volumen wenig Gewicht hatte, und mir das Gefühl gab stark wie ein Riese zu sein.
Als Zehnjährige zerschnitt ich die orangen-großen Styroporkugeln, die meine Mutter zur Fertigung von Trockenblumengestecken kaufte, in der Mitte und schob sie mir unter das T-Shirt, an die Stelle, wo später einmal meine Brüste sein würden. In die Jeans stopfte ich Socken, und formte mir auf diese Weise einen runden Frauenhintern. So also würde ich als Erwachsene aussehen.
Später dann gab es diese, mit Styroporkügelchen befüllten, Sitzsäcke. Wenn man auf ihnen herumlag und sich bewegte, hörte man das Knarzen des Lackleders, und das Knirschen der Füllung, das dem Geräusch ähnelte, das entsteht, wenn Pulverschnee zu einem Schneeball zusammen gepresst wird.
Noch später lagen wir zu zweit darauf herum, tranken Bier, zogen uns aus und lachten, wenn der Sack mit und unter uns ächzte und unsere verschwitzten Körper an dem Leder kleben blieben und sich zu dem Knarzen und Ächzen noch ein Quietschen gesellte.
Daran muss ich denken, als ich die leere Schale in den Abfall werfe, und meine Gedanken ziehen weiter zu jener Baustelle, an der ich an einem Frühlingsabend mit Mitte Zwanzig vorbei ging, durchströmt von Jugend, Erwartungen und Hormonen, der kühle, leicht säuerliche Geruch von Zement in meine Nase stieg und ich wie von einem großen Magneten angezogen den halbdunklen Rohbau des Beton-Bungalows betrat, wo sich eben dieses Aroma verdichtete, meine Schritte durch die leeren Räume hallten, und ich den jähen Wunsch verspürte an diesem neu entstandenen Ort auf einen Fremden zu treffen, dem ich mich auf dem harten Boden schweigend hingeben würde, und wir im Anschluss blicklos auseinander gingen, beide mit aufgeschürften Knien.
Jahre später begegnete ich einem Mann, auf den frischer Beton und Zement eine ähnliche Wirkung hatten.

Enhanced by Zemanta

Alles in vierzig Minuten

SAMSUNG

Tagelang versuchte ich eine Mitarbeiterin jener Firma zu erreichen, welche die hinteren Scheiben meines Franzosen tönen soll, um Töle vor Hitze zu schützen. Gestern Morgen rief sie mich endlich zurück.
Da ich wusste, dass sie krank gewesen war, erkundigte ich mich nach ihrem Befinden. Gerne gab sie mir Auskunft:
es ginge ihr inzwischen wieder besser, aber von gut könne nicht die Rede sein, denn sie leide seit Kurzem an einer chronischen Durchfallerkrankung und da passiere es ihr immer wieder, dass sie es nicht mehr zur Toilette schaffe, und das Ganze in die Hose ginge.
Ich traute meinen Ohren nicht, sprach ihr mein Bedauern aus, und versuchte dann, ein wenig verschämt, zum eigentlichen Grund meines Anrufes überzuleiten. Sie aber hatte das Bedürfnis, mich noch genauer einzuführen in die Problematik ihres Dünn- und Dickdarmes, der nämlich nicht nur entzündet sei, sondern auch noch Bauch-, Leisten- und Rückenschmerzen verursachte, die es ihr verunmöglichten Sport zu machen, obwohl sie doch immer leidenschaftliche Marathonläuferin gewesen war, weil sie gar nicht genug rennen konnte, um ihrem Leben und insbesondere ihrer Kindheit zu entfliehen, der sie, und da habe sie keinen Zweifel, überhaupt erst ihre desolate gesundheitliche Situation verdanke, denn sowohl Mutter, als auch Vater hätten ihr übel mitgespielt, und jetzt müsse sie auch noch für die Kosten der Unterbringung ihrer Eltern in einem Altersheim aufkommen.
Ich bedauerte sie erneut und schlug vor, es mit Osteopathie gegen die Rückenschmerzen zu versuchen. Meine Anregung nahm sie dankbar an, und fühlte sich dadurch ermutigt mich nun auch noch über die Beziehung zu ihrem Lebensgefährten, mit dem sie bereits seit 13 Jahren zusammen sei , und die kurz vor dem Aus stand, in Kenntnis zu setzen. Er habe eine Zeit lang soviel gesoffen, nur hartes Zeug, dass er mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, und erst dann zur Besinnung kam, als sie sich ein WG-Zimmer gemietet hatte und kurz vor dem Auszug stand. Da ernüchterte er schlagartig und ließ das Trinken sein, was sie wiederum total aus der Kurve getragen habe, weil sie doch bereits derartig Anlauf genommen und sich insgeheim darauf gefreut hatte ein ganz neues Leben anfangen zu können. Immerhin seien 13 Jahre ja mehr als ein Drittel ihres Lebens, was sie zu der Frage brachte, wie alt ich denn eigentlich sei. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte so, ein klitzekleines Quentchen zu dieser unerwarteten Selbstenthüllungsorgie beizutragen, und eine Idee von Augenhöhe und gleichberechtigter Kommunikation aufkommen zu lassen, obwohl ich wusste, dass der Zug dafür längst abgefahren und nichts mehr zu retten war.
Dass wir fast gleich alt waren freute sie, und sie vertraute mir an, dass die Krankheit ihr letzten Endes auch etwas gebracht habe. Sie sei viel offener geworden dadurch, habe gelernt besser auf sich aufzupassen, und sie habe ganz furchtbar viel online geshoppt in der Zeit Zuhause, sich also Genuss verschafft. Klar habe sie jetzt Schulden, aber Geld sei schließlich nicht alles im Leben, das Wichtigste seien doch Glück und Zufriedenheit, und so groß sei der Schuldenberg nun auch wieder nicht, dass sie sich ernsthaft Sorgen machen müsse. Irgendwie ginge es immer weiter, ich wisse doch sicher, was sie meine.
„Ja,“ sagte ich, und ehe ich weiter in dem Inventar meiner Floskeln herum kramen musste, teilt sie mir ganz unvermittelt den Termin für die Scheibentönung mit. Nächste Woche Donnerstag könne ich das Auto abholen, vorher würden sie es nicht schaffen. Den Kostenvoranschlag schicke sie mir gleich noch per Mail zu. Plötzlich hatte sie es überaus eilig das Telefonat zu beenden, und ich mutmaßte, dass ihr ihre Offenbarungen  auf einmal peinlich geworden wären.
Erschöpft und mitgenommen von soviel Einsamkeit legte ich auf.
Das Gespräch hatte Vierzig Minuten gedauert.
Kurz darauf erreichte mich der Kostenvoranschlag mit einem kurzen Begleitschreiben, dass mit „Huhu“ begann, und mit lieben Grüßen und dem Vornamen der Frau endete.