Von Kreuzberg sind wir über die tosende Leipziger Straße bis zum Potsdamer Platz gegangen, und dann weiter Richtung Schöneberger Ufer. Hier, zwischen Staatsbibliothek, Neuer Nationalgalerie, Kulturforum und Philharmonie ist es auf einmal ganz ruhig.
Nowhereland
Der Tiergarten ist nah, die Luft kühler als eben noch.
Ich bin müde.
Wir setzen uns vor den Imbiss gegenüber der Staatsbibliothek, schauen in die Sonne und schweigen.
Einige Meter entfernt, im Schatten des überwucherten Vordaches, sitzen ein Mittfünfziger und seine zwanzigjährige Tochter am Tisch und streiten leise. Die Tochter ist verägert, der Vater scheint abzuwiegeln. Jeder hat ein Bier vor sich stehen. Ein ungewöhnlicher Ort für ein familiäres Gespräch.
Ich schließe die Augen.
Der Unterfranke isst Kartoffelsalat. Der Geruch von Essig und Zwiebeln weht zu mir herüber.
„Willst du?“ fragt er mich.
Ohne hin zu schauen schüttele ich den Kopf.
„Nein, danke.“
Die Stimme der jungen Frau wird lauter, ihr Ton schärfer.
„Du warst nie für mich da“ höre ich sie sagen.
„Ich habe es immer versucht, das weisst du.“
„Aber du warst nicht da, wenn ich dich gebraucht habe.“
Ich möchte nicht weiter zuhören und drehe mich zum Unterfranken.
„Schmeckt das?“
„Geht schon.“
Jetzt wird sie schriller, ihre Stimme aggressiver. Mein Nacken verspannt sich.
„Alles ok?“ fragt der Unterfranke, und ich schaue durch ihn hindurch.
„Nein.“
„Hör einfach nicht hin.“
„Wie soll ich da nicht hinhören?“ sage ich und bin überrascht wie gereizt ich klinge.
Kalte Wut steigt in mir auf, und ich kann mir nicht erklären woher dieses Gefühl kommt. Aber es ist da. Ich öffne meine Jacke.
Von drüben zetert es weiter. Als ich mich umdrehe sehe ich den Mann mit hängenden Schultern am Tisch sitzen. Er raucht und schaut dabei seine Tochter an, die ohne Pause auf ihn einredet.
Sein Gesicht ist zerfurcht, die Haut ledrig. Er sieht heruntergekommen aus.
Die Tochter sitzt ihm gegenüber in knappen Shorts auf der Stuhlkante. Ihre Körperhaltung ist Angriff, so wie auch ihre Stimme und ihre Worte Angriff sind.
Die Ergebenheit ihres Vaters, der ihr keinerlei Widerstand leistet, scheint sie aus der Fassung zu bringen. Sie wiederholt ihre Vorwürfe und wird dabei immer unbeherrschter.
Er war nicht da, der Idiot. Nie war er da.
Sie hat ihn gebraucht. Jetzt braucht sie ihn nicht mehr.
Er soll aus ihrem Leben verschwinden, sich verpissen.
Auf eine unerklärliche Weise machen mich ihre Worte betroffen. Sie tun mir weh.
Zu diesem, für mich unbegreiflichen Gefühl, gesellt sich eine irrationale Verachtung für den Vater, der sich so etwas von seiner Tochter bieten lässt. Der seine Rolle nicht ausfüllt. Der die Tochter nicht einmal jetzt beschützt, indem er sie befreit von dem Hass und der Verzweiflung, die sie ihm entgegenschleudert.
Und mit ihrer Wut wächst auch meine Wut.
„Hör einfach weg!“ wiederholt der Unterfranke, den die Veränderung in meiner Stimmung beunruhigt. Sein Versuch mich zu beschwichtigen bringt mich nur noch mehr in Rage. Mit einem Blick, der mir sofort leid tut bügele ich ihn ab und drehe mich wieder zu den beiden um.
Ich kann nicht anders.
Jetzt erst scheint sie überhaupt zu bemerken, dass sie nicht alleine sind. Sie stoppt mitten im Satz, schaut zu mir herüber und lächelt freundlich. Ihr Gesicht ist offen und sehr hübsch, die Haare lang und glatt. Auch ihr Vater sieht mich nun an, senkt dann aber den Blick. Mit beiden Händen hält er die Flasche fest und wartet.
Tatsächlich dauert die Ruhe nur wenige Sekunden.
„Du bist ein Arschloch,“ sagt sie plötzlich unvermittelt und mit kalter Stimme „ein beschissener Versager,“ und es klingt, als stünde sie mit einem modernen Stück auf der Bühne.
Meine Aufmerksamkeit scheint sie zu immer wüsteren Beschimpfungen anzustacheln.
Eine nach der anderen. Wie ein Maschinengewehr.
Wichser, blöde Sau, heruntergekommenes Schwein
Ich bin fassungslos und mir steigen die Tränen in die Augen.
Anstatt ihr irgend etwas entgegen zu halten, entschuldigt sich der Mann weiter bei ihr.
„Es tut mir leid!“ Seine Stimme klingt jämmerlich.
„Du Flasche,“ denke ich „was ist los mit dir? Wehr dich endlich!“
Ein unbeschreiblicher Zorn, der mich selbst erschreckt, und den ich nur ein einziges Mal zuvor in meinem Leben empfunden habe, steigt in mir hoch und überrollt mich wie eine glühende Walze.
Mein Herz rast, die Hände werden eiskalt.
Auf einmal bricht es aus mir heraus und ich höre mich laut schreien:
„Ruhe jetzt! Ich ertrage das widerliche Gekeife nicht mehr!“
Mein Kinn zittert, als ich der völlig verdutzten Frau voller Hass in die Augen schaue.
Ich höre den Unterfranken, wie er meinen Namen sagt.
Ich höre das Rauschen in meinem Kopf.
Ich höre die Frau, wie sie behauptet, dass mich das alles nichts anginge,
und dann höre ich wieder meine eigene feste Stimme, die jetzt sehr hart klingt und die wie ein Orkan alles nieder mäht, das sich ihr in den Weg stellt.
„Das geht mich nichts an?“ brülle ich. Meine Adern am Hals schwellen an.
„Und wie mich das was angeht, wenn ich hier deine gesprochene Gülle mithören muss.
Wie kommst du überhaupt dazu so respektlos mit deinem Vater zu reden. Bist du noch ganz dicht im Kopf?“
Statt ihre verfluchte Klappe zu halten, versucht sie noch einmal mir irgend etwas von einem Privatgespräch zu erzählen, was mich vollends aus der Fassung bringt und meine Wut ins Unermessliche steigert.
„Privat? Du behandelst deinen Vater wie ein Stück Scheisse, du demütigst und erniedrigst ihn, und belästigst uns damit. Ich will hier in Ruhe mein Wasser trinken, mich ausruhen und mir nicht dein asoziales Gewäsch anhören. Hast du das kapiert? Natürlich geht mich das was an. Entweder hälst du jetzt deine verfluchte Schnauze, oder ich drehe durch!“
Als ich fertig bin, ist es so still, als ob ein Kanonenschlag neben mir explodiert und mein Trommelfell gerissen wäre.
Es klingelt in meinen Ohren, der Verkehr rauscht kaum hörbar im Hintergrund.
Auch der Unterfranke ist erstarrt. Der Imbissbesitzer stiert mich aus seinem dunklen Verschlag an. Vater und Tochter sind eingefroren. Ich bin zu Tode erschöpft.
Wenige Sekunden hält die Ruhe.
Dann springt die Tochter schluchzend auf, wirft dabei ihre Bierflasche um und rennt in Richtung Kulturforum davon.
Ihr Vater torkelt ihr mit schwachen Knien hinterher. Er ist betrunken.
Der Unterfranke legt den Arm um meine Schulter. Meine Zähne klappern, mir ist kalt.
Nach wenigen Minuten kommt der Mann alleine zurück. Er holt seine Packung Zigaretten vom Tisch schaut zu mir herüber und geht zwei Schritte auf mich zu.
Seine hellen Augen sind traurig.
„Danke,“ sagt er “jetzt haben sie meine Freundin endgültig vertrieben. Die kommt nie wieder.“