ültje

Manchmal, in besonders intensiven oder eindrücklichen Momenten, beispielsweise beim Überqueren des Kottis in seiner niederschmetternden Tristesse und dem unentrinnbaren betongrauen Siechtum, frage ich mich, im Fluss des Seins, ob dieser Tag, dieses Geschehen oder Nicht- bzw. Ungeschehen es in das Archiv meines Langzeitspeichers schaffen werden.
Und dann denke ich an diesen einen, inhaltsleeren, gänzlich bedeutungslosen, unwirklichen und zugleich hyperrealen Augenblick, als ich am Rubihorn hinter einer Holzhütte stehe – jemand läuft an mir vorbei, ich höre das Knirschen der Sohlen, drehe mich nicht um – und die Gegenwart so greifbar und gegenständlich und hell und beinahe reliefartig vor mir, in mir, und um mich herum steht, ohne dass irgendetwas geschieht oder ist oder sich auch nur in meinem leeren Kopf bewegt, oder mich in irgendeiner Weise berührt, außer im Nachhinein betrachtet oder vermutet.
Dieses Nackte, Ungeschönte, hyperplastisch und pornoartig wie eine Packung vakuumverpackter Erdnusskerne.
Das graubraun verwitterte Holz der Hütte, das schroffe Gestein, der diesige Himmel und die temperaturlose Luft. Die tönerne, unbeschreibliche Fremdheit.

Weder war ich erschöpft oder angestrengt, noch verzückt in diesem Moment vollkommener Gleichgültigkeit und überklarer Wachheit. Nichts rührte sich in mir. Doch ausgerechnet oder gerade die Abwesenheit jedes erinnerbaren Gefühls oder Spektakels wurde zu einer meiner intensivsten und zugleich nichtssagensten, auf eine Art ödesten Erinnerungen, die ihre Kraft und Intensität allein aus dem Unmittelbaren, dem Unvermittelten zu schöpfen scheint.

Ähnlich nachhallend, wenn auch nachvollziehbarer, meine Erinnerung an jenen sonnigen Wintertag im Kindergarten: Ich stehe vor einem langgezogenen Bungalow, im Hintergrund die blaue Linie des Taunus, schaue den anderen Kindern beim Buddeln zu, schließe meine Augen ein wenig und blinzele, die Wange in den Kaninchenfellkragen meines Mäntelchens geschmiegt, in die Sonne, deren Strahlen sich bunt in meinen Wimpern brechen. Neben mir stehen rauchend und plaudernd die Erzieherinnen. Ich höre ihre Stimmen, aber nicht ihre Worte.

Ein Igel ein Igel! ruft es plötzlich aus dem Sandkasten. Die Erzieherinnen eilen davon. Ich öffne die Augen und blicke ihnen hinterher.

Sechzehn Grad Mitte Februar. Das Kätzlein gurrt und räkelt sich in der Morgensonne.
Ich brauche dringend einen Nistkatzen für Spatzen, aufzuhängen Ost-Südost.

Zeitfenster

Der ÖPNV streikt und für 3 ganze Tage bist du eingeschlossen auf deiner Insel.
Eine Runde um den Teich möchtest du drehen, oder zwei, sagst du am Telefon und ich mag den Gedanken, dass während du in der ersonnenen Naturidylle und in der Stille des wachsgrauen Wasserspiegels deine Gedanken spazieren trägst und über die Welt sinnierst, ich zur selben Zeit in der lärmigen, tristen und tröstlichen Geborgenheit meines Schüttelglases umherstreife, die beiden Hunde an meiner Seite, und unterwegs wieder an der kleinen Untertasse vorbei komme, die seit ein paar Tagen in der Nachbarschaft auf einem schmalen Streifen zwischen Rinnstein und Verteilerkasten steht.
Gestern noch unversehrt, entdecke ich heute einen kleinen Abplatzer an ihrem äußeren Rand und halte inne. Für einen kurzen Moment überlege ich, die Tasse aufzusammeln und in mein sicheres Zuhause zu tragen, wie damals meine Großmutter, als sie ihre handbemalten Puppentellerchen mit in den Schutzbunker nahm, um sie vor den Bombenangriffen zu retten und einer friedlichen Zukunft entgegen zu führen. Die neutrale Beobachterin, die Dokumentarfilmerin in mir, gewinnt die Oberhand. Ich überlasse die Untertasse ihrem Schicksal und gehe (von Skrupeln geplagt) weiter.
Vor der Haustür, ich fische gerade die Schlüssel aus meiner Tasche, erreicht mich der Anruf der Tierklinik. Die Befunde sind da. Es sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Die hohen Kalziumwerte bestätigen die schlimmsten Befürchtungen: der Tumor ist zurück und hat metastasiert.
Sechs Monate beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung. Drei davon sind vergangen.

Erwartungsvoll schaut der kleine Besuchshund mich an. Ich stecke den Schlüssel in die Tasche, drehe auf der Stelle um, und eile, die Hunde im Gefolge, zurück zu dem Verteilerkasten.

Festkörperforschung

Ö-Worte: Körper, Mörser, Öffnung Öl.
Ü-Worte. Überfluß, Mühsal, Ürgendwo.
Ä-Worte: Ärger, ängstlich, Äpfel (rätoro-manisch)


Meine Sättigung ist im Keller: 83 % (geht noch schlechter). Kopfschmerzen, Benommenheit usw.
Der Anwalt ruft an. Das Haus muss verkauft werden.
Ich höre den Bach plätschern, doch ich sehe ihn nicht.

So far: Schneeglöcken, Krokusse, Winterlinge und erste Blättchen am kahlen Strauch.

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vor 2 Jahren gingen wir zur Impfung. Am nächsten Tag wurde sie überrollt von einer brachialen Energie. Bald darauf fingen die marternden Kopfschmerzen an, es folgten Gesichtsschwellungen, dann der Klinikaufenthalt. Medikamente, die die überschießende und endlose Immunreaktion nur mühsam im Zaum halten. Granulome im Schädel, hinter dem Auge. Schwäche, Fatigue, Arbeitsunfähigkeit und jetzt der Rentenantrag.

Wir treffen uns, essen Kuchen und reden über´s chronisch(e) Kranksein.
Ich bin die alte Häsin und wen es erwischt, der kommt zu mir und lässt sich Mut zusprechen:
Alles halb so wild. Es ist ein Prozess. Es lässt sich gut leben damit.
und andere Durchhalteparolen und Halbwahrheiten mehr.

In Wirklichkeit (hihi) ist und bleibt es natürlich ein Elend, krank und abhängig zu sein von Kostenträgern und deren Ermessen. Geschwiegen sei außerdem von den Schmerzen, den Ängsten und der Trauer um die eigene Unversehrtheit.

Wir essen also Kuchen, stöhnen genüßlich dazu und versichern einander, dass wir uns gerne haben und uns bald wieder sehen werden. Als sie gegangen ist, esse ich noch mehr Kuchen (Kirschstreusel) um die hohlen Kummerwangen aufzufüllen.

Rinde

Verlässlich und beinahe wohltuend die Sammlung ausrangierter Körperpflegeprodukte vor dem Haus gegenüber. Täglich entsorgen die Bewohner*innen ihren Unrat über die wintertrüben Fenster: Zahnbürsten, Bodylotionflaschen, Rasierschaum und dergleichen mehr.

Schön auch die silbrige Rinde des unscheinbaren Gestrüpps auf dem Nachbargrundstück. Zu sehen nur im gebückten Zustand, auf der Suche nach meinem ertaubten und annähernd erblindeten Tölchen, das ich inzwischen mit einem Tracker bestückt habe.


Die blau gekleideten Männer und Frauen vom Gartentrupp der degewo stehen beieinander und rauchen.
Ehe und nachdem ich an ihnen vorbei gegangen bin, lachen sie berlinerisch.

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So, wie Madonna sich über die Jahre eine Stimme ersungen hat, erschreiben sich manche auf beeindruckende Weise einen Stil.
Die wunderbare Meli Kiyak, schon immer und aus sich heraus großartig, hat der wochentaz ein Interview gegeben. Ich lese ihre Gedanken zum Sterben mit Bewunderung und Genuss.

Ansonsten fließt die Zeit zäh und schnell zugleich. Die Scholle meines Vaters ist längst verschwunden. Ich sehe das preisgekrönte Foto eines schlafenden Eisbären und überlege ergebnislos welchem Tier der Kanzler am meisten geähnelt haben könnte.

An seinem Geburtstag will ich nach Frankfurt fahren. Sein Grab besuchen, Abschied vom Haus nehmen und die Freundin in Würzburg treffen, zum gemeinsamen Kiezspaziergang.
Alles ist Bewältigung und der Versuch eines Neuanfangs, für die Jahre die bleiben.


Kitt

Statt der erwarteten Paketbenachrichtigung ein dicker Brief. Darin, neben einem Anschreiben des Amtsgerichts Frankfurt, das Testament meines Vaters.
Seine Handschrift. Der letzte Wille. Ich verliere die Fassung.

Später bitte ich die Freundin, alles zu scannen und an den Bekannten zu mailen.
Noch später, ich habe starke Kopfschmerzen, meine Hände und Beine sind kalt und taub, die Sauerstoffsättigung schlecht, telefonieren wir. Er sagt mir was im Testament steht und was jetzt zu tun ist. Auch er hat geweint. Seine Stimme beruhigt mich.

Danach ein kurzes Gespräch mit der wortkargen Schwester.
Ein schnelles Update über Formalitäten, dann legen wir mit einem „Bis irgendwann“ auf.


Unser Vater war der Kitt, der uns miteinander verband und zugleich voneinander trennte.

8 Wochen sind es heute.

Um das Unglück und die tiefe Trauer abstreifen oder mindestens eindämmen zu können, muss ich an die Orte zurückkehren, an denen das Fieber und die Angst mich an den Haken genommen haben und wo im Hintergrund, wie ein Geist, wie der knochen- und gestaltlose Geist der er jetzt ist, schweigend der Kanzler waltete. Die letzten Monate seines Lebens, der ungeplante Abschied von seinem Haus, seinem Bett, seiner Freiheit, der Fall ins Bodenlose, der Verlust der Autonomie, der Mobilität, des Gedächtnisses und seines perlenden Geistes und Witzes. Ich versuche, meine Gedanken mit anderen, mit schönen, Erinnerungen zu füllen, und immer ist es dasselbe Bild: der Kanzler an der Stadtmauer von St. Malo, pechschwarzes Haar, dunkle Sonnenbrille und das immerschwarze Hemd, das als erstes auftaucht. Im Herbst im Krankenhaus der Fotokalender auf seinem Tisch. Bilder aus seinem anderen, mir unbekannten Leben: der Kanzler mit dem Nennenkel im Auto, das Kind lächelnd hinter dem Lenkrad; mit der verstorbenen G., an der Seite seiner Gefährtin, Wange an Wange. Ein nie zuvor gesehener Stolz und ein Glück in seinem Gesicht. Lizzy und Gene nannten sie einander und luden sich gegenseitig zu hausgemachten Margaritas ein. Ich denke an die Kalifornien-Reise mit dem B., seine nach Fuchs riechende Brustbehaarung, unser Margarita-Abend mit Bill und den Pelikanen und B.s spritzendes Nasenbluten in der Nacht. Am Morgen darauf mit dem Mietwagen auf der Interstate Richtung Los Angeles, auf der rechten Spur stop and go, langsamer Fluss auf der carpool lane. Hotdog with onions, jubiliert der Mann im Radio, B bremst scharf, reisst die Fahrertür auf und erbricht sich schwallartig auf den Seitenstreifen. Am Flughafen angekommen darf B. seine in Nevada erworbene Doppelaxt nicht mit an Bord nehmen. Später, zurück in Frankfurt, erscheinen mir die Autospuren schmal wie Schienen. In Fechenheim grast Schimmelstute Jenny auf den Grasnarben der Straßenbahnhaltestelle. Ich schlafe beinahe 24 Stunden und rufe dann den Arzt in Würzburg, Prof. Dr. T. an, den Dr. Miller aus San Francisco mir empfohlen hat. Drei Monate später und einen Tag nach meinem Geburtstag liege ich in einem Zimmer im Nordflügel der Würzburger Neurologie. Jeden Mittwoch kommt mein Vater mich besuchen. Am Mittwoch den 15. Mai, zwei Tage vor seinem schweren Infarkt, bedanke ich mich bei ihm für all das Gute, das er mir in meinem Leben getan hat.