Archiv für den Monat August 2013
Aufkleber
Zurück in Berlin.
Lieber wäre ich jetzt in Hattingen, Bielefeld oder Wuppertal.
Alles mir unbekannte Orte, die mir aber, aus der Ferne betrachtet, authentischer, von echtem Leben erfüllt und dennoch ruhiger erscheinen als die aufgeblasene Hauptstadt, in der so Viele, gezogen von unsichtbaren Fäden, mit verschränkten Armen und verschlossenem Blick an wichtige Orte hetzen. Einsam.
Flach wie Aufkleber. Nebeneinander, übereinander. Eindimensionale, flüchtige Botschaften.
Sender ohne Empfänger. Sender, die nicht empfangen. Vielleicht nicht einmal senden.
Berlin bedrückt mich mal wieder. Berlin strengt mich an.
Diese unglücklichen und zugleich blasierten Menschen überall.
Sowenig Herzlichkeit. Soviel Angst und Resignation.
Soviel l´art pour l´art.
Vor wenigen Tagen noch: die Feuerwehr in Sömmersdorf mit ihrer blechernen, einstimmigen Kindersirene.
Irgendwo brennt es. Der Alarm erwischt uns im durstigen Augustwald, wo wir mit den Hunden durchs knackende Unterholz streifen. Borreliosegebiet.
Von Dorf zu Dorf wird er weitergereicht wie ein Staffelholz. Schwillt an und ab. Kreist uns von mehreren Seiten ein. Ob jemand bei der Hitze mit dem Moped über die verdorrte Flur der Fränkischen Trockenplatte geschürt ist?
Wir versuchen uns zu erinnern, was wir als Schulkinder gelernt haben, wenn wir uns bei den Alarmproben an
den Händen fassen, und in Zweier-Reihen das Klassenzimmer verlassen mussten.
Damals probten wir AB und C-Alarm. ABC-Schützen, die wir waren.
Was das alles bedeutete wussten wir natürlich nicht, freuten uns aber über die Unterbrechung des Unterrichtes, der in den, früher üblichen, Holzbaracken abgehalten wurde.
Während der Pausen rauchten unsere Lehrerinnen vor den Stufen der zweizimmrigen Behelfsbauten, und wärmten sich die Hände an der flimmernd-heissen Luft, die von, in die Wand eingelassenen, vergitterten Abluftventilatoren nach außen geblasen wurde
Ans Energiesparen, oder an Wärmedämmung dachte damals noch niemand. Rauchen war kein Makel, sondern eine zeitgemäße, schichtenübergreifende Gewohnheit.
Beim Internationalen Frühschoppen schien man nichts anderes zu tun.
Hier, umgeben von Wald und Feldern, muss ich an das Bett im Kornfeld von Jürgen Drews denken, dann an Nastassja Kinski, die sich in dem Tatort Reifezeugnis mit ihrem Lehrer zum tête à tête im Wald trifft. An ihre Rolle bei Cat People. Ihre stets leicht geöffneten, vollen Lippen. Die obere dezent lefzenartig die untere überlappend. Die dauerpräsente Eitelkeit, das Kokettieren mit unbedarfter Unschuld.
Hat sie nicht auch bei Hotel New Hampshire, Susie the Bear gespielt? Eine schüchterne, unattraktive Lesbe, die wegen ihres schwachen Selbstwertgefühls in einem Bärenkostüm auftritt. Nicht besonders glaubhaft. Aber immerhin konnte sie so mit Jodie Foster, der Hauptdarstellerin, ins Bett gehen (was man ihr allerdings noch weniger abnahm). Wo kommt die Erinnerung an diese Frau plötzlich her?
Ich entsinne mich nicht mehr, wie man sich bei Erklingen der Sirenen, nach dem Verlassen des Raumes zu verhalten hatte, noch, was die unterschiedlichen Töne oder Intervalle bedeuteten.
Bei Atomalarm sollten wir, so glaube ich zumindest, im Klassenzimmer bleiben, und uns unter den Tisch kauern. Ob das stimmt? Ich weiß es wirklich nicht mehr.
Ein bisschen Angst bekommen wir nun doch. Wenn wirklich etwas Schlimmes passiert ist!
Grafenrheinfeld, das Kernkraftwerk, ist nur wenige Kilometer entfernt.
Als wir aus dem Wald heraustreten, sehen wir es in der Ferne, hinter den abgeernteten Stoppelfeldern. Die Dampfwolken über den beiden Kühltürmen steigen in den tiefblauen, hochsommerlichen Himmel auf. Eine Fata Morgana.
Was, wenn wir vergessen haben den Herd auszumachen, und die Feuerwehr deswegen anrückt? Ich weiß nicht, ob mir das nicht eine akzeptable Alternative zu einem atomaren Störfall wäre.
Den Heimweg legen wir zügig zurück. Immer wieder blicke ich rüber nach Grafenrheinfeld.
Wir würden es nicht einmal bemerken, wenn der nuclear fallout uns bis aufs Mark durchleuchtete und die Basensequenz der DNA für immer veränderte.
Ich kontrolliere, ob mein Smartphone funktioniert, und ob noch alle Dateien vorhanden sind. Müssten sie nicht durch die Strahlung vernichtet werden? Wie schnell bewegt sich eine Atomwolke eigentlich? Hätte sie uns schon erreicht?
Bloß nicht hysterisch werden.
Es ist heiß und windstill. Wie damals bei Tschernobyl.
Unzählige Schwalben tummeln sich in der Luft.
Als wir wieder bei den Freunden ankommen, erwarten sie uns bereits.
Unweit des Hauses hat die Freiwillige Feuerwehr ein schwelendes Feld gelöscht. Später am Nachmittag wird sie noch einmal anrücken und nachbessern müssen. Wir schauen ihnen dabei zu. Mehr passiert hier nicht.
Be a Punk in Franconia
Im Garten sitzen wir, so wie früher, und essen alles, was er um diese Jahreszeit hergibt.
Brombeeren, Himbeeren, sogar noch ein paar Erdbeeren. Tomaten und Ringlos. Ringlotten. Renekloden. Edelpflaumen jedenfalls. Blasse Frühäpfel gibt es auch. Klaräpfel.
Eine Hängematte zwischen zwei Bäumen verführt zum Dösen.
Die Hunde trinken aus dem kleinen Teich.
Oleander, Hibiskus, Dahlien und ein paar Rosen blühen noch. Vieles ist schon verblüht. Ich vermisse den Feigenbaum, der früher hier stand.
Vor dem gewaltigen, bemoosten Findling liegt meine erste Katze begraben. Castorp (ich las damals gerade den Zauberberg). Das kleine schwarze Getüm starb im Januar 2007 auf meinem Schoß. Gerade hatte der Tsunami Südostasien verwüstet.
Die Zeit eilt, alles geht vorbei. Aber hier habe ich das Gefühl noch einmal in den gleichen alten Bummelzug einsteigen und die vertrauten Stationen abfahren zu dürfen. Erinnerungsorte, die ich nur von hier, wo ich die Zeit auf geheimnisvolle Weise zurückdrehen kann, erreiche.
Wir haben uns im Studium kennengelernt, das wir zum größten Teil in Kneipen verbrachten. Im Sommer dann entweder in dem Häuschen am Würzburger Waldfriedhof, oder in Obbach. Das Haus der Eltern hüten. Damals gab es die Kinder noch nicht.
Der Sohn, mein Patenkind, wird im September 17. Er schaut regelmäßig Sportschau, legt Wert auf Fleisch in jeder Mahlzeit und macht gerade seinen Führerschein. Die 15-jährige Tochter ist Vegetarierin, trägt Hotpants und hat inzwischen ihren dritten Freund.
Wir verbringen diese Tage ohne die beiden.
Ausgelassen. Unbeschwert. So, als würde die lange Amazonasreise gleich beginnen, und wir wären diejenigen, die noch das große Abenteuer vor sich haben. Für diesen Augenblick fühlt es sich fast so an.
In Wahrheit rücken wir bei Beerdigungen als Nächste nach vorne in die erste Reihe, ehe wir selbst im lilien-geschmückten Sarg vor dem Altar liegen und von denen, die bald die Geschichte bestimmen, betrauert werden.
Sie sind schon hier, sie sind viele, sie sind ein Bild aus der Zukunft.
Hoffentlich nicht nur Aufkleber.
Emil
Im Kurpark von Oberstdorf langweile ich mich. Das erste Mal seit Jahren. Die Zeit steht still zwischen den gemulchten Blumenrabatten, dem Freiluftschachbrett und der Holzmuschel, die die Musiker bei den Sommerkonzerten vor Sonne und Regen schützen soll. Bei den Großeltern in Kassel, bei der Großtante in Bad Arolsen sah es nicht anders aus. Aber das ist lange her.
Heute kommt der Milchkaffee aus einem Automaten, und die Kellnerin trägt Bienenkorbfriseur, Nietengürtel und Tattoo. Sie ist der einzige Mensch in diesem Nest, der versucht cool zu sein.
Für wen?
Der Park ist kleiner als ein Wohnblock. Die Insassen auf den Bänken tragen alle die gleiche Haarfarbe: weiß. Schuhe von Lowa und Funktionskleidung. Früher sahen alte Leute anders aus.
In Zukunft werden sie gepierct und tätowiert sein. Das Silikon wird ihre Knochen überdauern.
Auf der Ostseite des Parks steht ein schmales Segment der Berliner Mauer. Berliner Mauer steht darauf. Die runde Abschlusskappe ist mit dickem dunklen Moos bewachsen.
Ein paar Meter weiter wurde 1871 eine Friedenslinde gepflanzt. Auch sie ist beschildert.
When the minutes drag
Die Zeit vergeht einfach nicht. Weder beim Auf- und Abspazieren, noch beim Eiskaffeetrinken oder bei der überteuerten Brotzeit mit Allgäuer Bergkäse. Es ist sehr heiss.
Bei Edeka kaufe ich Fleisch für die Hunde. Die Pute kann mir die Frau hinter der Theke nicht klein schneiden. Das Rind hingegen schon.
In Berlin würde ich, je nach Stimmung, eine Erklärung fordern, oder das Gesicht verziehen.
Die Langeweile hat mich so im Schraubgriff, dass ich resigniert die Tüte entgegen nehme, mich freundlich bedanke und zur Kasse gehe. Dann schneide ich es halt mit dem Leatherman klein (eigentlich Viktorinox). Auch egal.
Das Kino mit Außenterrasse gegenüber hat geschlossen. Ich schaue durch die Scheiben. Der Kühlschrank steht offen. Hier wird nichts mehr gespielt.
Dafür gibt es Freiluftkino zwischen den Oberstdorfer Sprungschanzen. Tragikomödien.
Ich werde nichts tun, was städtisch anmutet. Gar nichts.
Wir laufen die Einkaufstraße hoch und runter. Spazierstöcke, Wanderbedarf, Käse, Schnaps, Tinnef, Eiscafés.
Am Ende kaufe ich ein paar Trachtenhampelmännchen aus Holz. Gefertigt vom Bildhauermeister Alois.
Irgend ein Kind wird sich schon finden, dem ich sie schenken kann.
Für 2 Euro gibt es Holzschnarren, mit denen man, durch schnelle Drehung aus dem Handgelenk, eine sehr harte und unangenehm laute Knallkaskade erzeugen kann.
Ohrenbetäubend trifft es.
Das Patenkind ist zu groß dafür, aber immerhin Fußballfan. Wir haben ja noch ein paar Tage. Kaufe ich vielleicht später.
Auch mal Tourist sein.
Am Bahnhof sehe ich den gleichen hageren Mann mit zerrupftem Vollbart, der dort gestern schon herumschlich. Er bewegt sich sehr vorsichtig, so als würden ihm alle Knochen wehtun. Ich nicke ihm zu. Er erkennt uns an den Hunden wieder. Seine hellen Augen lächeln müde zurück.
Obdachlos zwischen Ferienwohnungen, Pensionen, Bergen, Holzhäusern, Petunien und Geranien.
Nichtsesshaft im Allgäu.
Bei Drogeriemarkt Müller kaufe ich Soventol-Gel gegen die Allergie durch das hautberuhigende Après-Sun-Produkt, das wir am Vortag hier erworben haben.
Die Haut an den Armen juckt und brennt. Überhaupt fühle ich mich nicht besonders gut.
Die Klimaanlage im Mietwagen, hat mehr geschadet als genützt. Seit Tagen schon quäle ich mich mit Nebenhöhlen und Halsschmerzen herum. Jetzt zusätzlich noch steifer Nacken, Gliederschmerzen, fiebrige Augen. Schwach.
Im Wald, auf dem Rückweg geht es besser. Die Luft ist feucht und kühl. Neben uns fließt die Stillach. Zwei Kilometer weiter vereint sie sich mit Trettach und Breitach zur Iller. Viel später mündet die Iller dann in die wunderbare Donau, die schließlich im Schwarzen Meer aufgeht.
Ihr Wasser ist eiskalt. Erfrischend. Das weisse Kiesbett leuchtet freundlich in der Sonne. Vom Rand kann man flache Steine hineinwerfen und mit etwas Geschick springen lassen.
Auf der Südseite des Gebirgsflusses führt ein Radweg entlang.
Die Rücksichtslosigkeit der Radler steht derjenigen der Berliner Rowdies in nichts nach. Mit mahlendem Unterkiefer immer voll auf die Hunde drauf halten.
(Mann, sehen die scheiße aus mit ihren glänzenden engen Hosen, dem gelgepolsterten Arsch und den rasierten Waden. Kasper. Arme Schweine. Kacknazis. Nicht ärgern.)
Kurz vor unserer Unterkunft kommen wir wieder bei dem kleinen Esel vorbei, der in einem Vorgarten unter einem Sonnenschirm steht. Mit rostiger Stimme und aufgeworfenen weichen Lippen kräht er uns herbei und kommt langsam an den Zaun getrabt. Ich kraule seinen großen Kopf und schaue ihm dabei in die schönen schwarzfeuchten Augen mit den dunklen Wimpern. Er drückt sein Maul in meine Hand, seine Lippen befühlen meine Finger. Den hellen Zähnen nach zu urteilen ist er noch jung.
Dich box ich hier auch noch raus, denke ich. Morgen komm ich wieder und ehe du in Naturdarm verpackt über den Tresen gehst, kaufe ich dich frei und bringe dich nach Brandenburg in einen Offenstall.
Das versteht er.
Ich mag Esel.
Mein erstes Plüschtier, nach dem Teddy, den der diensthabende Arzt der Frauenklinik mir zur Geburt geschenkt hatte, war auch ein Esel. Er liegt im Schrank und riecht nach Staub.
Einen Namen habe ich ihm nie gegeben.
Diesen hier nenne ich Emil.
Voilà l´été
Zweimal werden wir noch wach. Dann geht es endlich Richtung Süden.
Über Augsburg (mal wieder die sehr sehenswerte und beispielhafte älteste Sozialsiedlung der Welt, die Fuggerei besichtigen) nach Oberstdorf, zum Lago Maggiore, nach Mailand, und über den Odenwald zurück nach Berlin.
Den größten Teil der Zeit verbringen wir im schönen Allgäu.
Höhenangst bekämpfen und besiegen. Seilbahn fahren (wenn ich ganz mutig bin). Mit den Hunden an der Iller entlang, bis zu ihrem erfrischenden Ursprung, spazieren. Durch den Wald streifen, Zecken abwehren, mich gepflegt in Oberstdorf langweilen.
Ausflug nach Locarno. Auf dem Marktplatz sitzen, Espresso schlürfen, Tessiner Risotto genießen. Dem leisen Schwappen des Sees lauschen. Die Berge im Rücken.
Milano: vor allem formidabel speisen und Lebensmitel einholen.
Im Odenwald schließlich sehr gute Freunde besuchen, und über die Felder ins Nachbardorf wandern um Grillkohle zu holen. Unterwegs die letzten Beeren vom abgeernteten Johannisbeerfeld genießen.
Wird Zeit, dass ich Berlin mal für eine Weile verlasse.
Bis ich den Landkoller kriege und mich auf Lärm, Dreck und unfreundliche Menschen freue.
Prägung halt.