Vor vielen Jahren verbrachte ich 6 Monate stationär in der Uniklinik Würzburg.
Station 2 Nord. Neurologie.
Mit mir im Zimmer lag eine etwa 50 Jahre alte Frau, die an einem anaplastischen Astrozytom erkrankt war. Einer Vorstufe zum Glioblastom. Beides Hirntumore.
Sie bekam eine Chemotherapie und musste sich häufig erbrechen. Auch in der Nacht.
Regelmäßig wurde ich wach und hörte, wie sie sich im Bad quälte.
Wenn sie das Zimmer verließ, trug sie einen großen dunkelblauen Strohhut. Den setzte sie auf das Tuch, das sie sich zuvor um den Kopf geschlungen hatte, um die lange, rote Operationsnarbe und die kahlen Stellen zu verbergen. Die Kopfbedeckung verlieh ihr einen exzentrischen Ausdruck der durch eine korallenrote Lederhandtasche, die sie immer bei sich trug, und durch einen weiten, dunklen Kaftan, der ihren knochigen Körper verhüllte, noch verstärkt wurde. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen, die Augen blickten aus grauvioletten Höhlen. Wimpern hatte sie keine mehr. Zwischendurch gab es Phasen, in denen es ihr etwas besser ging und sie regelrecht zutraulich und redselig wurde. Unvermittelt stand sie dann auf, postierte sich am Fußende meines Bettes und legte los. Mit allem. Mann, Ehe, Familie, Krankheit, Tod.
Eines Tages stand sie wieder da und quasselte ohne Pause, fast atemlos auf mich ein, obwohl ich Musik auf den Ohren hatte und meine Augen geschlossen waren. Plötzlich stoppte der Redeschwall und sie blickte durch mich hindurch in die Ferne.
„Wenn die Chemo nicht wirkt, bin ich verloren“, sagte sie, so als wäre ihr die entsetzliche Wahrheit erst eben bewusst geworden. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und lächelte sie unsicher an. Gerne hätte ich ihre Hand gedrückt, denn obwohl sie mir nicht wirklich sympathisch war berührte mich ihr Schicksal, das ich so hautnah miterleben musste, sehr. Sie wandte sich ab und ging ins Bad. Durch die Wand konnte ich sie schluchzen hören. Von diesem Tag an weinte sie viel und verzweifelt.
An einem Morgen legte ich mich nach dem Frühstück noch einmal ins Bett und döste vor mich hin, während der Krankenhausalltag lärmend seinen Lauf nahm. Es ist nicht zu glauben, wie oft die Tür in den ersten Stunden nach Dienstwechsel aufgeht und wie wenig Ruhe die Kranken finden. Einer bringt das Frühstück, eine die Tagesration an Tabletten. Die nächste misst Temperatur und fragt nach dem Stuhlgang. Dann kommen gleich zwei zum Bettenmachen und Stoßlüfen. Das Frühstückstablett wird wieder abgeholt. Der Masseur kommt vorbei und bringt die Fangopackung auf einem heißen Blech herein. Ruhen soll ich, sagt er. Schließlich kommt die Putzfrau, füllt den Sterilium-Spender neben dem Waschbecken auf, wischt alles ab und feudelt mit stark riechendem Reinigungsmittel um die Betten herum. Sie ist es auch, die ich plötzlich schreien höre und aus dem Raum in den Flur stürzen sehe. Kurz danach trampeln gleich mehrere Krankenschwestern in unser Zimmer, ein junger Arzt kommt dazu. Sie machen sich an der Nachbarin zu schaffen während die Putzfrau weinend in der Türe steht und mich entsetzt anstarrt.
Meine Zimmernachbarin ist neben mir gestorben.
Diese Erinnerungen und einige andere mehr kommen mir hoch, wenn ich im Blog von Wolfgang Herrndorf lese, der seit 3 ½ Jahren mit einem unheilbaren Glioblastom lebt und in tagebuchartigen Aufzeichnungen sein Sterben beschreibt. Seine Ängste, die OPs, die Chemo.
Seit Juli wirkt das Avastin nicht mehr, das zuvor die beiden Tumore im Kopf zumindest in Schach hielt und ihn zu einem Langzeitüberlebenden dieses extrem bösartigen Tumors gemacht hat, der den Betroffenen meist nur wenige Monate lässt.
Herrndorf beschreibt wie ihn, den Schriftsteller, mehr und mehr die Sprache verlässt. Wie er nach Worten sucht, sich nicht mehr ausdrücken kann. Seine Scham darüber, die Todesangst, die Verzweiflung. Und ich lese mit und leide mit ihm, ohne ihm je begegnet zu sein. Bei jedem seiner, in unregelmäßigen Abständen veröffentlichen, Blogeinträge macht das Herz einen kurzen Sprung. Lange Schreibpausen beunruhigen mich. Nachts träume ich von Krankheiten, den Monaten in der Neuro, vom Sterben. Obwohl mich seine Blogeinträge mitnehmen, kann ich nicht aufhören sie zu lesen. Es ist, als würde ich einem Flugzeug beim Abstürzen zuschauen.
Erst wenn es aufschlägt, werde ich die Gewissheit haben, dass nichts mehr zu retten ist.
Vorher kann ich nicht wegschauen.