Vom Guten im Schlechten oder Ihr seid das Gegenteil von mir

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Nächtliche Fragestunde, kurz vor dem Einschlafen.
(Ich frage, der Eine antwortet)

Meinst du es gibt von allem ein Gegenteil?
Aber sicher doch.
Was wäre denn zum Beispiel das Gegenteil von Tasse.
Alles.
Wieso alles?
Alles was nicht Tasse ist, ist das Gegenteil, genauer die Negation, von Tasse.
Ja?
Ja. Denk dir die Tasse weg, dann ist alles andere noch da. Denke dir alles andere weg, was bleibt übrig?
Die Tasse.
Genau.
Und was ist das Gegenteil von mir?
Alles. Alles was nicht du ist.
Also ist das Bett das Gegenteil von mir?
Ja.
Und du auch.
Ja.
Das gefällt mir. Das gibt mir so eine große Wichtigkeit in Bezug auf alles.
Und darf ich dich noch was fragen?
Aber sicher doch.
Was ganz anderes: was denkst du, wenn du das Wort Aggression hörst? Ist Aggression was Gutes oder was Schlechtes für dich?
So denke ich nicht. Aggression ist weder gut noch schlecht. Die Aggression am D-Day, zum Beispiel, war aus meiner Sicht gut. Es gibt nichts, was einfach nur schlecht wäre.
Doch, zum Beispiel Folter. Kann Folter etwas Gutes sein?
Schwierig. Manche fanden die Folterandrohung des Polizisten gut, der herausfinden wollte, wo der Entführer den Bankierssohn versteckt hielt, um das Kind vielleicht noch retten zu können.
Ich erinnere mich. Wie ist es mit Hass? Den kann man doch gar nicht gut finden.
Die Römer sagten, dass der Hass ihrer Gegner gut sei, weil er sie blind machte. Für sie war dieser Hass etwas Gutes.
Und Ohnmacht? Kann es an Ohnmacht etwas Gutes geben? Ohnmacht ist doch immer schlecht.
Nein, ist sie nicht.
Wann ist Ohnmacht denn gut?
Zum Beispiel ist die Ohnmacht der Leute gut, die gerne in deine Wohnung ziehen würden, aber nicht rein können, weil du drin bist.
Das ist das schönste Beispiel!
Also muss man die Worte immer mal abbürsten, um sie von allen Anhaftungen zu befreien, damit man sie wieder unbefangen verwenden kann.
Genau. Da bist du nah an Wittgenstein, der davon sprach Worte zu reinigen.
Recht hat er.
Allerdings.
Gute Nacht.
Gute Nacht.

 

Bild: http://pixabay.com/de/natur-skulptur-denkmal-statue-494411/

Von Katzen lernen

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Nicht besonders neu, doch immer wieder gerne zitiert, ob seiner unumstößlichen  Wahrheiten: Robert Gernhards Gedicht über faule fabelhafte Feline.


Von einer Katze lernen
heißt siegen lernen.
Wobei siegen `locker durchkommen´ meint,
also praktisch: liegen lernen.

Sie sind ein sieghaftes Geschlecht,
diese Katzen.
Es gibt ihrer so viele wie Spatzen im Land.
Doch wer streichelt schon Spatzen?

Sie ist gar kein rätselhaftes Tier,
so eine Katze.
Sie will viel Fraß, etwas Liebe, doch meist
horcht sie an der Matratze.

Was eine einzige Katze uns lehrt,
lehren uns alle:
So viel wie möglich nehmen, ohne zu geben,
und dann ab in die Falle.

Abschied von der Mutter

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Später sitzen wir in ihrem Zimmer.
An der Wand hängt eine Fotocollage. Stationen ihres Lebens. Mit der Mutter, der Großmutter, ihren Geschwistern, dem Stiefvater. Und mit ihrem Mann. Meinem Vater. Der Hochzeitstag, auf einem Ball.
Immer schön, immer mondän, immer Diva.

Kein Bild von ihren Kindern. Nicht eines.
Es gab uns nicht in ihrem Leben, bis zum Schluss.
Eine Kinderlose. So wie ich.

Dieser Absturz in den letzten sieben Jahren. Von einer attraktiven Frau zu einer dementen Ruine in Pantoffeln (wenn sie das wüsste).
Ich sitze ihr gegenüber und schaue sie an. Ein bitterer, harter Zug spielt um ihren Mund.
Ich erinnere mich.

Ich frage sie, ob es ihr gut geht. –Nein.
Die Einrichtung ist wirklich schön. -Nein.
Dein helles Zimmer. -Nein
Das Essen? -Nein.
Deine Geschwister besuchen dich jeden Tag, das ist doch schön. -Nein
Du musstest immer so viel Nein sagen. Schweigen.

Weisst Du, dass Du Kinder hast. -Ja.
Weisst Du wer Betty ist? -Ja.
Benny? -Ja.
Kathe? -Ja.
Ich bin Kathe. Ich bin deine Tochter.

Schweigen. Sie sieht mich lange an. Ich kenne diesen Blick.

Ich bin gekommen um mich von dir zu verabschieden. Ich wollte dich noch einmal sehen, dann  lasse ich dich in Ruhe. Geht es dir gut?

Sie schaut und rollt die Zeitschrift zwischen ihren Händen zusammen. Ich denke an den Polizisten beim Kasperletheater, der dem Räuber mit dem Stock eins überbrät.

Ich wollte dir sagen, dass ich dir verziehen habe. Ich trage dir nichts nach. Es geht mir gut. Mein Leben ist schön, ich bin ein zufriedener Mensch.

Sie knirscht mit den Zähnen.
(Wer bin ich ihr verzeihen zu wollen.)
Vorsichtig greife ich nach ihrer knochigen Hand, die sie mir entwindet.
Daran ändert auch die Demenz nichts: sie verabscheut meine Spinnenfinger.
Beinahe muss ich lachen. (Ich will dir doch nichts)

Auf dem Nachttisch steht ein gerahmtes Schwarzweiss-Foto in einem breiten silbernen Rahmen. Sie, von der Seite aufgenommen, mit einem kleinen schwarzen Schleierhut, der ihr das Aussehen einer Witwe gibt. So schön und anmutig und inszeniert.

Eine Weile noch sitze ich bei ihr und schaue die Bücher im Regal hinter ihr an. Vornehmlich Bildbände. Mein Blick fällt auf eine Marilyn-Monroe-Biographie. Natürlich.
Dann sammle ich alle meine Kräfte und atme tief durch.
Es fällt mir schwer mich zu verabschieden. Nach all den Jahren.

Ich gehe jetzt, leb wohl, sage ich schließlich und lächle.
Sie dreht den Kopf zu mir hin und sieht mich mit klarem Blick an.
Alles Gute, sagt sie tonlos und schaut mir lange in die Augen.
Dann wendet sie sich ab und starrt wieder ins Nichts, in ihren Händen die zusammen gerollte Zeitschrift.
An der Zimmertür bleibe ich stehen und blicke noch einmal zurück. Im Halbprofil sehe ich ihre Nase. Meine Nase.
Sie hat mir nie verziehen, dass ich ihr so ähnlich sehe.
Sie hat dir nie verziehen, dass du krank wurdest, sagt mein Bruder später.

Vor dem Haus fotografiert eine Frau die Kirschblüten.
Die Sonne scheint, wir spazieren zum Ufer. Der Hund niest vor Freude und dreht seine Runden. Ein schöner Tag.

Ich lebe noch.

 

 

 

 

 

 

Foto: „Marilyn Monroe, The Prince and the Showgirl, 2” autorstwa Milton H. Greene – File:Marilyn Monroe, The Prince and the Showgirl, 1.jpg. Licencja Domena publiczna na podstawie Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marilyn_Monroe,_The_Prince_and_the_Showgirl,_2.jpg#/media/File:Marilyn_Monroe,_The_Prince_and_the_Showgirl,_2.jpg

Der Kukuck und der Esel

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Nach unserer Ankunft zuerst mal das Hotelzimmer umräumen.
Platz schaffen.

Mit müden Augen Lindenstraße schauen und halb abwesend staunen wer noch immer da mitspielt. Wie alt und dick selbst die ehemaligen Kinder geworden sind (Klausi Beimer).
Der Stoffwechsel.

Dann endlich ein Spaziergang mit Töle, immer am Fluss entlang.
Jeder zweite Baum trägt eine pinkfarbene Markierung.
Hinter der mittelalterlichen Stadtmauer das schallernde Frohsinnsgedudel der Frühjahrskirmes.

Zwischen 22 und 7 Uhr herrscht Nachtruhe in den Auen.

Auf dem Rückweg zum Hotel kommen wir an der Einrichtung vorbei, in der sie lebt. Ein zweistöckiger Flachbau, mitfinanziert durch die Fernsehlotterie.
Es ist noch hell, die Rolläden sind halb geschlossen.
Hinter welchem Fenster steht ihr Bett? Ist sie wach? Was denkt sie? Geht es ihr gut?
V.s Schweigen neben mir beruhigt mich.

Später, in dem hoteleigenen, rustikalen Lokal, esse ich Gnocchi mit mediterranem Gemüse. V. nimmt Gulasch mit Spätzle.
Der Mann am Nachbartisch versucht ein Gespräch über Hunde. Meine Zunge lahmt, er gibt schnell auf und tätschelt Töles Kopf.
Auf meine Bitte hin verkauft der Kellner uns ein Tetrapack H-Milch.

Müde fahren wir hoch in unser Zimmer.
Das grüne Licht im Fahrstuhl lässt mich aschgrau und alt aussehen.

In der Nacht erwache ich immer wieder von starken Rückenschmerzen.
Ich finde keine Position in der ich bequem liegen kann.
Der Hund spürt meine Nerven und leckt mir die Hand ab. Unterdessen arbeitet die Klimaanlage an der Erosion meiner Stimmbänder.

Morgens ein heiseres Telefonat: ich muss nicht da hin gehen. Ich kann jederzeit umkehren, wenn ich das möchte. Er ist bei mir. Ich hoffe, dass auch ich bei mir sein werde.

Wir kochen Espresso auf der kleinen Reiseplatte und schäumen die H-Milch auf.
Katzenwäsche, auschecken, die Taschen ins Auto werfen, den Hund in die Rabatten kacken lassen, eintüten und losgehen.
Die Sonne scheint, es ist warm, die Bäume blühen.

Die Senioren in dem kargen Garten beäugen uns mit schrägem Blick, wie kleine Vögelchen. Der Wasserlauf aus dem Baumarkt plätschert leise gegen das Rauschen der nahe gelegenen Hauptstraße an. Ein zahnloser Greis freut sich über den schnuppernden Hund. Ich lächle und grüße. Töle wedelt.

Vor der Haustür spüre ich mein Herz stolpern, mir ist schwindlig.
Zusammenreissen, atmen.

Sofort nach Betreten der Demenz-Station sehe ich sie.
Das Profil. Ihre Nase. Unverkennbar.
Sie ist es. Kein Zweifel.
24 Jahre nach meinem Rauswurf. Auf den Tag.
Meine Mutter.

In einem sperrigen Rollstuhl sitzt sie am Küchentisch, vor ihr eine Frauenzeitschrift. Verstohlen legt sie ein zusammengerolltes Stückchen Papier  zwischen zwei Seiten des Magazins und versucht anschließend, mit großer Sorgfalt, das verknitterte Heft wieder glatt zu streichen.
Ihre Hände (der Impuls über glatte Oberflächen zu streichen).

Wortlos setze ich mich neben sie und schaue sie an.
Was hat die Zeit aus ihr gemacht.

Möchten sie zu Frau X.? fragt mich eine freundliche Stimme. Ich schaue die Altenpflegerin an und nicke.
Frau X., da ist Besuch für Sie!
Sie sagt es ermunternd, doch meine Mutter blickt nur kurz auf und wendet sich dann wieder der Zeitschrift zu.
Im Hintergrund stimmen zwei Frauen mit brüchiger Stimme und spitzen Mündern „Der Kuckuck und der Esel“ an.

Ich schließe die Augen und weine.

 

 

 

Foto: https://www.flickr.com/photos/diepuppenstubensammlerin/8787662385/
CC-Lizenz: attribution, non commercial, Weitergabe unter gleichen Bedingungen

In einem Garten

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Morgen ist es soweit. Ich werde mich in den Wagen setzen, 400 km über die Autobahn nach Westen, in eine unbekannte Stadt, fahren und dort in ein kleines Hotel einchecken. Ich werde den Hund über die Wiesen am nahegelegenen Fluss toben lassen und im Vorbeigehen die Einrichtung in Augenschein nehmen.
Vielleicht ist sie im Garten – falls das Wetter es zulässt – dann könnte ich sie sehen. Würde ich sie erkennen?

Ich würde am Zaun stehen und sie beobachten, wie sie, inzwischen im Rollstuhl sitzend, in die Frühlingssonne blinzelt während kleine Blitze in ihrem Hirn von Korridor zu Korridor huschen, ein flüchtiges Schlaglicht in die verwaisten Räume ihrer Erinnerung werfen, um diese sogleich wieder in stille Dunkelheit zurück fallen zu lassen.

Ich würde tief durchatmen, meine Gefühle und Tränen, wie auch den Hund an die Leine legen und zum Haupteingang des Stiftes spazieren. Dort würde ich mich vorstellen und nach einer Bewohnerin (Insassin?) mit dem gleichen Namen fragen.

Ich würde über die hochglanzpolierten Linoleumflure mit der eigentümlichen Atmosphäre des konfessionell-geführten Heimes gehen, würde den Duft des nachmittäglichen Bohnenkaffees und des süßlichen Bienenstichs einatmen und mit jedem Meter, den ich mich der Station näherte, würde ich spüren, wie mein Herz im Hals trommelte und mein Brustkorb eng würde.

Den Diakonissen in grauer Tracht mit weißer Haube, die meinen Weg kreuzen, würde ich freundlich zunicken und dabei an Anna, die Gemeindeschwester meiner Kindheit denken, die im Mutterhaus lebte, mit dem meine Familie eng verbunden war.

Dann würde ich die Glastüre zur Dementen-Station öffnen, einen vorbei eilenden Pfleger nach ihr fragen und seiner vagen Handbewegung folgen.
Vom Aufenthaltsraum aus würde ich die große, zum Garten hin gelegene, Terrasse betreten. Von hinten würde ich versuchen unter den weißhaarigen Menschen, die dort zusammen gesunken in ihren Rollstühlen sitzen und ins Nichts schauen, meine Mutter zu finden.

Ich würde an sie herantreten und sie ganz leise und vorsichtig ansprechen.
Mama, würde ich sagen und es wäre eine Frage.

Mama?

Ganz langsam würde sie den Kopf heben und sich zu mir umdrehen.
Wir würden uns in unsere großen, braunen Augen blicken und uns nicht erkennen.

Deutsche Fotothek‎ [CC BY-SA 3.0 de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)%5D, via Wikimedia Commons

Keine Tränen

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Nachdem der Krankenwagen abgefahren ist stehe ich noch eine Weile am Fenster und halte mich mit beiden Händen an dem schmalen Vorhangschal fest, den sie genäht hat. Im Garten gegenüber zerstreut sich die Partygesellschaft. Eben noch hingen sie alle am Zaun und schauten zu, wie sie aus dem Haus getragen wurde, bleich und ohne Leben. Es gibt nichts mehr zu sehen.
Meine Mutter hatte ihren großen Auftritt.

Als ich sieben Jahre alt bin, gehen meine Eltern mit uns spazieren. Meine Mutter zeigt auf ein Haus mit Garten und einem Türmchen. Hier werden wir bald wohnen. Ich freue mich auf ein eigenes Zimmer.

Die kleine, schiefergedeckte Villa wurde 1904 fertiggestellt. Sie hat ein Türmchen, mehrere Giebel und Fachwerk in der oberen Etage. Die Fenster sind mit rosafarbenem Sandstein eingefasst, die zweistöckige Holzveranda ist mit buntem Glas versehen, im Garten steht eine Trauerbirke.
Die große Zypresse vor dem Eingang erinnert an Gutshäuser in der Toskana.
Hier leben wir.

Ich erinnere mich nicht mehr wer von uns den Brief gefunden hat.
War ich es, oder mein Bruder?
Ich weiss noch sehr genau was sie (in ihrer großen Handschrift) geschrieben hat.
Ich habe Schuld an ihrem Tod. Auf ihrem Grab sollen wir tanzen, mein Bruder und ich, und Parties feiern. Der Weg ist frei für unser Glück.
Meine Ohren dröhnen, mein Mund ist trocken.

Die Rettungssanitäter haben die leeren Tablettenblister eingesammelt und mit genommen.
Ihre kleinen schwarz-weißen Pumps stehen noch immer ordentlich neben der Badewanne.

Das Krankenhaus hat angerufen. Sie ist über den Berg. Beim Auspumpen des Magens wurden ihre Zähne lädiert. Das Elektrogerät war gut isoliert und hat keine Schäden hinterlassen.
Es war ihr ernst.

Ich kann nicht einmal weinen.

Bild: By AleXXw / Alexander Wagner (Own work) [CC BY-SA 3.0 at (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/at/deed.en)%5D, via Wikimedia Commons