Der Transformator

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Der blauen Lippen hatte der Moderator von seinem Onkel geerbt, obgleich dieser nicht einmal sein Vater war. Während des Rauchens verblassten die Lippen des Moderators ins Taubengrau. Einen familiärer Erfahrungswert diesbezüglich gab es nicht, denn der Onkel war Nichtraucher und früh verstorben.
Die Lippen des Moderators waren voll wie die des jungen Belmondo. An besonders herzschwachen Tagen sah es aus, als parkte ein blaues Schlauchboot zwischen Nase und Kinn. Besorgt über seinen Gesundheitszustand schwieg ich. Ich wollte das Unglück nicht wecken. Meine Zuneigung zeigte ich dem Moderator indes durch Kühle und Distanz. Manchmal auch durch andere geeignete Maßnahmen, beispielsweise schmale Röcke und chanelroten Lippenstift.
Ihn zu mögen, machte mir Angst, und Angst begegnete ich mit Kälte.
Besonders unheimlich war mir, dass der Moderator mich auch dann oder dann ganz besonders mochte, wenn ich sehr garstig zu ihm war. Willkürlich diktierte Beziehungspausen akzeptierte er klaglos und küsste mir zum Abschied liebevoll die Hände. Auch meine Flirts ließ er unkommentiert. Einmal holte er mich nachts bei einem Anderen ab. Ich war eingeschneit worden.
Vorwürfe machte er mir erst viel später. Da waren wir schon Jahre getrennt.

Meine Furcht, den Moderator mit den blauen Lippen zu verlieren, war so groß, dass ich, je mehr ich mich in unsere Beziehung verstrickte, immer neue Hindernisse ersann die uns trennen sollten. Mein innerer Trafo war darauf geeicht, jedes warme Gefühl ihm gegenüber in schnodderige Coolness umzuwandeln. Oft vergaß ich dabei sogar, ihn in den Arm zu nehmen und auf die blauen Lippen zu küssen.
Erst viel später begriff ich, dass auch der Moderator einen Umwandler besaß, der es ihm ermöglichte, die Signale die ich sendete zuverlässig zu dechiffrieren und in die richtige Sprache zu übersetzen.

 

 

 
Das Internet sagt, es geht ihm gut.

 

 

 

 

 

 

Bild: bswise, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Vom Krähennest

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Gegenüber ragt ein Schlot in den milchigen Winterhimmel. Oben thront ein Metallkorb wie ein Krähennest am Schiffsmast. Gut 15 km sollte man von dort überblicken können, im Osten bis nach Hellersdorf, im Westen bis Halensee.
Als ich in meine Wohnung zog, war der Schlot viel höher als die Bäumchen im Garten. Inzwischen ist er nur noch im Winter zu sehen. Im Sommer vergesse ich, dass es ihn gibt.

In meinen ersten Jahren hier hatte der Schlot meine tägliche Aufmerksamkeit. Er war Teil meiner Landschaft. Welchen Zweck er erfüllen soll, habe ich nie erforscht, doch Besuchern erzählte ich gerne der Muezzin riefe dort zu festgelegten Zeiten zum Gebet.
Am Abend malte die Sonne einen rotgoldenen Streifen auf seine Westseite und mein Herz jubilierte in unstillbarer Erwartung,

Wie die Kaugummiautomaten der Kindheit verschwand der Schlot irgendwann aus meinem Blick, meine Perspektive verschob sich und als ich ihn heute so betrachte, kehrt plötzlich die Zeit in der ich mit ihm lebte noch einmal zurück, öffnet einen Spalt breit die Türe und verschwindet wieder, so wie früher die Lehrerin der Parallelklasse, die kurz ihren Kopf in den Raum steckte, unserem Geschichtslehrer zunickte und wortlos wieder entschwand. Den Rest der Stunde rätselte ich, was das zu bedeuten haben mochte.
In einem Seitentrakt des Schulgebäudes befand sich das Lehrerzimmer. Der Boden war ausgelegt mit dunkelblau-melierten Teppichplatten. Mit ihren abgewetzten Lederschuhen in der Farbe ihrer abgewetzten Ledertaschen würden die beiden Lehrkräfte sich später dort treffen und aussprechen worüber sie durch den Türspalt geschwiegen und womit sie unsere Fantasie angekurbelt hatten. Erfahren würden wir freilich nie worum es gegangen war, doch zusammenreimen konnten wir es uns als schließlich Lehrerin und Lehrer ein Paar und die Lehrerin schwanger wurde und strähnige Haare bekam, derweil der spindeldünne Geschichtslehrer mit Nickelbrille im schmalen Wolldufflecoat wie ein ungelenker Storch über den Schulhof schritt und während des Unterrichtes schlechte Noten verteilte.
Als ich wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag, behauptete er Krankheit sei immer auch eine Entscheidung des Erkrankten, dieser allein trüge die Verantwortung für sich und seinen Körper  und deswegen müsse er mein nicht gehaltenes Referat mit 0 (null) Punkten bewerten. Wahrscheinlich hatte er diese pädagogische Glanzleistung zuvor im blaumelierten Lehrerzimmer oder unter erdberroter Seersuckerbettwäsche mit seiner strähnigen und dauerschwangeren Frau besprochen.

Die Wohnung, die ich drei Monate vor dem Abitur beziehen musste (nachdem ich: du Omi, kennst du schon den Blubb-blubb, zu meiner Mutter gesagt und damit ihren lodernden Zorn entfesselt hatte) besaß einen vermüllten Balkon von dem aus man auf eine Bundesstraße blickte. Neben dem Haus ratterten Güterzüge entlang und gegenüber wurde im Bindingzapfhahn gesoffen und gejohlt, was wegen des vorbeitosenden Verkehrs nicht weiter ins Gewicht fiel.

In der Silvesternacht, kurz nach meinem Einzug standen wir auf dem Balkon und warfen die alten Teppichfliesen der Vormieter auf den vereisten Gehweg. Vorbeikommende Fußgänger nutzten die Fliesen als Rutschschutz und hüpften von einer zur nächsten,  mein juveniler Bruder rannte indes fröhlich aus dem Haus und schlidderte unter ein dort geparktes Auto, das eine dicke Schneehaube trug. Der Tochter des Theaterkritikers gefiel sein Auftritt so gut, dass sie ihren Kopf in den Nacken legte und lachte, bis ihre weißen Zähne zum Vorschein kamen und ihr üppiger Busen wackelte, an den mein fröhlicher Bruder im Verlauf des Abends seine unerfahrenen Hände legen würde, während ihr hagerer Freund souverän lächelnd die Wangen einzog und sich durchs strubbelige  Johnny-Thunders-Haar fuhr. An der linken Hand trug er einen Siegelring, vor dem  Haus parkte sein zugeschneiter Käfer.

Am Neujahrstag, die Party war längst vorbei, stiefelte meine Katze über den klebrigen Boden der Wohnung und schüttelte bei jedem Schritt ihre schwarzen Pfötchen.

 

 

 

 

 

 

Bild: Andrej Krashenitza, flickr, 20140829-DSC08207
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

 

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Die Katzen liegen auf dem Bett, jede in ihrer Ecke.

Ein Sonnenstrahl bricht durch die Wolken, ein Fallschirm sinkt in der Lichtsäule hinab.
Eine Qualle steigt auf. Alles sucht die Erdoberfläche. Nur der Fuchs verschwindet in seinem Bau. Der Jäger ist ihm auf den Fersen.

 

Die kleine Polin ist zu Besuch. Support your local punkscene, steht auf ihrem Shirt. Seit 10 Jahren kennen wir uns nun schon. Unvergessen unser erster Nachmittag in meiner Küche. Irgendwann im Herbst. Zigarettenrauch hing in der Luft und wir redeten und scherzten und ich fragte sie, wen sie wählen würde. Ihre Antwort und ihr Grinsen dazu gefielen mir und ich lachte und da fing das an mit der Freundschaft und hat seitdem nicht aufgehört.

 

Als ich die Stereoanlage abbaue, um sie in den Keller zu tragen, finde ich einen alten Rucksack. Darin ein Einkaufszettel. Kippen, sixpack, aromatics elixir, steht darauf. Lang muss das her sein. Wahrscheinlich kannte ich da die kleine Polin noch nicht einmal und wahrscheinlich war ich die Einzige in unserer Szene, die zu zerfetzten Klamotten Nobelparfums trug. Damals lebte auch die R. noch und die Bar 11 hieß Villon und der Barkeeper hatte ein Auge mehr und wir tranken uns im Madonna oder im Kloster bettreif.

Mosche komm isch ganz in Silbä

 

Auch der Kanzler verändert sich. Manchmal erkenne ich ihn nicht wieder. Gemeinsam mit dem Bruder geht er auf klandestine Veranstaltungen und ich frage mich wie der Kanzler sein Menschenbild, seine Menschenliebe, seine Offenheit und Großzügigkeit Allem und Jedem gegenüber mit seiner behaupteten Gesinnung zur Deckung bringt. Gegen den Euro zu sein ist die eine Sache, alles andere ist inakzeptabel. Ich versuche, es auf sein Alter zu schieben und doch tut es weh. Früher oder später verliert man seine Eltern und dazu müssen sie nicht einmal sterben.

 

Von der Cousine kommt eine Mail. Sie schreibt über meine Mutter und wie sie sie als Kind erlebt hat und ich begreife, dass die gesamte Familie wusste, was bei uns los war und was man mit mir machte und doch schritt niemand ein.
Merkwürdig das zu lesen. Irgendwie traurig für das Mädchen, das ich war und dem man an Fasching ein silbernes Krönchen auf den gewaltsam geschorenen Kopf setzte, um es bei nächster Gelegenheit wegen einer Lappalie in den Kohlenkeller zu sperren.

 

Wenn ich je wiedergeboren werden sollte, möchte ich ein Tier sein, das ganz allein auf einem warmen Felsen lebt und an Gott denkt. Oder ein Vogel auf dem höchsten Kran der Stadt. Oder eine Qualle.

 

 

 

 

 

Bild: diadá, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Behinderte gucken gehen

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In meinem Studium lernte ich, dass wenn man Menschen mit Down-Syndrom eine kleine Aufgabe zuwies, sie diese mit besonderer Akribie, wenn nicht Pedanterie erledigten. Einmal gingen wir sogar in eine Werkstatt für Behinderte und schauten uns welche an. Der Dozent, ein erzkatholischer, aalglatter Typ, blieb am Tisch eines etwa fünfzigjährigen Mannes stehen der im Rollstuhl sitzend eine Thermoskanne zusammensetzte.
Das ist der Herr Sch., sagte er, der  Herr Sch. hatte einen Schlaganfall. Seither ist er halbseitig gelähmt, das Sprachzentrum ist auch betroffen. Reden kann er nimmer, aber verstehen tut er alles. Herr Sch. lebt im Wohnheim und kommt jeden Tag hierher zur Arbeit. 

Ich schaute zu Herrn Sch., der seine Arbeit ruhen ließ und mit hängenden Schultern und müdem Gesicht zu unserer Gruppe aufblickte und ich schämte mich in Grund und Boden.

Ich finde das nicht in Ordnung, dass wir hier Behinderte angucken wie im Zoo, sagte ich zu unserem Dozenten.

Das stört die Behinderten nicht, antwortete der Dozent und winkte, um seine Behauptung zu untermauern, zwei junge Männer mit Down-Syndrom heran, die interessiert hinter uns getreten waren. Jovial legte er den Arm um einen der Beiden.
Fühlst du dich wohl hier, fragte er ihn und der Umarmte lächelte verlegen und nickte.

Manchmal, erklärte der Dozent, haben die Behinderten natürlich auch keine Lust zu arbeiten, das ist nicht anders als bei uns. Aber der Heimplatz ist an den Werkstattplatz gekoppelt und sie wissen, wenn sie bei ihren Freunden bleiben wollen, müssen sie dafür arbeiten. Gerade Menschen mit Down-Syndrom können sehr stur und faul sein, denen tut ein bisschen Druck ganz gut. 

Ich schaute zu Herrn Sch., der sich längst wieder seiner Arbeit zugewendet hatte, drehte mich um und verließ die Werkstatt.

 

 

 

 

 

Bild: Nadja Varga, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

In jenem Sommer

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Ich stand im zweiten Stock am Fenster und blickte über den hellen Sand hinweg auf das Meer. Blut lief meine Beine herunter und tropfte auf den weiss lackierten Dielenboden. Nach dem Duschen nahm ich eine Handvoll Toilettenpapier, um mir für´s Erste zu behelfen.
Erst am Nachmittag fasste ich den Mut meiner Mutter, die sich auf der Terrasse sonnte, zu erzählen was geschehen war. Sie rief meinen Vater herbei.

Mit ein paar Vokabeln im Gepäck wurde ich in die Dorfapotheke geschickt. Der nächste Hypermarché war weit entfernt. Nach serviettes hygiéniques solle ich fragen. Mit gesenktem Blick spuckte ich dem Apotheker, der bekittelt vor einer dunklen Holzwand mit Dutzenden Schubladen stand, die einstudierten Wörter entgegen und schämte mich, wie niemals zuvor.

Es war derselbe Sommer in dem meine tiefausgeschnittene, brathähnchenbraune Mutter in türkis–pink geblümtem Satin und auf irrwitzigen Stilettos, die Motocrossfahrer Philippe und Pierre, die es auf meine Schwester und mich abgesehen hatten, und seit Tagen in den Dünen herum cruisten, um uns zu beeindrucken, in den Garten lockte und bei Sekt und kokettem Geklimper ihre Wirkung auf die Jugend erprobte, bis den beiden Jungs schwindelig wurde vor lauter Hormonen.

In jenem Sommer gewann ich auf dem kommunistischen Volksfest eine Ente, die ich auf den Namen Hans taufte. (In Wahrheit machte ich es wie Voltaire und kaufte sämtliche Lose eines Glücksraddurchlaufes, um an das flauschige Küken zu gelangen).

In jenem Sommer zog sich meine Schwester einen Mückenstich in der Kniekehle zu, der sich zu einem fürchterlichen Abszess auswuchs, dessen Inhalt sich an einem windigen Nachmittag in zahnpastadicken Streifen in das dunkelblaue Meer vor St. Malo ergoss.

Auf jenen Sommer datiert eines der Lieblingsfotos, die ich von meinem Vater besitze zurück: er, im schwarzen Hemd, mit lackschwarzem Haar und schwarzer Brille, lässig auf die Stadtmauer gestützt und mit entspannter Miene auf´s Meer hinausblickend.

In jenem Sommer lernte ich beim Flippern, ein Freispel nach dem anderen zu holen, und den Apparat mit körperlichem Einsatz so zu manipulieren, dass der Ball nicht verloren ging und das Gerät nicht tilte.

Außerdem fand ich heraus, dass ich die Wangen einziehen und den Kopf schräg halten musste, um erwachsener auszusehen. Die Ähnlichkeit mit Lauren Bacall hat ihren Anfang in dieser Zeit.

Zwei Jahre später hörte ich längst Sex Pistols, hatte ein Kind verloren und kickte meiner Mutter eine Ladung Sand ins Gesicht, als sie mich am Strand vor den Augen aller ohrfeigte. Danach trat ich die Flucht in den sturmblauen Atlantik an.

 

 

 

 

 

 

 

Bild: Jean-David & Anne-Laure, St, Malo 006 (Ausschnitt), flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

 

Ochsenhunger

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Dem Mann am Telefon erzählte ich ich trüge einen schwarzen, hautengen Catsuit mit durchgehendem Reißverschluss und einer schmalen Kette um die Hüften, ich konnte hören, wie seine Knöchel weiss wurden, als er die Hand zur Faust ballte, also erzählte ich weiter. In der Hocke säße ich, die Kniee weit auseinander und zöge ganz langsam den Zipper herunter. Dann legte ich auf.
Ein paar Wochen später erreichte mich ein Paket mit allerlei Gaben. Darunter eine New York Times, die ich von vorne bis hinten durchlas, doch ich fand keinen Hinweis. Er hatte es mir mit gleicher Münze heimgezahlt.

Ein anderer trug den Namen eines Waldtieres und nachdem ich ihm von meinen schweren Botten, dem Tanktop und dem Minischottenrrock erzählt hatte, schickte er mir ein feines silbernes Kettchen mit Kügelchen daran. Er schrieb es täte ihm Leid, er besuche regelmäßig Swingerclubs, seine Frau wisse nichts davon, und auch mich wolle er nicht belasten mit diesem Geheimnis.

Der Dritte und Letzte rief mich von einem Parkplatz aus an, wo er mit Unbekannten verabredet war. Flüsternd erzählte er mir was dort in der Dunkelheit vor sich ging. Dann legte er auf.

Von ihm habe ich nie wieder gehört. Doch ich erinnere mich noch an seinen Namen: Marek.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: Vizero, Vollmondparken, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Piratinnen

 

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Vollkommen bezuglos stelle ich dieses Bild hier ein, dass mir gestern zufällig in die Hände fiel und das mich in der Zeit zeigt, als mein rechtes Auge gerade anfing sehen zu lernen. Später malte meine Mutter mir kleine Bildchen auf meine Pflaster, damit ich im Kindergarten weniger gehänselt wurde.
Als dann aber auch meine beste Freundin mit einem Pflaster vor dem Auge dort auftauchte, waren wir auf einmal eine Gang, Piratinnen, und alle anderen nur schnöde, langweilige Kinder.
(Ob meine Eltern mir tatsächlich Henninger-Bier zu trinken gaben, wie das Foto nahelegt, weiss ich nicht mehr. Es würde meinen seeligen Gesichtsausdruck erklären).

Carol

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Manchmal, wenn ich an dich denke, erinnere ich mich auch an die stark geschminkte Mittfünfzigerin, die rauchend auf dem Balkon der Station N2 sitzt. Die abgehalfterte femme fatale, mit langen blondierten Haaren, dem aus der Form gelaufenen Körper, gehüllt in einen Satinkaftan mit Leopardenprint, schwarze Stoppeln an den trockenen Schienbeinen, die Füße in glitzernde Riemchensandalen gesteckt.
Den Blick in die Ferne gerichtet, hält sie eine Zigarette in der Hand, Rauch sickert nachlässig aus ihren Nasenlöchern. Neben ihr ein junger Mann mit unverhältnismäßig großem Adamsapfel, der ihm ein geierhaftes und irgendwie verklemmtes Aussehen verleiht und mich an John-Boy Walton, den Tugendhaften erinnert. Der Mann betrachtet das Profil der Frau und greift nach ihrer freien Hand, die sie ihm teilnahmslos überlässt. Etwas Unterwürfiges und zugleich Aufdringliches liegt in seinem Blick und in dieser Geste der verzweifelten Zugewandtheit.

Ich sitze auf der Bank neben den beiden, rauche und zähle zum wiederholten Male die Türme der Stadt. Das Krematorium in Steinwurfnähe zähle ich mit.
Ob sich die Jahre, die vor mir liegen, ebenso in mein Gesicht fressen und dort eine Spur der Angst, der Leidenschaft und des Nikotins hinterlassen werden. Und werden auch wir eines Tages gemeinsam auf diesem oder einem anderen Balkon sitzen, eine tödliche Diagnose auf unseren Schultern, du meine Hand haltend und in mir immer noch die Blüte sehend, die ich einmal war. Und werde ich dich dafür verachten oder lieben und brauchen, oder alles zusammen.
Seit 24 Wochen bin ich in dieser Klinik, die ich in den gleichen Kleidern verlassen werde, mit denen ich sie betreten habe. Du wirst mich abholen und nach Hause bringen in mein neues Leben, von dem du schon jetzt ein Teil geworden bist.

Heute ist dein Geburtstag. Ich denke an dich.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: b.s.wise, flickr jean cocteau
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Hämoglobin

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Die Geschichte beginnt mit einem Blutstropfen auf einem blütenweißen Laken. Die kurvige Krankenschwester rügt den jungen Assistenzarzt für sein Missgeschick. Ihre Strenge lässt ihn angenehm erschauern und fortan sucht er bei der Arbeit ihre Nähe.
Eines Tages betreten beide gleichzeitig den Aufzug. Er möchte nach oben, sie ins Erdgeschoss fahren. Und während die Kabine nach unten sirrt, sagt sie spöttisch: Wann laden Sie mich denn nun endlich zum Essen ein, X.
Der Arzt leiht sich Geld und bringt eine Aktentasche voll kleiner Scheine zur Verabredung. Die beiden werden ein Paar.
Nach 10 Monaten wird das erste Kind, ein Mädchen, geboren, das Zweite folgt ein Jahr darauf und das Dritte, der Junge, vergisst im blendenden Licht der Welt für einen Augenblick zu atmen. Ein Zwischenfall, der später Ausgangspunkt einer alleserklärenden Lebensverweigerungstheorie des Jüngstgeborenen werden wird.

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Ich fahre mit der S-Bahn. Ein etwa vierzigjähriger Mann steigt ein. Er sieht verwahrlost aus, seine Kleidung ist schmutzig und die Körperhaltung schlaff.
Der Mann geht von Reisender zu Reisendem, streckt seine Hand aus und bittet um eine Spende. Das Leben habe es nicht gut mit ihm gemeint, sagt er. Arbeitslos, obdachlos, einsam und alkoholsüchtig sei er und Schuld daran habe allein seine Mutter.

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Zwei Mal in meinem Leben hat mein Vater mich geohrfeigt. Das eine Mal nachdem ich mich mit der Hollywoodschaukel überschlagen und mir den Kopf auf den Steinplatten blutig gestoßen hatte. Das andere Mal ergriff mich beim Skatspielen grund- und haltlos ein hysterischer Lachanfall, der kein Ende nahm, bis mein Vater mir ins Gesicht schlug und ich übergangslos vom Lachen ins Heulen wechselte. Ich war sieben und mein Vater 37 Jahre alt.
Ein Jahr später, an seinem 38. Geburtstag, fuhren er und ich mit dem Zug. Er paffte eine Zigarre, blies den Rauch aus dem Fenster und sagte, dass er nun alt, sein Leben versaut und inzwischen zu kurz sei um auch nur eine Langspielplatte auflegen zu können. Er weinte.
Auf unerklärliche Weise war ihm ganz unbemerkt und ohne sein Dazutun ein riesiges Stück Zeit abhanden gekommen und niemals würde er es wiederfinden. Um weiter mit uns Kindern zu den sonntäglichen Jazz-Matinées oder ins Kommunale Kino gehen zu können, wo wir uns als einzige Gäste die Marx Brothers Filme ansahen, hörte er auf zu forschen und die blutigen Präparate veschwanden aus unserem Kühlschrank.

 

 

 

 

 

Bild: flickr, Peter C.
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