In die Suppe spucken

Der Bekannte mag nicht mit mir auf den Friedhof gehen, jetzt, wo sie (trotz nächtlicher „Corona-Parties“ (Unwort des Jahres 2020)  wieder geöffnet wurden. Vielleicht ist der Abstand zu den Toten derzeit nicht groß genug.
Am Abend parodiert er Hitler und zitiert Stalin, derweil ich mich vor lauter Angst schwindelig lache. So vergehen die Tage und ich bin froh, dass er umgekehrt ist, nachdem er schon mit seinem Köfferchen das Haus verlassen hatte.

In den kleinen Töpfen keimen die ersten Samen. Kräuter für die grüne Soße.

Heute ist der Geburtstermin eines zukünftigen und mit Liebe erwarteten Enkelkindes. Die Kinderonkologin feiert ebenso ihr Wiegenfest und über dem Haus dröhnen die Rotorblätter eines Helikopters.

Alles was sich anfühlt oder anhört wie Normalität tut gut.
Die Katze jagt ihren Schwanz und tobt einem Streukrümelchen hinterher über den leuchtend gelben Boden. Die Sonne scheint in die Wohnung und malt Bilder an die Wände, der türkische Nachbar musiziert endlich wieder und singt dazu, der Kindergarten hat geschlossen, doch im Garten spielen die vier Kinder der alleinerziehenden Intensivpflegerin, die nun wegen der Krise „eingezogen“ werden soll.
Die Spatzen tschilpen um die Wette und lassen sich auf den inzwischen meterhohen Bambushalmen hin- und herschaukeln. In den Bäumen turteln die hühnergroßen Ringeltauben.

Nachts hört man Lachen aus den Hinterhöfen. Auf den Gaslaternen sitzen tags die Jakobs und krächzen. Ich folge ihrem Ruf.

Lübeck steht nun nicht mehr für die Bucht und die Mutter und ihre Urne, auch nicht für Thomas Mann oder Marzipan, geschweige denn für Hundescheiße oder Fackenburger Allee. Jetzt ist es berühmt für die weltweit größte Fabrik für Beatmungsgeräte und jedes Land bettelt um lebensrettende Lieferungen.

In Berlin verbietet die Polizei den Menschen, auf Parkbänken zu verweilen. Das passe nicht ins Bild und andere könnten sich animiert fühlen, sich dazu zu setzen, argumentieren sie mit der selbstgefällign Höflichkeit derer, die auch ganz anders können.

Willst du über´n Rasen laufen, musst du dir ein Grundstück kaufen.
Spielst du mal im Treppenhaus, schreit sogleich der Blockwart „Raus!“

Exit

Meine Augen brennen, ich bin müde. Mir fehlt die Lust, die neuesten Entwicklungen zu skizzieren. Mit jedem Tag wird eine Infektion wahrscheinlicher. Ich tue so, als wären es die letzten Tage meines Lebens.

Die Schwester hat den Cousin getestet. Positiv.

Es wäre mir lieber, der Bekannte rauchte nicht. Und der Unterfranke wäre etwas vorsichtiger und die Schwester ginge ab sofort in Frührente.

Vor glutrotem Himmel inmitten einer lagernden Menschengruppe steht ein Pferd an einem australischen Strand. Das war erst  im Januar.

Die gealterte Schönheitskönigin steht hinter einer großen Scheibe und blickt in den sommerlichen Garten. Ihre Tochter ist gestorben. Schneewittchen.

Auf dem ersten Treppenabsatz unseres Hauses stand ein weiss lackierter Leiterwagen. Darin die Augensterne der Mutter: drei Porzellanpuppen in hübschen, hochgeschlossenen Kleidchen.
Eines Tages schickte mein Bruder die kleinen Schätze aus Unachtsamkeit auf ihre letzte Reise an deren Ende sie mit geschlossenen Lidern am Fuße der Treppe lagen, die feinen Gesichter mit den herzigen Mündlein zerschlagen.
Die Mutter tobte und weinte bitterlich, zwei Gemütszustände die bei ihr dicht beieinander lagen, wenn nicht identisch waren
Ich ging auf mein Zimmer und lachte verstohlen in mein gekränktes Fäustchen.

Corona. Nun warten wir Risikopatienten darauf, dass den Gesunden die Geduld mit uns ausgeht und den ersten Rufen nach Isolierung und „Herausnahme“ aus dem Alltag die Taten folgen.
Der Bekannte und ich verabreden, im Falle eines Falles an den Kleinen Wannsee zu fahren.

Auf der Lichtung

Corona ist  in meinem Umfeld angekommen.
Die Katastrophe nähert sich in Zeitlupe und plötzlich steht sie vor der Tür.
Ich bin Hochrisikopatientin. Wenn es mich treffen sollte, stehen meine Chancen schlecht. Der „Chef-Virologe“ der Charité sagt, es werden sich vermutlich 70 % der Bevölkerung infizieren.
Als wir noch nachts die Landstraßen entlang torkelten, lief ich stets in Fahrtrichtung. Ich hatte keine Lust, dem Tod in seine runden, leuchtenden Augen zu blicken.
Sollte es mich halt kalt von hinten erwischen. Bis zur letzten Sekunde wollte ich mich sicher fühlen wie das grasende Reh auf der Lichtung.
Heute lese ich News und schaue zu, wie der tonnenschwere Zug sich nähert.
In meinen Gedanken spaziere ich durch Murnau. Jeden Schuppen besuche ich und jedes Kreuz am Wegesrand. Ich habe solche Sehnsucht nach den Alpen und nach dem See.

Gutdünken

Gutdünken will Weile haben

 

 

Der Kanzler hat den Verstand verloren, oder den letzten Anstand. Ich weiss nicht, was ich schlimmer finden soll und habe selbstfürsorglich den Knopf gedrückt. Vorn beim Schaffner leuchtet bereits das rote Licht, in meinem Kopf läuten tonnenschwere Glocken.

 

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Von Westen zieht die Nacht heran. Im Osten unseres Landes ist noch kaum jemand infiziert. Was werden sie frohlocken am Stammtisch in Velten, dass man (CDU, NPD und AfD) aus „Angst vor Entfremdung“ jeden Zuzug sowie Autobahn- und S-Bahn-Anschluss unterbunden bzw. gekappt hat. Die Suppe dickt ein zu braunem Matsch aka Volkskörper.

 

 

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(Wie schlimmer Liebeskummer fühlt sich das plötzliche Abgeschnittensein an)

 

 

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Jeder Mensch ist berechtigt, nach Gutdünken mit seinem Geld umzugehen, auch wenn er z.B. durch verschwenderischen Lebensstil eine Bedürftigkeit herbeiführt, die ihn vom zigarrerauchenden Casinobesucher zum darbenden Sozialhilfeempfänger macht (korrekterweise müsste ich Sozialhilfeempfänger*in schreiben, doch die Bedürftigkeit überlasse ich den Männern, die haben naturgemäß mehr Schotter).

Den obenstehenden Satz habe ich ehrlicherweise nur geschrieben, um das Wort Gutdünken, nicht zu verwechseln mit dem standesgemäßen Dünkel oder den beineschleudernden Funkemariechen (hä?) verwenden zu können, rangiert es bei mir doch in der gleichen Liga wie herumfuhrwerken, herunterwirtschaften, Streichholz, Auspuff und Schneeschuh – nämlich ganz weit oben.

Schneeschuh, so dachte ich, als ich demletzt unter der Dusche stehend der braunen Lavaerde hinterhersah, die das warme Wasser von meiner Haut und an den Rand des Abflusses gespült hatte wo sie sich als unschönes Sediment kreisrund um das Sieb herum absetzte, was, so ich nicht die tüchtige und gewissenhafte Hausfrau wäre, die ich bin, beim nächsten Besucher meines winzigen (inconvenience) Bades zweifelsohne Fragen aufwerfen und mich in Verlegenheit bringen würde (haste kein Katzenklo?).

Schneeschuh als Sinnbild für netzwerken, dachte ich, nur das Geflecht trägt Alle sicher durch die Gefahr. Ohne den Zusammenhalt versackt bzw. versinkt der Einzelne in der Kälte, dem Winter, der Klamm und erfriert. Zugegebenermaßen eine etwas billige und vordergründige Symbolik, wie etwa der in den Keller fahrende Lift, der den Untergang ankündigen soll, und in Wahrheit nur den Blick auf die Einfallslosigkeit des Regisseurs freilegt, doch in Anbetracht der Sauerstoffknappheit des fensterlosen, zugedampften Minibades, sind solche Gedänkchen mehr, als ich von meinen grauen Zellen (um auch einmal diese gründlichst vernutzteste hässlichsteste Formulierung zu verwenden, die in einer Liga mit Gehirnjogging und Powerfrau spielt) erwarten kann bzw gewohnt bin.

Mein privater Schneeschuh jedenfalls hat sich ganz unerwartet (mir nichts, dir nichts) und mit einem Streich bzw., mit einer Streichung (what a difference a word makes) auf ein handtellergroßes Netzchen bzw. Fetzchen reduziert, kaum geeignet irgendwen noch zu schützen oder auch nur zu stützen, geschweige denn, überhaupt nur ein Ferrero-Küsschen zu tragen. Genauso gut könnte ich gleich aufgeben, mit der Ferse ins Eis hacken und auf meinen sicheren Untergang warten.

Alles auf Neuanfang; der Frühling naht.

Für April, dem grausamsten der Frühlingsmonate, war eine Reise  an den Starnberger See nach Frankfurt geplant. Drei Tage zum Geburtstag des Kanzlers. Doch wegen der neuen Sachlage und des Unerwünschtseins nicht nur seitens der bösen Stiefmutter, musste ich umdisponieren und werde stattdessen an die Lübecker Bucht fahren wo vor inzwischen fast vier Jahren meine Mutter bestattet bzw. in die Ostsee verklappt wurde und in deren Nähe ich mich seither trotz langjährigem Lübeckfantums, nicht mehr heran gewagt habe. Zu groß die Angst vor klaftertiefen Schmerzabgründen.

Ironischerweise ist der 20. April aber nicht nur Hitlers Geburtstag der Geburtstag des Kanzlers, sondern zugleich auch Hochzeitstag meiner Eltern (angesichts der erzwungenen Eheschließung eine doppelt bittere Pille) sowie das Datum der beiden letzten Begegnungen mit meiner Mutter (zwischen denen 20 Jahre lagen).

Um meine zu erwartende Melancholie schon im Vorfeld abzufedern, haben die mitreisenden Freundinnen mir in glucksender Vorfreude und bei einem guten Gläschen Rioja versprochen, sich in Lübeck an meiner Statt gemütlich volllaufen und mich mittels Telelallie an ihrem rasenden Reiserausch teilhaben zu lassen.

Dass unsere Unterkunft unweit der Fackenburger Allee liegt, werten wir drei als ein gutes Vorzeichen. (Hoffentlich gibt´s auch Hundescheiße in Lübeck, sagt Wilhelmine. Bestimmt, beruhige ich sie, und wenn nicht, kümmern wir uns drum).