Kurze Beine

Ab dem 3. Lebensjahr ist der Mensch in der Lage die Perspektive zu wechseln und sich in andere Personen hinein versetzen zu können. Die Grundvoraussetzung für Empathie.

Ein Kind hört auf, sich die Augen zuzuhalten und einfach „Wo bin ich?“ zu krakeelen.
Es versteht, dass es von anderen gesehen werden kann, auch wenn es selbst gerade nichts sieht.
Ab dieser Entwicklungsstufe können Kinder lernen zu teilen.
Der Hunger anderer wird vorstellbar, auch wenn man selbst gerade satt ist.
Mit dem Perspektivenwechsel beginnt auch die Fähigkeit zu betrügen. Zu schwindeln, mogeln, hintergehen.
Wer den Schritt vom Objekt zum Subjekt (also vom Ich zum Du) gemacht hat, kann anfangen an seiner Karriere als Trickbetrüger zu arbeiten.
Man muss sich einfach nur vorstellen, welcher Lüge das Gegenüber am ehesten Glauben schenken wird, und dann entsprechend handeln. Hier greifen Erziehungsberechtigte gerne ein, indem sie die Goldene Regel als ethischen Minimalkonsens postulieren:

Was du nicht willst, das man dir tu, dass füg auch keinem anderen zu!“

Heute erweist sich der Grundsatz der wechselseitigen Rücksichtnahme als „ein anachronistischer Imperativ, der früher das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften regeln sollte, im Zuge der Industrialisierung und Individualisierung der Menschheit aber zunehmend an Bedeutung verlor, da er die ungehemmte Ausbreitung des menschlichen Egos behinderte und das Recht des Stärkeren untergrub. Besonders in der kapitalistischen Marktwirtschaft wurde dieser Leitsatz schon sehr früh ausgehebelt, da er die Expansion und Rationalisierung internationaler Großkonzerne behinderte.“ (Uncyclopedia)

Um 5.30 h, am heutigen Morgen, begann, geschützt von 250 Polizisten, der Teilabriss der East Side Gallery.

Zu diesem Zeitpunkt war nicht mit Widerstand durch die Schützer des Denkmals zu rechnen, denn niemand konnte ahnen, dass dies heute geschehen würde, nachdem 3/4 der Berliner Bevölkerung gegen die Bebauung des ehemaligen Todesstreifens sind, und Investoren, wie auch Politik sich gestern verhandlungswillig gaben. Man wägte sich in Sicherheit. Der geplante Abriss, zugunsten eines Hochhauses mit Luxusappartements, schien abwendbar.

Wie war das?

Man muss sich einfach nur vorstellen, welcher Lüge das Gegenüber am ehesten Glauben schenken wird, und dann entsprechend handeln.

Danke, dass wir über die East Side Gallery gesprochen haben, Herr Wowereit!

Gut zu Vögeln

Der Winter will nicht enden. Seit mehr als 4 Monaten füttere ich nun schon täglich die Vögel.
Der Andrang am Vogelhäuschen und dem Futterspender hat sich in den letzten zwei Wochen annähernd verdoppelt. Wahrscheinlich, weil den Nachbarn, in der berechtigten Erwartung des Frühlings, das Futter ausgegangen ist. Anfang des Monats hatte ich noch soviel übrig, dass ich mir, nach den ersten warmen Tagen, bereits überlegte, was ich damit machen sollte.
Wie letztes Jahr dem Kinderbauernhof schenken, damit nicht, wie im vorletzten Jahr, die Mäuse im Keller darüber herfallen, worüber sich dann wieder der Vermieter beschwert?
In den Keller hatte ich die Kerne nur deshalb gebracht, weil ein Jahr zuvor an einem schönen Sommerabend, Hunderte kleiner Käfer plötzlich aus der Futtertonne gekrochen waren und durch die ganze Wohnung krabbelten. Mit dem Besen mussten wir die schwarzen Tierchen von der Wand fegen, um sie dann aufzusaugen, was meinem Karma erheblichen Schaden zugefügt hat und mich dereinst wahrscheinlich als Käfer in einem Spatzenmagen enden lässt.

Kröten sitzen gern vor Mauern,
wo sie auf die Falter lauern.
Falter sitzen gern auf Wänden,
wo sie dann in Kröten enden.

Nein, dieses Jahr läuft das besser. Das Futter geht, dank des erneuten Wintereinbruchs, weg wie geschnitten Brot, so dass ich vorgestern, nach der Lektüre eines Artikels über die, vom Polarmeer zu uns strömende Kaltluft (nordatlantische Oszillation), missmutig zum Baumarkt trottete, um Nachschub für Spatz, Meise und Rotkehlchen zu besorgen.
Bei Hellweg waren alle Futtereimer und -säcke ausverkauft, und selbst die viel teureren, losen Sonnenblumenkerne gab es nicht mehr. Mithilfe des freundlichen Ideengebers kratzte ich lächerliche 700 g vom Boden der riesigen Behälter zusammen. Das reicht nicht mal für einen Tag!

Beim toom-Markt in der Eldenaer Straße gab es dann doch noch was. Die letzte Reserve. Neues sei bereits bestellt, versprach der Mitarbeiter. Wer habe denn mit sowas rechnen können? Niemand!
Damit die Vögel an Ostern nicht hungern müssen, habe ich gleich acht Kilo gekauft, so dass ich insgesamt noch 10 kg verfüttern kann. Das wird genau 10 Tage vorhalten, von denen schon wieder zwei um sind. Dann ist Schicht im Schacht. Ende Gelände. Schluss mit lustig. Aus die Maus.
Winter, genau so lange gebe ich dir noch Zeit endgültig die Biege zu machen! Capisce? (Ein Anagramm von capisce ist übrigens icecaps. Oh weh.)
(Bin gespannt, welche Suchbegriffe mir der Titel dieses Beitrages bescheren wird. In der Blogstatistik des gestrigen Tages fand sich „nach Scheiße stinkende Frauen“ als Sucheintrag. Erstaunlich, was die Leute da draußen so umtreibt. Noch bemerkenswerter, dass sie damit bei mir landen.)

KaDeWe

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(Quelle: Wikipedia)

Ob patagonischer Zahnfisch, Orange Roughby oder Seeteufel, – es gibt nichts, was die Fischabteilung des KaDeWe nicht vorhalten würde.
Und stolz referiert die Fischfachverkäuferin, wo jedes einzelne Exemplar herkommt.
Den Zahnfisch müsse man unbedingt probieren. Der komme aus der Tiefsee und sei einer der letzten seiner Art. In wenigen Jahren sind die alle ausgestorben, was auch den Preis erkläre. Also jetzt unbedingt zugreifen ehe man das Nachsehen hat.
Der Sandalentourist mittleren Alters aus Hessen winkt ab. „Mir sinn nur auf Doschreise, dä Fisch is längst värfault bis mir heimkomme.“
Das wäre wirklich schade, findet auch die Verkäuferin, und wendet sich freundlich dem nächsten Schaulustigen in diesem Tiefkühlzoo der aussterbenden Arten zu.

Die 4. Etage für Interieur und Design hat ebenso hohen Unterhaltungswert.
Dort gibt es so viele schöne und nutzlose Dinge, die von den Verkäufern gerne und mit Ausdauer beschrieben und beworben werden.
Am besten gefällt mir immer wieder der Bügeleisenvorführer direkt neben dem Geldautomaten.
Tag für Tag bügelt dieser, vor den Augen der staunenden Kundschaft, alles, was sich zum Bügeln hergibt. Sein Hemd und das Sakko sind stets tadellos geglättet, und selbst bei der allergrößten Hitze, im Gleißen der mörderischen Halogenlampen, verrichtet er würdevoll seine Arbeit. Wie ein britischer Palastwächter. Dass es so etwas überhaupt noch gibt! Er muss ein Relikt aus den Gründungsjahren des KaDeWe vor 100 Jahren sein, und während er unverdrossen bügelt und bügelt, altert an seiner Stelle, seit Jahrzehnten, ein Gemälde in den Katakomben des ehrwürdigen Hauses.

Ich liebe Beratungsgespräche, und verwende viel Zeit darauf mir alles möglichst haarklein erklären zu lassen, was ich mühelos in der jeweiligen Bedienungsanleitung nachlesen könnte. Nicht aus Respektlosigkeit,  sondern weil es mich fasziniert, welche Kniffe und Formulierungen die geschulten Verkäufer gebrauchen, um Kundinnen und Kunden von der Qualität und den Vorzügen ihrer Waren zu überzeugen.

„Dieses Gerät kommt auf 389,- Euro, während dieses mit 329.- Euro zu Buche schlägt, für den normalen Gebrauch aber ausreichend sein sollte.“
Was das teurere Gerät denn kann, was das billigere nicht bringt, frage ich, und freue mich insgeheim,  dass bei dem Wort „billig“,  ein kleines blasiertes, beinahe schon schmerzliches Lächeln, über das ernste Gesicht des Verkäufers huscht. Denn billig ist hier selbstverständlich gar nichts. Allenfalls günstig, und auch das nicht so gerne. Dann schon lieber gehoben, vulgo teuer.
Vor vielen Jahren habe ich mir eine Mikrowelle im KaDeWe gekauft, weil ich nach dem überzeugenden Beratungsgespräch gar nicht anders konnte.
Die Verkäuferin trug ein enges blaues Kostüm, hellgrünen Lidschatten, hatte eine rauhe Stimme , und pries als Besonderheit die Vielsprachigkeit des Gerätes im Display an. Sie verriet mir, ganz im Vertrauen und in breitem Berlinerisch, dass sie sisch natürlich ooch fragt, woher dit Jerät wissen will ob sie Russin ist oda nisch.
Die Mikrowelle tat, bis zu ihrer Ausmusterung zugunsten eines Backofens, zuverlässig ihre Dienste, ohne mich je nach meiner Nationalität gefragt zu haben. Wir verstanden uns wortlos, verfolgten wir doch dasselbe Ziel.

Wer noch mehr erleben möchte, dem steht in der Etage für Interieur auch noch die Gesundheitsecke zur Verfügung. Hier kann man hochwertige Massagesessel ausprobieren und sich Nasenrasierer, Blutdruckmessgeräte und sonstiges Aging-Zubehör vorführen lassen. Wer also auf später vorbereitet sein möchte, sollte sich hier umschauen. Mein Blutdruck ist mal wieder so niedrig, dass ich entweder schwer krank (was sonst), oder vollkommen unterzuckert sein muss. Zügig eile ich durch die Teppichabteilung zur Silberterrasse, um mich mit einem Berliner Gemüseteller und einer Tasse Kaffee zu stärken.
Das Durchschnittsalter der Gäste liegt bei 75 Jahren. Die Damen tragen silberblaue Haarhelme, ihre Männer dreiteilige Anzüge in gedeckten Farben. Kauend schweigen sie sich an und heben kaum den Blick, als ich das Lokal betrete. Die Kellner, die zusammen mit ihren Gästen alt geworden sind, wundern sich indes über ein neues und jüngeres Gesicht. Die Aussicht auf etwas Abwechslung scheint sie regelrecht zu beflügeln, und mit einer Beflissenheit, die schon beinahe an Euphorie grenzt, werde ich beraten und bedient. Das Essen ist nicht der Rede wert. Belangloses Gemüse, unspektakulär gewürzt und unauffällig angerichtet. Egal. Ich freue mich an den blütenweissen gestärkten Tischdecken und der wilmersdorfer Atmosphäre.  (Ja, ist noch Schöneberg, fühlt sich aber nicht so an)
Dass der Spaß seinen Preis hat, versteht sich.

In der obersten Etage des Kaufhauses, speist das Volk mit Hang zu Königshäusern und Noblesse. Es gibt ein sehr frisches, gutes und extrem überteuertes Büffet. Eins tiefer, schlürft die Haute-Volée bereits mittags Austern und Schampus, um sich später mit Petits Fours, Tarte Tatin und dem einen oder anderen guten Tröpfchen einzudecken.

The 6th-floor food hall at Kaufhaus des Westen...

The 6th-floor food hall at Kaufhaus des Westens, Berlin (Photo credit: Wikipedia)

Eine Zeit lang hatte ich mehrmals die Woche in der Gegend zu tun, machte dann eine Runde durchs Haus, und trank zum Abschluss  einen Kaffee im Wintergarten.

English: The winter garden with restaurant on ...

English: The winter garden with restaurant on top level of KaDeWe department store in Berlin (Photo credit: Wikipedia)

Was mich wirklich beeindruckt ist der Portier des KaDeWe. Ganzjährig steht er im Eingangsbereich des Nobelkaufhauses. Bekleidet mit grauer Livrée, Pellerine und Zylinder, erteilt er in sieben Sprachen Auskunft, geleitet zu den Fahrstühlen und begrüßt die Stammkundschaft.
Bereits nach wenigen Besuchen hatte er sich mein Gesicht eingeprägt, und bedachte mich mit dem gleichen diskreten Nicken, mit dem er auch die pelz- und klunker-behangenen Wilmersdorfer Witwen beschenkt, obgleich ich fast immer ohne Einkäufe, erkennbar an den schwarz-blau gewürfelten Tüten, das Haus verließ.
Auch heute noch identifiziert er mich treffsicher, obwohl ich seit Jahren nur noch sporadisch ins KaDeWe komme, und dabei meist einen Seiteneingang benutze, statt mich dem Gedränge am Haupteingang auszusetzen.

Alleine für Bügelmann und den einzigen Kaufhaus-Portier Deutschlands liebe ich das Kaufhaus des Westens!

qanik

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(via StreetArt in Germany)

Im Westgrönländischen, so las ich dieser Tage irgendwo, weiß aber leider nicht mehr genau bei wem,  gibt es zwei Formen für Schnee: aput- für liegenden, und qanik- für fallenden Schnee. In West-Berlin ebenso: Schneematsch für das dreckige Zeug auf der Erde, und Schneegestöber für den Mist, der den lieben langen Tag vom Himmel fällt.
Während ich jede einzelne Flocke verfluche, tobt Töle fröhlich umher und schnappt nach ihnen.
Hauptsache sie erreichen nicht den Boden.
Frühlingsanfang.

 

 

 

Nachtrag: bei Frau Casino hab ich es gelesen. Darauf stoße ich durch einen Zufall heute, zwei Jahre später.

comédie kreuzbergienne


Um 4 Uhr morgens erwache ich mit starkem Herzklopfen. Schweißgebadet ringe ich nach Luft.
Mein Traum: Bushido plant, zusammen mit 4 Komplizen, einen brutalen Überfall auf Irgendwen. Beim Gießen der Pflanzen auf der Dachterrasse werde ich zufällig Ohrenzeugin dieses Komplotts.
Das ist Mord, was ihr da vorhabt!, werfe ich Bushido vor, der der Anführer der Gruppe zu sein scheint. Er dreht sich maliziös lächelnd um, mustert mich geringschätzig und antwortet in süffisantem Ton: Nein, das ist Notwehr.
Hohoho! Seine Freunde lachen laut.

Dieser Traum kann unmöglich verantwortlich für meinen Zustand sein, denke ich. Ist ja nix passiert, außer martialischem Getue.
Der Hypochonder in mir macht mich darauf aufmerksam, dass ich innerlich zittere und mein Gehirn sich kalt anfühlt, so als hätte ich Amphetamine gezogen. Außerdem ist mir schwindlig.
Wenn das mal nicht was Schlimmes ist. Was richtig Schlimmes.

Bumm, bumm, bumm, schlägt das Herz.

Angst steigt auf. Atemnot.
Schwachsinn, höhnt der innere Arzt. Spät ins Bett, Rotwein im Kopf, schlecht geträumt, da kann man sich schon mal elend fühlen. Hangover. Normal.
Aha? Ist das so? Deswegen auch das kalte Hirn, ja?, hakt der Jammerlappen nach.

Bamm, bamm, bamm

Psycho. Das ist psycho. Panikattacke., entgegnet mein Arzt.
Was soll das denn heißen?
Was weiss ich? Vielleicht hast du Probleme.
Ne. Nicht mehr als sonst auch.
Siehste.
Bin doch nicht psycho. Und Panik hab ich auch keine. Warum auch?
Nein, hast du nicht? Sieht aber so aus. Herzklopfen, Atemnot, Schweißausbruch, inneres Zittern.
Hab halt schlecht geträumt.
Und so furchtbare Angst vor dem bösen Bushido bekommen? Armes Purzelchen!
Spar dir mal deine bescheuerte Ironie! Möglicherweise hab ich Schlafapnoe?
Na, das müsste aber schon mal jemandem aufgefallen sein, wenn dir nachts sekundenlang die Luft wegbleibt.
Wie soll das denn jemandem auffallen, der auch schläft? Außerdem hab ich das vielleicht erst seit heute.
Gut. Du hast Schlafapnoe. Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit würde schon passen…Holste dir ein Sauerstoffgerät, dann wird das kalte Hirn auch wieder besser belüftet.
Mach mal halblang! Ich schlaf doch nicht mit Maske und Schlauch am Kopf!
Wieso nicht? In deinem Zustand.
Weil. Zustand..?
Dann nicht. Musst du dich halt weiter schlecht fühlen. Im schlimmsten Fall: notschlachten.
Lustig. Außerdem fühl ich mich ja gar nicht immer schlecht, sondern nur heute Nacht.
Prima. Was redest du dann für einen Stuss von was ganz Schlimmem? triumphiert der Arzt.

Dem Hypochonder fällt nichts mehr ein.

Schweigen.

Inzwischen hat sich mein Herzschlag normalisiert. Entspannte Atmung. Nur der Kopf fühlt sich weiterhin kalt an.
Ungeheiztes Schlafzimmer. Draußen Minusgrade.
Ich schalte die Glotze an.
Im Ersten rattert der Glacier-Express von Zermatt nach St. Moritz.
Im Führerstand fahren wir mit, durch die beeindruckende Berglandschaft.
Tiefe Schluchten, liebliche Täler, imposante Brücken und immer wieder Tunnel. Lichtdurchflimmerte Bilder, wechseln sich mit wohlig-erdiger Dunkelheit ab.

zuckel
ruckel
schaukel
ratter
ratter
ratter
rrr

Das leise Rumpeln lullt mich ein, und ich falle in einen tiefen traumlosen Schlaf, aus dem ich erholt erwache.

Manche Dinge sollte man nicht allein zergrübeln, sondern besser gleich mit seinem Arzt besprechen.