Die Gekrönten

Über Corona und die Angst davor wird schon viel zuviel geschrieben. Angesichts meiner desolaten Lungensituation teile ich sie und bin so gut wie möglich vorbereitet.

Es sind andere Dinge, die mir akut den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohen.
Unterstützung kommt von der Schwester, dem Bekannten und dem Unterfranken. Auch die Freundinnen und die Cousinen stehen an meiner Seite. Es wird mir nicht viel nützen, aber emotional stärkt es mich und das lässt mich alles etwas leichter aushalten.
Wenn endlich einmal Ruhe wäre in meinem Leben.

 

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Die Tante schickt mir die Abschrift eines ursprünglich in Sütterlin verfassten Briefes eines Verwandten aus dem 19. Jahrhundert.
Er ist so traurig und so rührend und passt zu meiner Stimmung, dass ich ihn gerne mit meinen Leserinnen teilen möchte:

 

Meine inniggeliebten Eltern,

so muss ich denn endlich nach viel vergeblichem Harren und Hoffen von einer Morgenwache zur andern Euch die Todesbotschaft schreiben, die uns allen fast das Herz abbricht. Unser suesses herziges Heinechen, der Sonnenschein unseres Hauses ,ist heimgegangen, und wir koennen ja nach den letzten schrecklich schweren Tagen, in denen das suesse Kind so hilflos dalag, nur danken, dass es endlich hindurchgedrungen und daheim sein darf, wo es kein Leiden und kein Geschrei gibt, und der Tod nicht mehr sein wird ewiglich!
Noch gestern abend flackerte die Hoffnung auf. Der schwere Krampfanfall des vorhergehenden Tages hatte sich nicht wiederholt, und es nahm noch etwas zu sich. Aber mit der Mitternacht kamen wieder die brennenden Fieber, die Stirn und Wangen so gluehend heiss machten, dass nach wenig Minuten ein kalter Umschlag wieder warm wurde. So ging es bis 5 Minuten vor fuenf Uhr heute frueh. Die Angst nahm immer zu und wir konnten doch gar nicht mehr helfen.
Ach, was haette ich drum gegeben, haette ich das fliehende Leben aufhalten koennen. Aber der Herr wollte es anders. Er hatte das liebe Kind doch noch lieber als wir. Er schenke uns nur, dass wir voellig glauben koennen und stille werden, dass wir Weihnachten im heiligen Geist feiern koennen mit unseren zwei Himmelskindern droben im Licht, aber es ist so schwer, solch ein dunkles Weinachtsfest hier unten! Meine liebe herrliche Anna ist- und das ist ja in aller Truebsal eine Gnade – still und gefasst! sie konnte ja nicht mit uns am Sterbebettchen stehen, aber sie hoerte ja doch im Bett in der Nebenstube mit, was vorging und hat das letzte Seufzen ihres Kindes doch noch mit angehoert.
– Heute frueh sind wir stiller. Die vielen Beweise theilnehmender Liebe thun ja auch so wohl und namentlich ist uns Mama ein so grosser Segen. Auch die andern sind so lieb. Allette ist so tief mitbewegt und Frau Clemens, die treue Pflegerin, war bis zum letzten Atemzug da. Heinechen liegt so still und friedlich, wie einst Gottliebchen. Trotz aller Schmerzen doch kein Schmerzenzug, nur bleich und kalt.
– Heute frueh habe ich mit Mellner und Martin Geburt und Sterben zugleich angemeldet.
Wir haben dem Toechterchen die Namen Anna Wilhelmine Caroline Marie ausgesucht und werden ihr von diesen wohl den letzten geben. Waren’s doch bittere Tage, in denen der Herr sie uns geschenkt, aber durch eine Truebsal muessen wir ins Reich Gottes eingehen und Maria heisst ja auch “ die Erhoehte”. Dazu die Namen der Mama und der lieben beiden Grossmamas, die ihr im Leben am naechsten stehen. Den lieben Weidenhaeusern bitte ich natuerlich gleich die Trauerbotschaft mitzutheilen.

Mama will morgen schreiben und laesst mit uns herzlichst gruessen. Ob Joseph morgen oder erst nach der Beerdigung, die wir auf Montag Nachmittag oder Dienstag frueh bestimmt haben ,kommt,weiss ich noch nicht.

Ich rede ihm sehr zu,morgen zu reisen,damit er Euch erzaehlen kann und doch rechtzeitig vor dem Fest noch da ist und nicht mit seinen betruebten Erzaehlungen so gerade in Eure Festfreude kommt.

Aber der treue Junge will wohl lieber hierbleiben und mit trauern.
– An Schwester Sophie habe ich zum Geburtstag geschrieben, nun werdet Ihr es ja sagen, wenn sie zum Fest kommt. Dagegen werde ich heute noch nach Arolsen und Rotenburg schreiben.

– Die Tauben und die Rebhuehnchen kamen gestern noch an, doch hat Heinerchen nichts mehr davon bekommen. Herzlichen Dank dafuer, liebstes Mutterchen!

Gedenket unser Alle vor unserem Gott. Wir beduerfen so der Fuerbitte. Anna gruesst Euch und die lieben in Weidenhausen sehr innig.

Euer tief betruebter Reinhard,

Duesseldorf, 21.Dec. 1867 mittags, 3/4 3 Uhr

 

PS. Mama wollte noch einen Gruss zufuegen. Eben ist aber Frau Conrad gekommen. Sie will unserem Reinerchen sein Sterbekleidchen anziehen, der wollte sie helfen.

Unseren Freunden, und Verwandten teilt mit, was uns betroffen.

( der Name des Kindes ist ganz schwer zu entziffern).

 

 

 

 

 

Bild: cc/ gemeinfrei

 

 

paarweise

 

Vieles kommt bei mir doppelt vor und damit meine ich nicht einfach nur Augen, Ohren, Lungen, Brüste und Nieren.
Zwei Zimmer und zwei Betten habe ich, zwei Katzen, zwei Telefone- sowohl mobil als auch Festnetz – zwei Freunde, zwei Krankheiten, zwei Geschwister, zwei Balken am K.
Bei den angeborenen und mitgegebenen Gaben mag ein höherer Plan zugrundeliegen, mein Privatleitfaden heisst: hamstern versus Mangel und Verlust.
Dem Hamstern entgegen steht indes mein Wunsch nach Askese und Schlichtheit und glaubte ich an die Wirkkraft planetarer Konstellationen (wie an dem Tag der mich der Welt verliehen die Sonne stand zum Gruße der Planeten) so vermeldete ich jetzt: Steinbock Aszendent Löwe, das erklärt ja wohl alles.

Mit zwei Wärmflaschen gehe ich am Abend zu Bett und die Zeiten als ich mit zwei Männern oder zwei Frauen das Lager teilte, waren nicht die schlechtesten in meinem Leben.

Zwei Hände tippen sich über die Tastatur, zwei Füße tragen durchs Leben. Zwei Pobacken polstern den Steiß. Zwei Ärztinnen begleiten mich durch die Täler meiner Gesundheit und salben meine Brust mit Vaporub. Zwei Eltern schenkten mir das Leben. Zwei Siebträgermaschinen veredeln meinen Alltag.
Zwei Fahrräder dienen sich gegenseitig als Ersatzteillager.

Ein Tuch trocknet zwei Hände, behauptete das Schild im Waschraum einer der beiden Unis an denen ich studiert habe. Doch es irrte: allein zwei Tücher vermochten das zu schaffen, was dem einen zugetraut bzw. aufgebürdet worden war.

 

Wenn ich mich frage wo meine Zeit geblieben ist, stelle ich fest, dass ich annähernd die Hälfte meiner Tage mit dem Management und dem Bewältigen von Krankheit verbringe. Den eigenen oder denen der Tiere. Zwei malade Katzen und ein tumoröser Hund sind es inzwischen. Zwei Mal täglich müssen Tabletten und Spritzen gegeben werden. Fruh und spat. Kein Ausschlafen niemals.
Am Wochenende mit mozzarellaartigem Teigkopfschmerz und backsteinschwerer Atemnot jedoch eilen gleich zwei Freundinnen mir freundlich zur Hilfe. Zwei ganze Stunden darf ich länger im Bett verweilen während sie plaudernd und lachend den Haushalt schmeißen und die Tiere versorgen. Nach zwei stärkenden Cappuccini und mit nachlassendem Schädeldruck verbringe ich den frühlingshaften Samstagnachmittag mit den beiden Engeln im sonnendurchfluteten  Kiez.

Vor dem kleinen Laden am Erkelenzdamm (Erpel/Ferkel/Erkel) steht der achtjährige Mojo mit einem Hüpfseil und lässt mich, während eines schnellen (doppelten) Espressos, mitzählen. Hundert Sprünge sind sein erklärtes Ziel, doch kurz vor der 50 rutscht seine Hose und wir fangen von vorne an. Nach der vierten oder fünften Runde geht mir der Atem aus, das Stummfilmflackern im Augenwinkel kündigt den Kreislaufabsturz an, mir ist übel und schwindlig und fahl zumute. Fünf Minuten Pause und die Wirkung der stets griffbereiten Notfalltropfen bringen das Leben in meinen Körper und die Farbe in die Lippen zurück, wir tun als ob nichts geschehen wäre und ziehen weiter Richtung Süden.

Am Beginenhaus steht eine zahnlose, zerlumpte Frau lamentierend auf dem Gehweg und beschwert sich über wild urinierende Typen. Wir nicken und eilen davon, ehe ein Gespräch über die Schlechtigkeit und das Elend der Welt sich entwickeln und kein gutes Ende mehr finden kann. Tschüss, ruft sie uns hinterher und ich winke.

Am Urbanhafen drängeln Dutzende Schwäne sich an die Ufermauer und betteln um Futter. Radfahrer, Hunde und Paare tummeln sich auf der Promenade. In den Platanen gurren  Ringeltäubchen, Spatzen zetern, hier und da hüpft eine Krähe über den Weg.

Auf der anderen Uferseite sitzen die Frühstückerinnen in Decken eingewickelt vor dem Café Ahorn. Ein ausrangierter Spielteppich mit Straßenkreuzungsmotiv liegt neben einem Schuttcontainer. Das glänzende Messingtableau am Hauseingang lässt die neuen Eigentumsverhältnisse erahnen.

Ein Stück weiter, am Urbanklinikum, entdecke ich ein mir noch unbekanntes K zwischen den Pflastersteinen und mache ein Foto davon. Mit müdem Blick schauen die Raucher vor dem Haupteingang mir zu. Links und rechts weisen zwei große Schilder auf das strenge Rauchverbot in diesem Bereich hin.
Dit is Balin, würde der Bekannte jetzt vermutlich sagen, doch der ist Zuhause geblieben bei seinen Büchern und seiner Stille und seinem Nachmittagsschlaf.