In kobaltblauen Schlaghosen defiliert der superschlanke Bartträger den Radweg entlang. Seine Schritte weit ausholend, den Kopf mittig zwischen den Schultern balancierend, die Augen ins Ungefähre gerichtet, genießt er seinen Körper, die Blicke, das Leben.
Sein weites Hemd weht im Wind seiner Bewegung.
Das Publikum auf der Straße, in den Cafés, auf den vorbeirauschenden E-Rollern teilt seine Freude.


Ein letzter warmer Tag im September.


Odenwald

Auf den rosafarbenen Steinplatten vor dem Haus liegen tote Hornissen. Eine sammle ich auf, um sie mitzunehmen und später in Ruhe fotografieren zu können. Doch kaum liegt der gekrümmte Leichnam in meiner Hand, sirrt eine der Hornissen, die Tag und Nacht ihr Nest im Dachfirst anfliegen, um mich herum und schaut mich mit ihren großen Augen an.
Ich lege die Verstorbene zurück an ihren Platz und die Totenwächterin fliegt wieder davon.

Wie selbstverständlich ich davon ausging, den Insekten wären ihre Toten egal.







Globuli

Der Arzt, den der Anästhesist mir empfohlen hatte, weil dieser ihn mit seinen Zuckerkugeln vor der sicheren Erblindung bewahrt habe, trug mir auf, keinen Kaffee mehr zu trinken und stattdessen Sepia-Globuli im Mund zergehen zu lassen.
Unter seinem Schreibtisch schlief die französische Bulldogge Sophie, aus seinen Ohren wuchsen lange weisse Haare und die Dielen der Friedenauer Wohnpraxis knarrten unter seinen behäbigen Schritten. Überall tickten Uhren.
Seine ca. 50 Jahre jüngere Ehefrau schaute ab und zu vorbei, küsste ihren Mann, lächelte freundlich und verschwand nach ein paar Minuten wieder.

Nachdem seine Behandlung nicht anschlug und ich auch die (good cop) Krimis, die er mir zu lesen auftrug, nicht mochte, gab er mir als letzte Prüfung auf, eine damals täglich ausgestrahlte Telenovela zu schauen, um das Gute vom Bösen unterscheiden zu lernen. Doch auch das fruchtete nicht (Anlass meines Behandlungsgesuchs war, nebenbei bemerkt, meine physische Grunderkrankung gewesen).

Er sei noch unsicher, wie das Ganze bei mir ausgehen würde, sagte er eines Tages und wiegte, um sein intensives Nachdenken zu unterstreichen, den Kopf hin und her: entweder endete ich verzweifelt oder aber verbittert.
Ich entschied mich für den Abbruch der Behandlung und die Fortsetzung meines Lebens zwischen Melancholie und Euphorie.



In drei Tagen geht es weiter in den Odenwald.

Gefährten

In der Nacht träume ich von Paul, der (wie an jedem Wochentag) sein Fahrrad an der Laterne vor meinem Haus anschließt, doch der dann, statt seiner Arbeit nachzugehen, an mich herantritt ohne ein Wort zu sagen. Ich schaue ihn an, seine blaue Iris ist dunkel umrändert. Du bist wütend, sage ich.
Und du kannst noch immer in mir lesen, antwortet er.
Hier reisst der Traum ab.

Dem Pferdemädchen habe ich eine Postkarte geschickt. Ein Wackelbild mit Kuh vor sommerlichen Alpen. Sie schweigt. Seit Monaten schon. Unterdessen wächst das Kind in ihr heran und wird in diesen Tagen das Leuchten der Apokalypse kennenlernen.

Auch die Schwester antwortet nicht auf meine Mails. Ebenso wenig wie die Frau aus der Verwaltung, die ich ein halbes Dutzend Mal angeschrieben habe.
Dass der zunehmend demente Kanzler alles verspricht, nichts hält und nach großen Ankündigungen immer wieder in der Unverbindlichkeit der Versenkung verschwindet, bin ich beinahe schon gewohnt, Doch, dass selbst die liebe Russin (die in Wahrheit aus Kasachstan kommt) schweigt, hätte ich nicht erwartet.
Ghosting nennt man das wohl. Mich verstört, verletzt, verunsichert es.

Es ist kalt geworden in unserem Häuschen. Die Tage werden merklich kürzer.
Ich friere bei sieben Grad in der Nacht.


Manchmal fühle ich mich so gottverlassen einsam und alte Trauer und Angst legen sich schwer auf meine Brust.
Unter der Dusche läuft der Tränensee über. Auf einem Stein im Wasser steht ein einzelner Schwan.



Ganz zufällig treffe ich die Waldorflehrerin im Garten. Ihren Pudel hat sie nicht dabei, dafür ihren frisch Angetrauten. Ich gratuliere, wir scherzen über den Zustand des Kreuzberger Standesamtes (einer ehemaligen Obdachloseneinrichtung) und wechseln dann zum Wetter. Trocken sei es in Berlin. geradezu herbstlich, erzählt sie und wendet sich an ihren Mann.
Stimmt´s, das haben wir auch schon gesagt, dass es so trocken ist in Berlin. Er nickt zufrieden und ich bewundere diese kleine Verbundenheits- und Vergewisserungsperformance zwischen den beiden.


Wenn ich doch auch ein bisschen so sein könnte.

Der Bäcker in der Kirchgasse verkauft mir (am 30.8.)weder Müslikonfekt noch Knäckebrot. Das im Schaufenster ausgelegte sei uralt und trocken, sagt die Dame hinter dem Tresen. Und da die Herrschaften am 5.9. gedächten in den Urlaub zu fahren, sei nicht damit zu rechnen, dass vorher noch gebacken werde.
Die Hühner vor der Kirche gehen somit leider leer aus.

Hier auf dem Land passieren die krassesten Geschichten.