Archiv für den Monat September 2013
Damals wie heute
"Muss es nicht das Herz des Menschenfreundes auf das Tiefste betrüben, wenn er die Kinder der Armen in Pfützen und Kothaufen nach Speiseresten wühlen sieht, welche den Reichen für ihre Hunde und Katzen zu schlecht sind -- oder wenn er hören muss, dass ganze Scharen von Kindern morgens ohne Frühstück in die Schulen getrieben werden -- oder wenn er von verzweifelten Vätern oder Müttern lesen muss, welche sich und ihre Kinder einem freiwilligen Tode opfern, um dem Tode durch Hunger oder Entbehrung zu entgehen -- oder wenn er sehen muss, wie eine politische oder geschäftliche Krisis ganze Scharen fleissiger Arbeiter ohne Nahrung für sich selbst und für die Ihrigen auf das Pflaster wirft -- oder wenn er beobachten muss, wie die Zunahme der Verbrechen gegen Leben und Eigentum zumeist einem heimlich geführten Kriege der Besitzlosen gegen die Besitzenden entspringt -- oder wenn er die Überzeugung gewinnen muss, dass Egoismus und Selbstsucht die Grundsäulen sind, auf denen die menschliche Gesellschaft aufgebaut ist,(...)?" Ludwig Büchner, DARWINISMUS UND SOZIALISMUS oder Der Kampf um das Dasein und die Moderne Gesellschaft, 1894
Loop
Ich träume, dass ich die Verantwortung
für eine überdimensionale Uhr trage, die ich am Laufen halten muss.
Die Uhr befindet sich in meinem Schlafzimmer, und besteht aus Daunenkissen, die ich ständig hin- und hertrage, und mit deren Hilfe die Stunden, Minuten und Sekunden angezeigt werden.
Es gibt sechzig kleine, sechzig mittlere
und zwölf große Kissen.
Sämtliche Kissen sind mit zitronengelber Seide bezogen.
Der linke Stapel zeigt die Stunden, der mittlere die Minuten,
und der rechte die Sekunden an.
Wenn eine Minute voll ist, muss ich sofort alle Sekundenkissen wegräumen, was mir leidlich gelingt.
Denn während ich dabei bin sie zur Seite zu schieben, muss ich auf den mittleren Stapel noch schnell ein mittleres Kissen für die eben vollendete Minute legen, und dabei die Sekunden nicht vernachlässigen, die während des Hin- und Herräumens vergehen.
Am Ärgsten ist es, wenn eine Stunde voll ist, und ich über hundert Zeiteinheiten gleichzeitig beiseite schaffen muss, ohne dass sie zu sehr durcheinander geraten, was mir dann, beim weiteren sekundengenauen Beladen der unterschiedlichen Stapel, Probleme bereiten würde.
Ich räume und sortiere, hin und her, werde nicht fertig, verzähle mich, muss aufholen.
Das Gerenne ist unglaublich anstrengend. Dazu die ständige Konzentration.
Der nicht enden wollende Druck.
Die Kissenhüllen sind zudem so glatt, dass, je höher ein Stapel wird, die neu aufgelegten unweigerlich hinunterrutschen, mich bei der Arbeit behindern und weiter in Verzug geraten lassen.
Es ist einfach nicht zu schaffen, aber ich habe gar keine Wahl.
Stunde um Stunde räume ich. So gut und gewissenhaft ich kann.
Immer mehr gerät das System durch rutschende oder vertauschte Kissen durcheinander.
Alle Versuche die Zeit einzuholen scheitern. Im Gegenteil: durch meine Bemühungen gerate ich erst recht ins Hintertreffen.
Inzwischen geht die Uhr erheblich nach.
Ich schaffe es nicht.
Vor den Kissen sacke ich in die Knie.
Schnitt.
Der Himmel über Berlin (2)
H
Ehe M. von meinem Onkel beerdigt wurde, nahm er Drogen.
Jahrelang.
Weiche, psychedelische. Harte.
Am Ende war er auf H.
Früher war er einfach athletisch und gutaussehend und schien ein netter, wenn auch etwas überdrehter Kerl zu sein, der sich in den gleichen Läden herumtrieb wie ich, der oft nach New York reiste, behauptete bisexuell zu sein, und der mir mit seiner, den Frauen zugewandten Seite hinterher stieg.
Ohne Verabredung, trafen wir uns fast jeden Samstag, gemeinsam mit vielen anderen, die man aus dem Nachtleben kannte, am Eisernen Steg in Frankfurt. Eine lose Gruppe.
Flohmarkt.
Ich habe ein deutliches Bild im Kopf: wir beide in der prallen Sonne, vor der Maaschanz, einem düsteren Bierlokal mit Stammgästen, das heute zwar noch den gleichen Namen trägt, inzwischen aber, mit Küchenchef und entsprechenden Preisen auf die anspruchsvollere Klientel setzt.
Essen wie Gott in Frankreich
Wir stehen nebeneinander, unterhalten uns, flirten unverbindlich und beobachten den Menschenstrom, der sich den Schaumainkai entlang über den Flohmarkt schiebt.
M. hat, wie meist, die Arme verschränkt (um seinen Bizeps noch besser zur Geltung zu bringen), und hippelt auf den Beinen hin und her, als müsste er dringend pinkeln. Immer nervös.
Schöne Augen hat er. Rehbraun, mit schweren, großen Lidern. Der Italiener.
An einem dieser staubigen Flohmarkt-Nachmittage lädt er mich zu einer Party ein, die am Abend auf dem Lerchesberg, dem Millionärsviertel, stattfinden soll.
Woher er solche Leute kennt?
-Alles cool. Das sind okaye Leute. Lass mal hingehen. Aber komm nicht so spät, geht um acht los.
Ich verspreche nichts, ziehe mir aber am Abend ein schwarzes Kleid an und fahre zu der angegebenen Adresse.
Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um eine Hochhaussiedlung am Sachsenhäuser Berg. Von wegen nobel.
Es ist ein Samstagabend im Hochsommer, die Hitze des Tages steht noch zwischen den weißen Wohnsilos, der Himmel ist tiefblau.
Technicolor
Gleich aus mehreren Wohnungen dringt der Gesang von Cabaret an mein Ohr.
Im Erdgeschoss bläht sich eine Gardine aus dem Fenster. Kein Lüftchen bewegt sie. Dahinter flimmert der Fernseher.
Willkommen, bienvenue, welcome!
Fremder, etranger, stranger.
Ich klingele. M.s Stimme an der Gegensprechanlage. Der Türsummer geht, ich nehme den Lift in die elfte Etage. M. öffnet die Tür, lächelt mich merkwürdig verschmitzt an und macht eine kleine Verbeugung.
-Komm doch rein!
Ich betrete den Flur. Ein orangefarbenes Telefon ist gleich neben den Eingang an die Wand montiert, ein Einbauschrank mit weißlackierten Lamellentüren in die Wand eingelassen. Es ist still.
-Noch niemand da?, frage ich.
-Nein, aber die kommen gleich.
Komische Party.
M. führt mich durch den winzigen Flur in ein Zimmer; das Einzige in dieser Wohnung. Der ca. 40 qm große Raum ist fast leer.
Eine Matratze liegt vor der offenen Balkontüre, ein Klavier steht an der linken Wand. Davor ein Holzschemel. Auf dem Klavier liegen dicke bunte Straßenkreiden. Links daneben befindet sich eine Art Tresen zur offenen Küche. Fast mitten im Raum eine massive, eckige Betonsäule, die dem Zimmer einen industriellen Anstrich verleiht.
-Willst du was trinken?
-Ja gerne, ein Bier.
-Gibt nur Champagner.
-Dann halt Champagner.
M. geht zur Küchenzeile und öffnet die Flasche, während ich auf den Balkon hinaustrete und über die Stadt blicke.
Solange ich nicht direkt nach unten schaue geht es.
Ein paar Minuten stehe ich alleine da draußen, atme und freue mich, dass ich am Leben bin.
Die Luft ist weich, mein Körper fühlt sich gut an.
Ich bin schön, alles liegt noch vor mir.
The future is unwritten
Der Korken knallt.
Gluck, gluck, gluck.
M. kommt mit zwei Gläsern auf den Balkon. Zusammen nippen wir am Schampus.
Er kann die Stille nicht ertragen, quasselt ohne Punkt und Komma, ist überdreht und hippelig.
Ich zünde mir eine Zigarette an.
Komm, ich zeig dir was, sagt er dann und wir gehen zurück ins Zimmer, wo er sich suchend umschaut, sich dann unvermittelt ans Klavier setzt und in die Tasten haut.
Von oben nach unten und zurück. Mit voller Wucht. Ohne Sinn und Verstand. Wie entfesselt.
Sein Spiel begeistert ihn selbst so sehr, dass es ihn vom Schemel hochreisst, und er im Stehen weiter auf das Instrument eindrischt.
Was ist denn mit dem los, wundere ich mich, als er plötzlich zur Zimmertür rennt, sie blitzschnell zuzieht und abschließt. Den Schlüssel steckt er in seine Hosentasche.
-Was soll das denn? frage ich ihn genervt, aber er antwortet nicht, schaut mich nicht einmal an. Stattdessen hämmert er weiter, inzwischen mit geballten Fäusten, auf den Tasten herum. Seine Beine bewegen sich unkoordiniert zu dem Klanginferno. Ich schaue hilflos zu.
So plötzlich wie er angefangen hat, hört er auch wieder auf.
-Ich möchte dich zeichnen, sagt er, zieh dich aus.
–Ey M., das geht echt zu weit. Ich gehe jetzt.
Davon kann aber gar nicht die Rede sein.
M. zuckt mit den Schultern, greift nach einer der Kreiden auf dem Klavier, und beginnt mit weit ausholenden Bewegungen großflächig die Wand vollzukritzeln. Seine Beine tanzen weiter dazu, wie die eines Boxers im Sparring.
Von Zeit zu Zeit schaut er zu mir herüber, ganz so als würde er mich tatsächlich porträtieren.
Glücklich zu sehen, je suis enchante,
Happy to see you, bleibe, reste, stay.
Das geht eine ganze Weile so. Ich schaue ihm zu. Ratlos stehe ich im Raum herum, bis ich mich irgendwann auf die Matratze setze.
M. performt weiter.
Ich überlegte, wie ich am schnellsten wieder hier rauskommen könnte.
Ob ich nicht besser auf den Balkon gehen und in die ausgestorbene Betonschlucht hinunter rufen sollte? Nur was? Er hat mir ja bis jetzt gar nichts getan.
Bestimmt fragen mich die Bullen dann, wieso ich überhaupt alleine hierher gekommen bin. Im Kleid. Schnapsidee. Party, aha?
Angst habe ich zu dem Zeitpunkt überhaupt keine, und dem Genervtsein mischt sich ein unbestimmtes Gefühl der Sensationslust bei, das mich selbst überrascht.
Außerdem mag ich ihn ja, den M. Wir kennen uns doch. Er wird mir nichts tun.
Ich muss einfach cool bleiben. Vielleicht kommt ja doch noch jemand.
Um wieder ein bisschen Normalität herzustellen, und meinen Gleichmut zu demonstrieren, versuche ich ein belangloses Gespräch.
In wessen Wohnung wir sind, und ob er keinen Ärger befürchtet, wenn er die Wände so vollsaut, frage ich ihn.
-Das gibt keinen Ärger, antwortet er atemlos, und malt unter Einsatz beider Arme unermüdlich weiter. Ihm ist alles egal.
Nach ein paar Minuten, die mir sehr lange vorkommen, hat er fertig getanzt.
Die Wand ist kindergartenbunt, eine dünne Schicht Kreidestaub hat sich auf den schwarzen Lack des Klavieres gelegt.
Jetzt setzt M. sich zu mir, strahlt mich begeistert an und trinkt in großen Schlucken ohne den Blick von mir zu lassen.
Can´t take my eyes off you
Als ich am nächsten Morgen erwache habe ich einen Filmriss.
Meine Erinnerung endet dort, wo er sich zu mir setzt. Der Rest ist weg. M. liegt neben mir und schläft. Er ist vollkommen nackt. Sein Körper ist glatt und schön.
Immerhin bin ich bekleidet. Sogar die Schuhe habe ich noch an.
Das beruhigt mich.
Als ich aufstehen will erwacht er, hält mich am Arm fest, und fragt mich wo ich hin möchte.
Nein, nach Hause könne ich jetzt noch nicht. Erst müsse ich noch baden.
Jeder Versuch ihm diese Idee auszutreiben scheitert. Ich habe das Gefühl, dass ein falscher Satz die Situation zum Kippen bringen könnte.
Wenigstens kann ich ihn überreden alleine baden zu dürfen.
Er geleitet mich ins fensterlose, dunkelgrün geflieste Bad, kippt ein bisschen Litamin in die Wanne und dreht den Hahn voll auf. Dann lässt er mich allein im dampfigen Grün .
Sanft umgibt dich weicher Schaum, und mehr Pflege spürst du auch
Ich schließe ab und hänge ein Handtuch vor das Schlüsselloch. Eine ganze Weile lang starre ich in den Spiegel, bis er vollkommen beschlagen ist. Natürlich werde ich nicht baden.
Um ihn nicht zu verärgern, und meine Freilassung nicht weiter zu verzögern, plätschere ich ein bisschen mit den Füßen im Wasser herum, und tauche die Hände solange hinein, bis sie schrumpelig sind.
Am Schluss benetze ich Gesicht und Haaransatz und öffne meinen Zopf.
Als ich rauskomme steht er, immer noch nackt, in dem kleinen Flur und scheint sich zu freuen mich so zu sehen. Entspannt lacht er mich an.
Ohne Vorankündigung schnellt sein Arm plötzlich nach links, landet auf der Türklinke, und zu meiner Überraschung öffnet er die Wohnungstür. Einfach so.
Mit der gleichen Verbeugung, mit der er mich am Vorabend empfangen hat, weist er mir nun den Weg nach draußen.
Ohne meine Zigaretten, die Schuhe in der Hand, verlasse ich die Wohnung.
–Es war sehr schön mit dir, sagt er, als ich gehe und schließt, kaum, dass ich über die Schwelle getreten bin, die Türe hinter mir.
Ich nehme den Aufzug und zwinge mich, nicht nach oben zu schauen, als ich aus dem Haus trete.
Ein paar Jahre später wird er genau hier, beim Versuch vom Nachbarbalkon aus die Wohnung zu erreichen, den Tod finden.
Das letzte Mal, das ich ihn gesehen hatte, versuchte er erfolglos seine Jacke auf einen Kleiderhaken bei Wiener Wald zu hängen.
Als Begleitmusik: http://www.youtube.com/watch?v=d7R7q1lSZfs
Der Himmel über Berlin (1)
Te Recuerdo Amanda
Auf Deutschlandradio läuft Víctor Jara.
Gleich mit 3 Liedern erinnert man an den chilenischen Sänger, der vor 40 Jahren, als Anhänger Allendes und der Unidad Popular, von Pinochets Schergen gefoltert und ermordet wurde.
Erst seit 2012, werden die dafür verantwortlichen Offiziere per Haftbefehl gesucht.
La vida es eterna en cinco minutos
Meine Gedanken kreisen um das was war. Bilder aus der Vergangenheit tauchen wie gestochen scharfe Fotografien vor meinem inneren Auge auf.
So, wie die Herbstsonne jedes Detail näher heranholt und schlaglichtartig ausleuchtet, so sind die alten Tage in den letzten Wochen wieder greifbar.
Mit einer Deutlichkeit, in der ich sie vielleicht nicht einmal damals erlebt habe. Steckte ich doch mitten drin in der dicken, undurchsichtigen Suppe meiner Jugend.
Frankfurt war der Schauplatz.
Frankfurt war die Stadt in der die Kaufhäuser brannten und in der Adorno gelehrt hatte.
In Frankfurt stand ich jeden Samstag am Eisernen Steg, umwabert vom Gestank des, im Brückenkopf befindlichen, öffentlichen Pissoirs.
Von dort beobachtete ich das Treiben auf dem Flohmarkt.
In den Pissegestank mischte sich der Geruch von Bier, Räucherstäbchen, dem Naphtalin von Mottenkugeln, Patchouli- und Vanilleöl. Muff.
Kahlgeschorene, in Rot gewandete Hare Krishnas defilierten singend und trommelnd das Mainufer auf und ab.
Wir kifften, tranken Bier und klauten Lederjacken.
Ohne Helm rasten wir mit dem Motorrad durch die Stadt, immer auf der Jagd nach unserem Schatten.
Hare hare, rama rama
Unsere Abende verbrachten wir im Elfer oder in der Batschkapp. Öfters im Theater am Turm, im Cookies oder dem Morrison.
Manchmal auch im fabelhaften Sinkkasten, oder im Höhenkoller, die es inzwischen beide nicht mehr gibt.
Wir besuchten Konzerte und für die ganz großen fälschten wir Eintrittskarten. Trotz unseres Dilettantismus wurden wir niemals erwischt. Man hätte glauben können, dass jemand in dieser Zeit seine schützende Hand über mich hielt.
Lou Reed, The Cure, Dinosaur Jr.
Mit T. betrank ich mich im Dr. Feelgood, einer Eckkneipe auf der Berger Straße, wo er anschreiben lassen konnte. Zu Monatsbeginn, wenn die Stütze kam, zahlte er zuerst die Miete und beglich dann seine Trinkschulden. Von dem was übrig blieb kaufte er sich ein paar Platten.
T. liebte Jimmy Hendrix.
In seiner Wohnung hingen schwarz-weiß Poster mit nackten, gefesselten Frauen von deren Haut Sperma tropfte. Ich bin nicht sicher, ob er, oder sein ewig stinkender Mitbewohner sie angepint hatte.
T. jedenfalls schienen sie überhaupt nicht zu interessieren.
Von Bondage war nie die Rede, und auch sonst war er, abgesehen von seinem Alkoholismus, ein bodenständiger Typ, dessen Berufswunsch das Betreiben einer Ziegenkäsefarm in Frankreich war.
Ziegen mochten wir beide.
Kennen gelernt hatten wir uns beim Trampen.
Ich hatte den vollkommen Betrunkenen vor der Batschkapp aufgelesen und nach Hause gebracht. Im Auto, vor seiner Haustüre versuchte er mich zu küssen, was ich abwehren konnte.
Am nächsten Tag rief ich ihn unter der Nummer, die er mir beim Aussteigen in die Staubschicht auf meinem Auto gemalt hatte an. Die nächsten Monate verbrachten wir zusammen.
Im Haus schräg gegenüber von T. wohnten Terroristen. Sie flogen auf, als sich beim Reinigen einer Pistole ein Schuss löste.
Gerne hätten wir sie kennen gelernt. Wir träumten davon jemanden zu entführen und viel Lösegeld zu erpressen. Ehrensache, dass wir niemandem ein Haar gekrümmt hätten.
Baader-Meinhoff fanden wir grundsätzlich gut, das Töten allerdings erschien mir unnötig.
Erschrecken, erpressen und bedrohen musste doch reichen.
Eine Zeit lang überlegte ich, ob ich nicht meinen Großvater für eine Entführung zur Verfügung stellen sollte. Immerhin war er Bankdirektor und verpfeifen würde er uns später ganz sicher nicht.
Die Idee war uns durch die gründlich missglückte Entführung Pontos gekommen.
Extreme Antriebsarmut und unsere allumfassende pazifistische Grundhaltung liess uns den halbgaren Plan jedoch bald verwerfen.
Let´s drink to the hard-working people
Mein Großvater zog nach Pontos Tod in die Schweiz, wo er sich sicherer fühlte.
In seinen letzten Jahren besuchte er heimlich das Casino und verpulverte dort seine Kohle, bis ihm meine Großmutter auf die Schliche kam.
Wahrscheinlich hätte er an einer richtigen Räuber-und-Gendarm-Posse seine helle Freude gehabt. Solange das Essen gut war.
Ich mochte ihn sehr, den alten Genießer.
An manchen Wochenenden fuhren wir in den Taunus, flackten uns auf eine Wiese und erlebten die stadtnahe Natur im psychedelischen Vollrausch.
Einer hatte seine trächtige Hündin dabei. Zum ersten und bis heute letzten Mal erlebte ich die Geburt von Tierkindern.
Es war großartig. Unglaublich und zugleich so selbstverständlich.
Alle Anwesenden fühlten sich durch dieses gemeinsame Erlebnis zutiefst verbunden.
Liebe, Liebe, Liebe, hing über dem Wald von Oberursel.
Erst am nächsten Tag, nachdem wir wieder halbwegs bei Sinnen waren, fuhren wir, zusammen mit 8 Hundewelpen zurück in die Stadt.
Das Auto meiner Eltern war nach dem Ausflug ziemlich ramponiert. Die Benzinwanne war bei nächtlicher Geländefahrt eingedrückt worden, eine Zierleiste abgerissen und die Beifahrerseite verkratzt. Ich staune bis heute, wie entspannt mein Vater meinen Lebensstil ertrug und mir stets zugewandt und mit stoischem Gleichmut begegnete. Manchmal allerdings rief er mir gute Ratschläge oder Gefahrenwarnungen hinterher, wenn ich das Haus verließ.
Irgendwann musste ich ein paar Termine bei einer Psychologin von der Drogenberatung wahrnehmen. Eine nette Frau, mit altmodisch hochgesteckten Haaren, die am Stock ging, einen Klumpfuss hatte und hautfarbene, orthopädische Lederschuhe trug. Wir quatschten über dies und das, bis ich keine Lust mehr hatte mein schillerndes Leben in düsteren Farben zu malen.
Auf dem Nachhauseweg kaufte ich in der Taunusanlage Cannabis. In der B-Ebene der U-Bahn dann sah ich zum ersten Mal einen Toten. Er hatte die Nadel noch im Arm. Den letzten Termin bei der Psychologin schwänzte ich. Sie rief bei meinen Eltern an, was außer halbherziger Schelte folgenlos blieb.
Ängstlich und besorgt wurde mein Vater übrigens erst, als die schlimmsten Zeiten überstanden waren.
Der Reiter und der Bodensee
Studieren wollten wir nie. Lieber reisen und frei sein.
Vielleicht Fremdsprachenkorrespondentin werden.
Am besten learning by doing.
Sprache als Tor zur Welt.
Auf jeden Fall alles mitnehmen. Drogen, Sex, Musik.
Ian Dury
Bemerkenswert, dass wir fast alle noch die Kurve gekriegt haben.
Ein paar allerdings gingen als Drogentote in die Statistik ein.
Einen von ihnen hat mein Onkel, der Pfarrer beerdigt.
Frankfurt musste ich dann irgendwann verlassen.
Ich suchte mein Glück, erst in die Enge der unterfränkischen Metropole, dann in dem Häusermeer der Hauptstadt. Nach Frankfurt zieht es mich inzwischen wieder gewaltig.
Dort leben noch immer Vater und Schwester.
Die Schwester hat gerade Geburtstag und zu diesem Anlass bin ich in den ICE gestiegen, um den Tag mit ihr zu begehen. Viele ihrer alten Freunde waren zu Besuch.
Manche hatte ich seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen.
Allen scheint es gut zu gehen.
Die Hunde waren, wie immer, dabei.
Aber das ist eine andere Geschichte.