Achsen

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Ich bin nicht die, die gestern mit dir bei Tisch saß, nicht die, die morgen das Bett verlassen wird.

Ein langer Bambusstock steckt lotrecht im Schutznetz über der Terrasse. Der Sturm hat ihn her getragen.
Lose aufgehängt, wie ein Pendel, seismisch wippend bei leisestem Windstoß, heftig ausschlagend bei jähen Fallböen, schwebt er dort oben. Ein Equilibrium in sich selbst.

(Damals, gleich neben mir, das umstürzende Tor. Darunter begraben die Menschen, die sich zu dieser Stunde an diesem Ort für dieses Schicksal eingefunden hatten. Stumme Verabredung. Durch diesen Augenblick für immer miteinander verbunden. Körper unter Betonquadern).
Alles dient als Bild in diesen Tagen.

Der Halt den ich suche und den im Kommen und Gehen und Einatmen und Ausatmen ich finde. Unabhängig sein im ganz eigentlichen Sinne. Gespannt nur zwischen die Seile, die sich quer durch das Leben, entlang der eigenen Zeitachse ziehen.
Von unten nach oben die Ahnen.

Ist es das, was du möchtest: sich anstoßen und abstoßen, aufeinander zubewegen wie in einem Tanz. Niemals verschmelzen, in keiner Weise. Sich nicht selbst verlieren, immer nur im Anderen finden. Weiter atmen. Wachsen ohne sich auszudehnen.

Mit der Präzision und Eleganz eines Pendels und ebenso unbeirrbar vor und zurück. Die Zeit und den Raum vermessen. Mit der gleichen verlässlichen Stetigkeit durchschreiten.
Die Gewissheit, dass es immer weiter geht solange es geht und es geht immer weiter bis es aufhört.

Selbst in der Entfernung höre ich noch deinen Atem, wie er leise den Brustkorb verlässt, nachts neben mir, und den meinen aufnimmt, im ständigen Austausch und ich frage mich ob das alles ein Traum ist von dem wir erwachen um zu leben.

Kannst du mich sehen?

Der Sturm fegt über das Land, wird zur Formel für alles was geschieht. Im Schnelldurchlauf, ein Guckloch in der Zeit, die mich in sich trägt.

Vielleicht habe ich etwas verstanden. Ein Ende und ein Anfang. Nichts bleibt wie es war, nichts ist wie es scheint.

Und so fühle ich mich seltsam leer und befreit und von einer schmerzhaften Leichtigkeit emporgeworfen, doch die Schnüre zwischen uns, sie halten mich, ganz gleich wie weit du entfernt bist. Sie bleiben. Ein Leben lang und darüber hinaus.

Foto: Sue Adair, Promenade of Meols, http://www.geograph.org.uk/photo/39749

Imitation of life

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Den ganzen Sonntag am Aussortieren.
50 (doppelt und dreifach belegte) Kleiderbügel freigeräumt. Downsizen, wie C. es nennt. Staub und leider auch ein paar Motten. Waschen was das Zeug hält, Wollsachen einfrieren, dann schlüpfen sie nicht (ethische Bedenken).
Die Katzen turnen auf den Wäschebergen herum. Ludwig in Milchtritttrance.
Wieviele Meter Schrank haben Sie denn, hat der Makler gefragt, als ich überlegte wo ich was hinstellen könnte. Einige.
Natürlich gab es einen Haken. Kann ja nicht einfach mal glatt laufen. Wäre nicht das Leben.
Also bleib ich hier, ziehe nicht aus, kette mich fest. Ich will erleben, wie eine Hundertschaft gedungener Vollstrecker mich aus meiner Wohnung heraus trägt, wo ich mich in einem Tresor verbunkert habe, der nur mittels Sprengung zu öffnen ist. Die Gerichtsvollzieherin als Obdachlose verkleidet, damit der aufgebrachte Pöbel ihr den Zutritt zum Haus nicht verwehrt. Das Dröhnen der Rotorblätter am Himmel, Scharfschützen auf dem Dach des Künstlerhauses Bethanien.
Ich scherze, mir ist so.

Todmüde nach einer stürmischen Nacht.
Heute morgen kein Mobilfunksignal mehr.

This is the end of the world

(Uhren vorstellen. Wer kommt eigentlich auf sowas?)

Das Schiffshorn bläst, der Ozeanriese fräst sich turmhoch durch Straßen und Hinterhöfe. Der Sturm geht weiter. Ich setze meine Tarnkappe auf.

Bild: no attribution, non-commerrcial, Weitregabe unter gleichen Bedingungen

Behaupten

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Später komme ich unter die Kobaltbombe, sagt sie und ihre Stimme klingt stolz.
Du wirst nicht bestrahlt, sagt mein Vater.
Doch.
S
ie besteht auf Unterleibskrebs.
Senkung, flüstert er.
Ist das schlimm, Papa?
Verstohlenes Kopfschütteln.

Wissenslücken kennt sie nicht.
Eine veritable Behaupterin.
Was ist das für ein seltsamer Baum, Mama?
Eine Birkenfeige.
Draußen in der Welt lerne ich die anderen Namen (: Korkenzieherhasel).

Nach der OP liegt sie noch eine Weile auf der Gynäkologie.
Die Rolle steht ihr. Krank und tapfer. Heiter, verspielt.
An Ostern versteckt sie Eier in Zimmer und Krankenhausflur.
Ich bin 14 und schäme mich beim Suchen in Grund und Boden.
Wunderbare Mutter. Rührende Familie.

Rauchend sammle ich mich vor dem Krankenhauseingang.

Als ehemalige Kollegin packt sie schon bald im Arbeitsalltag der Schwestern mit an. Macht das Bett, reinigt und desinfiziert, erneuert ihren Verband.
Hier ein Plausch, dort ein Scherz, Sektlaune. Kleine Freundschaften entstehen.
Eine Stimmung wie im Mädchenpensionat.

Zur Entlassung kommt das Stationsteam zusammen.
Große Herzlichkeit. Besuchen Sie uns mal wieder!

Vor der Klinik gefriert ihr Lächeln. Sie zündet sich eine Zigarette an. Mit schnellen Schritten läuft sie über den Parkplatz zum Auto.

Klack klack klack

Bild: Uniklinik Frankfurt, Wikipedia, Ausschnitt

Laß es so

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Meine Gedanken segeln an einen Horizont aus Stoff.
Stille. Nichts rührt sich auf dieser Welt. Kein Lüftchen, Watte.
Das ist das Ende, der Blick in die Murmel, das Leben vor dem Leben.
Das Dazwischen, so hell.

Wo gestern es sprudelte, wo es sich drehte und wand,
Wo wir saßen, wir sprachen, auf der Bank, meine heißen Wangen, Herzklopfen,
Tränentropfen auf hellblauem Kaschmir, salzige Kristalle, Rotz. Aus tiefster Brust.
Verweilen für Stunden. Selbstgespräch. Wahn und Wahrheit. Erkennen.
Das zerrissene Tuch.

Bellende Hunde, spielende Kinder, April im März.
Heiserdunkler Falkenruf.

Nebenan eine Gitarre-  Let it be, laß es so.
Auf der Nachbarbank eine Lesende. Mein Gemurmel, bis ich sie bemerke (sowas machen immer nur die anderen).
Sie lächelt verständnisvoll. (Du hast keine Ahnung).

Später sitze ich mit B. da. Weitere Stunden. Sonne und Staub.
Paare, Gruppen, Rudel. Goldenes Abendlicht, sich neigender Tag.
Zwei Namensschwestern. Jetzt sitzen wir zu dritt.
Sitzen, besetzen, umsetzen.
Cappuccino, Berlingespräche.
Wandel, Wandel, Wandel.

4.500 der Quadratmeter.

Die Rote Insel ist inzwischen auch sehr begehrt. Wer hätte das voraus sagen können.
Man hätte es ahnen müssen.
Wir bleiben, es ist so schön hier.

Endlich

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Vulvation steht auf der ausgebleichten Holzbank am Waldrand und ich stelle mir vor, wie jemand, ein junges Mächen, im Morgengrauen, als der Frühnebel noch über dem Wasser steht, mit stummer Miene diese Botschaft in die Welt bringt.

Eine Frau Anfang 50 kommt mir entgegen. Ihre betagte Barsoi-Hündin folgt ihr mit einigem Abstand. Das breite Gestell, der schmale Kopf, arthritisch der Gang, weich und verloren der Blick. Wie ein grasendes Reh senkt sie langsam den Kopf, nimmt einen Geruch auf und spürt ihm lange nach.

Bald wird sie fünfzehn, erzählt die Frau und ich staune über diese statistische Sensation.
Gemeinsam gehen wir ein Stück des Weges Richtung Insel der Jugend.
Es ist ein angenehmes, ruhiges Gespräch, das wir führen. Beide mit großer Aufmerksamkeit einander zugewandt. Eine ungewöhnliche Sympathie und Übereinkunft ohne jede Fremdheit.
Am großen Parkplatz geben wir uns die Hand zum Abschied. Ich bin A. sagt sie. K. antworte ich. Wir schauen uns in die Augen und lächeln.
Es gibt etwas, worin wir uns ähnlich sind, das fühle ich, doch ich kann es nicht benennen.
Eine Verletzbarkeit vielleicht, die vorsichtige Neugierde, das große Interesse an Menschen und am Leben, Vertrauen. Die Ehrfurcht vor dem Sein und vor dem Vergehen.

Vielleicht treffen wir uns mal wieder, sagt A. zum Abschied, wir sind oft hier.
Ja, das wäre schön.

Die blinde Hündin steht und schaut ins Nichts, als ich mit Töle weiterziehe.

Später suche ich im Netz nach einer alten Radierung, die ich in meiner Kindheit sah, darauf eine Frau und ein Barsoi. Doch ich finde sie nicht.
Ein Spaziergang mit meinen Eltern auf dem Lohrberg kommt mir in den Sinn. Ich, an der Hand meines Vaters, der Himmel grau, kalter Frühlingsregen sprüht mir ins Gesicht, mich fröstelt. Eine riesige, bauchige Flasche liegt im Gestrüpp. Darin eine Maus, halb skelettiert schon.
So winzig, so tot, so allein.

Heute ist der Geburtstag meiner Mutter. Sie weiß nichts  davon.
Ein Anruf. Jemand ist völlig unerwartet gestorben. Alles andere wird unwichtig.

Foto: „Grosser Stein Altentreptow Suedwest“ von Erell – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Grosser_Stein_Altentreptow_Suedwest.jpg#/media/File:Grosser_Stein_Altentreptow_Suedwest.jpg

Ahnung (*txt.)

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Am Morgen das wurmzerfressene Gehäuse im Aschenbecher.

Eine Fährte im Halbdunkel. Umriss, Bewegung. Latissimus.

Schwarze Nacht, loderndes Osterfeuer. Fremde Arme, Herdengeruch.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung. Warm, kühl, nasal.

Wer bist du?

 

 

 

 

 

(Dieser Beitrag ist Teil dieses Projektes, Stichwort Bild)

Bild: Lovis Corinth [Public domain], via Wikimedia Commons

Rot und weiß

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Rot bin ich im Gesicht die Sonne.
Rot ist meine Bluse das Blut das mir ins Gesicht schießt von der Sonne.
Die kleine Laterne an der Hauswand. Irgendwo in Neukölln in einem anderen Leben.
Im Biergarten. Mir ist schlecht. Zum ersten Mal seit 7 Jahren esse ich Fleisch. Schweinenackensteak. Und ich rauche. Nach 3 Jahren wieder.
Mein Bruder und seine Frau streiten sich indem sie meinem Freund Komplimente macht und mit ihm anstößt.
Mit meinem Bruder stößt sie nicht an.

Eres una persona muy amable.
Bin ich komisch, bin ich eifersüchtig? Krankhaft? Ist das komisch? Kommt mir komisch vor.
Mir auch.

Das letzte Mal hat sie sich einem Anderen auf den Schoß gesetzt. Rittlings.

Stell dich nicht so an, du bist krankhaft eifersüchtig.

Inzwischen schläft sie mit meinem Exfreund, wie auch mit ihren Exfreunden und deren Freunden und den Exfreunden meines Bruders.

Geht mich das etwas an? Sie sind längst geschieden.
Wie ein Gorillababy sieht sie aus, hat er gesagt, ehe sie aus Mexiko nach Karlshorst kam. Im Garten mit der eingegrabenen Yuccapalme.
Wie soll die den Winter überstehen?
Die grabe ich wieder aus.
Das geht nicht.
Achso.

Die Parties dort. Jeder mit einer mitgebrachten Latina an der Hand.
Kennen wir uns nicht aus Quito?
Nein, ich glaube aus San José.
Schönen Ohrring hast du da. Woher?
Danke
, sage ich, den habe ich in Santa Monica, in Kalifornien gekauft.
Ah, man kommt rum! Nordamerika, Gringos.

A. schmult mir in den Auschnitt.
Mach mal: Patricia Hearst darf alles.
Guck, ich kann einen viereckigen Mund.

Genau so!

Später schenkt er mir das Foto auf eine Tasse gedruckt. Gesicht und Brüste von oben.
An den Schläfen 3 graue Haare.
Grauchen, sagt er zu mir, Eselchen.

Dabei wartet das Grauchen Zuhause, zusammengerollt. Fast 16 Jahre haben wir zusammen verbracht.
Mit ihm nur sieben.
Solange rauche ich bald nicht mehr.
Vielleicht ziehe ich woanders hin.
Vielleicht wird sowieso alles ganz anders. Von innen nach außen und von außen nach innen.
Während der Sonnenfinsternis sitzt die Katze draußen und schaut ins Licht, das Schwindende.

1999 schwiegen die Vögel im Garten in Schnellmannskreuth und Schinken und Haxe wälzten sich im Lehm.
Jede Menge dürre Katzen. Krank und struppig. Die Mutter rettet sie alle, sagt das Mädchen. Aber die Mutter ist nicht da und das Mädchen ist 17 und trägt ein weißes Kleid und will Schauspielerin werden. So herzerfrischend ist sie und so echt.

Bild: „Clothes line“ von w:User:Evil Monkey – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY 2.5 über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Clothes_line.JPG#/media/File:Clothes_line.JPG

Postfaschistische Hure, oder Die vergletscherten Flanken des Pik Schokalskowo

liftarn-Dark-haired-woman-with-bangsKennen Sie sich aus mit Postfaschismus?, fragt die Frau, als sie von hinten an uns herantritt und legt dabei eine Hand auf M.s Schulter.
Sie spricht mit einem weichen Akzent, den ich nicht einordnen kann. Eine Französin vielleicht?
Nein, sagt M. freundlich und ich staune wie entspannt sie bleibt.
Nein? die Stimme hat jetzt mehr Nachdruck und auch der Griff wird fester.
Sie kennen sich nicht aus mit Postfaschismus?
Am Ende des Satzes schreit sie beinahe und die Stimme droht ins Hysterisch-Schrille zu kippen. Wortlos dreht M. ihre Schulter aus der Umklammerung und wir gehen weiter ohne uns umzudrehen. Die Frau lässt nicht locker. Keifend  läuft sie uns, inzwischen mit sich überschlagender Stimme, hinterher, und ich glaube ein leichtes Zittern darin zu hören,  als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie wild gestikulierend mit den Armen herum fuchtelt.

Sie kennen sich nicht aus?  Sie kennen sich nicht aus? Nein? Sie postfaschistische Hure! Sie Hure! Sie instrumentalisieren Andere! Das machen Sie!
Sie postfaschistische Hure!

Schweigend gehen M. und ich weiter und lassen die erzürnte Frau hinter uns am Boule-Platz zurück.

Ein Frühlingstag in Kreuzberg.

Foto:<a href=“https://openclipart.org/detail/16044/Dark haired woman with bangs“><img src=“https://openclipart.org/download/16044/liftarn-Dark-haired-woman-with-bangs.svg&#8220; /></a>