Hassknochen

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Der Nachbar gibt sich selbstbewusst und sitzt breitbeinig da während wir reden. Ich solle doch, sagt er, beim nächsten Mal wenn ich wieder Probleme habe einfach zu ihm kommen und mit ihm sprechen, statt mich andernorts zu beschweren. Das fordert Jemand, der seit Jahren die Poizei anruft, wann immer er auch nur den Hauch einer Chance wittert, mir eine Ordnungswidrigkeit anzuhängen oder mir sonstwie gegen den Karren zu fahren, was allerdings selten klappt, eine so (beinahe) vorbildliche Bürgerin die bin ich. Gelangt hat es mir vor ein paar Monaten, als er vor lauter geiferndem Hass schließlich tätlich wurde, was er vor dem Polizisten, der das Gespräch initiiert hat und diesem heute beiwohnt, selbstverständlich abstreitet. Niemals hat er in irgendeiner Weise! Ich muss ihn verwechseln. Den Austausch der Telefonnummern, den unser Mediator vorschlägt, lehnt er ab, er habe schließlich keine Probleme mit mir, wozu dann meine Nummer notieren. Und ganz am Ende des Gespräches zeigt er, der bekanntermaßen die Wohnungen in seinem Haus nur an Deutsche vermietet, dann doch noch sein Gesicht und wettert aus dem Nichts gegen die Flüchtlinge in meinem Haus. Immer laut seien diese. Rücksichtslos belästigten sie die ganze Straße, hielten nachts alle wach, es hagele nur so von Beschwerden. Schlimm, schlimm, schlimm. Glatt gelogen, denke ich und sage dies auch in etwas abgemilderter Form, während in meinen Augen längst schon Hakenkreuze und Kalschnikows aufblitzen, wie meine Ostberliner Freundin zu sagen pflegt, und ich ihn vor meinem inneren Auge bereits im Schwitzkasten habe. Meine Mimik versteinert, die Haut fühlt sich ledrig an, ich könnte jetzt, selbst wenn ich wollte, nicht mehr lächeln. In meinen Gedanken wünsche ich dem 80-jährigen Hassknochen einen übel juckenden Ausschlag an all die Organe, die allein Männern vorbehalten sind (aus Angst vor dem gefürchteten Spiegelungseffekt von Verwünschungen) und halte zähneknirschend meine Klappe. Schließlich sind wir ja hier, um uns zu vertragen. Die Rothaarige, die mich netterweise zu diesem unangenehmen Termin begleitet hat und deren souveränen Umgang mit Arschgeigen ich seit jeher bewundere, lächelt ihn nur gütig und ein wenig herablassend an, wie jemanden, den man für so stulle hält, dass jedes Wort reine Verschwendung wäre.
Zum Abschied reiche ich ihm die Hand, die er widerwillig entgegen nimmt.
Als die Rothaarige und ich anschließend durch den prasselnden Regen nach Hause hetzen, bin ich einerseits ratlos und andererseits erleichtert. Der Termin ist vorbei, jetzt sollte Ruhe sein.

Nur eine Stunde später aber sehe ich, wie meine böse Vermieterin und der böse Nachbar in unserem Hauseingang die Köpfe zusammen stecken. Aha, denke ich, die beiden kennen sich also. Und mein innerer Sensor sagt zuerst: Passt doch. Und dann: Obacht!

 

 

 

 

 

 

 

Bild: flickr, hermes marana, cichy kacik23
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/

 

K- wie kommentarlos

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Man schenke den Worten der Menschen keinen Glauben, wenn sie sagen: ich verstehe dich. Das mag manchmal annähernd stimmen, tut es aber meist nicht, weil ein Mensch einen anderen eben nicht verstehen, sondern ihm sich nur gedanklich oder emotional annähern kann und weil eben auch oft zuviele Eigeninteressen dem Verständnis entgegenstehen. Jeder Mensch möchte gerne gesehen werden. Dem Anschein nach selbst dann, wenn der Andere blind vor Angst in einem brennenden Haus eingeschlossen ist und seine Aufmerksamkeit nicht von den in seinem Rücken lodernden Flammen abziehen kann.

Mir einen längere Mail, in der ich meine derzeitige Situation beschreibe und mich ansonsten nicht weiter in Geplänkel verliere, unkommentiert zurückzuschicken, zeugt jedenfalls nicht von Verständis sondern vom genauen Gegenteil.

Ich bin´s manchmal so leid die Erwartungen anderer erfüllen zu sollen, die kein Verständnis für meine angespannte Lage haben, für die ich seit Monaten so ziemlich alle Kräfte bündeln muss, um nur halbwegs über die Runden und so unbeschadet wie möglich heraus zu kommen, es aber tatsächlich nicht auhalten, dass ich bei diesem Ringen nicht in der Lage zu smalltalk oder meinetwegen auch deeptalk bin.

Ertrinkende plaudern eben nicht.

(Zuviele, zu starke Metaphern: Feuer, Wasser, am Ende wahrscheinlich noch ein Erdrutsch. Man wird sehen).

Ab 1. August bin ich voraussichtlich nicht mehr krankenversichert. Die nächste Eskalation in meinem Katastrophenshowdown, denn kaum etwas brauche ich nötiger als eine Krankenversicherung, zumal als chronisch Kranke. Die zuständigen Behörden schieben die Verantwortung hin und her, alle haben irgendwie Recht und ich steh da und weiss nicht wie es werden soll und bekomme Mails in denen ich über meine Misere berichte als unkommentierte Kopie zurück und denke sehnsüchtig an den Müllschlucker im Haus der Freundin früherer Tage zurück in dem ich zu gerne den ganzen Ballast versenken würde, ihn mit Schmackes hineinwürfe und ihm nachhorchte, wie er beim Herunterfallen schwer gegen die Schachtwände schlüge während ich lässig plaudernd oben an der Klappe stünde und nach dem Verklingen des letzten Tones fröhlich auflachte, dem Müllschlucker den Rücken zukehrte und hinaus ginge in den Garten, um dort Federball zu spielen, oder in der Hängematte liegend die Ameisen zu beobachten, wie sie ihren Blattlaus- Gefangenen am kleinen Ahorn die Flügel absäbeln, um sie an der Flucht zu hindern und wo ich mich, versunken in diesen Anblick,  fragen würde, wieso die Welt so beschaffen  ist wie sie ist. Hätte Gott doch auch ganz anders.

 

 

 

 

Good morning, sinners!

 

 

 

 

 

P.S.: Morgen findet endlich das Treffen mit dem übergeschnappten Nachbarn und dem Kontaktbereichsbeamten statt. Eine Art Mediation, damit er mich künftig in Ruhe lässt. Ich hoffe er bringt nicht seine Machete oder sein Schnitzmesserchen mit, denn ich bin ja bald nicht mehr krankenversichert und könnte mir größere Fleischwunden folglich nicht leisten. Oder käme für meinen Personenschaden seine Haftpflicht auf.
Einen Polizisten immerhin hätte ich als Zeugen gleich dabei.

kein Titel zur Hand

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Man muss sich das Ganze als einen weitläufigen Saal mit holzgetäfelten Wänden vorstellen. In der Mitte des Bodens klafft ein schrankgroßes Loch, abgedeckt mit einer Glasplatte. Durch das Loch blickt man auf eine hügelige Sommerlandschaft mit Feldern im Schachbrettmuster, mehr grün als gelb. Hier der Zwiebelturm einer Kirche, dort das graue Band einer Straße, darauf Fahrzeuge, die sich langsam nach vorne schieben, wie Käfer.
Der Saal hat keinen Ausgang, doch auf den Längsseiten befinden sich Fenster. Mit ausgestrecktem Arm greife ich durch eines hindurch in den kalten, transparenten Himmel hinein, wo in der Ferne turmhoch die Wolken sich stapeln wie sonnenbeschienene Gebirge. Durch das Loch im Boden sehe ich die Wolkenschatten, wie sie hinwegfegen über Hügel und Felder.

Ich bin allein hier oben. Unter mir ist Tiefe, ist Welt.

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Ich stehe auf Gespenster. Ich mag allein das Wort schon so gerne, dass ich mich freue und lächeln muss, wenn ich es höre, lese oder schreibe. Das kleine Gespenst war und ist mir schon immer eines der Liebsten.

Da ich vor einiger Zeit ein etwa haselnusskerngroßes Gespenst, das im Dunkeln leuchtet, über Etsy gekauft und mich dort außerdem bei diversen Raben- und Krähenprodukten umgeschaut habe, bekomme ich nun täglich und frei Haus Gespenster und Raben in allen Varianten angeboten, gehäkelt, getöpfert, gefimot, gezeichnet usw. So schafft es Tante G**gle mit ihren Algorithmen mir eine Freude zu bereiten, ohne das ich je darum gebeten hätte. Das ist das Gute am Schlechten.
Mein Lieblingsgraffito seit vielen Jahren ist übrigens auch ein Gespenst, das eine nicht mehr aktive Sprayerin überall in der Stadt hinterlassen hat. Viele ihrer Gespenster erblicken erst wenn es dunkel wird das Licht der Welt, wenn nämlich die Rolläden der Geschäfte, auf die sie gesprayt wurden heruntergelassen werden und die arbeitende Bevölkerung nach Hause geht. Erst am Morgen verschwinden die Gespenster wieder in ihren Kästen und schlafen dort bis zum nächsten Abend während unter ihnen die Tagaktiven ihr Leben leben.

 

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Meine Cousine ist ein sehr gläubiger, ein großzügiger, ein fürsorglicher und lieber Mensch. Und weil das so ist und wir uns mögen und ich manchmal auch ein Glückspilz bin, sind ein paar meiner größten Sorgen inzwischen ein bißchen kleiner und ich kann mir, dank ihrer, den juristischen Beistand leisten, den ich brauche, damit es weiter geht.

Außerdem: mein vor Jahren bei einem Unfall verletztes und seither immer angeschwollenes Knie, ist unglaublicherweise und aus heiterem Himmel wieder gazellenschlank und meine Lieblingshosen sitzen tippsitoppsi und sehen derart gut an mir aus, dass ich mich beinahe in mich selbst reinverlieben täte,  wäre ich nur narzisstisch genug.

 

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Beim Aufräumen habe ich etwa 200 intakte oldschool Glühbirnen entdeckt (ja, stellen Sie sich meine Wohnung ruhig in ihrer unendlichen unüberschaubaren und unergründlichen Weitläufigkeit vor und werden Sie ihr noch lange und niemals, selbst in Ihrer verwegensten und abwegigsten Fantasie,  nicht gerecht damit).  Außerdem fand ich das schwarz-weiss Foto eines Freundes vergangener Tage. Unter schwerem Wolkenhimmel steht er, den Körper dem Wind entgegen geneigt, am Meer, eine Hand beschirmt die Augen, sein Blick ist auf die raue See gerichtet.
Unter seinen Füßen der Sand.

 

 

 

 

 

 

Bild: diada, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Das richtige Leben

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Bilder nicht werten, sie aufblitzen lassen wie die Fotos in den handtellergroßen Souvenir-Plastikfernsehern. Drückte man einen Knopf erschien das nächste Bild. Eine Kirche, ein Rathaus, die Berge, der See. Alles war Vorbereitung, Instruktion für ein Leben, das beginnen würde sobald die Canyons im Schweiße des Angesichts gegraben und der Fluss endlich in seinem Bett angekommen wäre. Was davor war, war Interim, so wenig richtiges Leben wie Chappi.

Eine Geschichte schreiben die nicht die eigene ist während die eigene unbeachtet weiter plätschert wie Wasser im Rinnstein und das Laub sich sammelt auf dem Abflussgitter und modert. Dieses Bild taugt für nichts und steht doch so da. Entstanden als ich mein Leben kurz aus den Augen ließ und Laub sich sammelte, das ich sonst vielleicht beiseite gefegt oder gespült hätte um der Verstopfung des Abflusses vorzubeugen.

Das Alleinsein tut mir gut. Ich atme tief und in die Nacht hinein. Wenn ich nicht schlafen kann, höre ich Julia Franck über deren Stimme ich noch unschlüssig bin, ob scheiße oder gut, so meine vereinfachte Formel, welche auch für Katja Riemann galt, als Frage, eine kurze Zeit lang allerdings nur, dann stand die Antwort fest. Kristallklar. Dass ich überhaupt darüber nachdenken musste.
Schwarz und weiß gefällt mir, solange ich die Farben im Hinterkopf und zur Auswahl habe.
Kontrastreich auch die tägliche Nonne in der Planckstraße mit ihrer schwarz-weißen Kluft. Am rechten Handgelenk der passende Nylonbeutel, schwarz mit großen weißen Punkten, welche Reihe für Reihe, von oben nach unten hin, größer werden. Der umgekehrte Paranusseffekt. Was mag die Nonne wohl einkaufen und in den heimischen Stock tragen?

Ich mag das Leben an diesen Unorten, an denen niemand wohnt aber viele arbeiten und wirken und dabei ihre eigenen kleinen Netzwerke spinnen. Verbindungen, die erst sichtbar werden, wenn man länger hinschaut. Ein Bühnenstück.
Da ist zum Beispiel der Wäschemann mit dem langen krausen, zum Zopf gebundenen Haar, dessen schmaler Körper in einer Arbeiterlatzhose steckt, die ihm einen runden Kinderpo formt und der Tag für Tag mit dem LKW vorfährt, die Hebebühne herunterlässt und große Wagen voll mit Laken, Handtüchern und Bettbezügen auslädt, die er vor der Einfahrt zur Tiefgarage abstellt und dann, einen nach dem anderen, in das Hotel schiebt, wo fleißige Arme sie entgegennehmen und ihm die leeren Wagen des Vortages übergeben. Immer scheint er guter Dinge und niemals seiner Arbeit überdrüssig zu sein. Im Gegenteil: federnden Schrittes und mit zufriedener Miene bewegt er sich durch Hitze und Regen und Wind und selbst das Hupen der verärgerten Tiefgaragenbesucher kann ihm nichts anhaben. Er winkt dann jedes Mal freundlich, fährt den LKW ein Stück nach vorne und schiebt, so rasch er kann, die Wäschewagen aus der Zufahrt, bis die erste Mutter mit Kinderwagen oder ein Rollstuhlfahrer sich über den zugestellten Gehweg beschwert. Auch diesen versucht er es recht zu machen, was nur wieder auf Kosten der Freizügigkeit der Tiefgaragenbenutzer gehen kann, deren Unmut nicht lange auf sich warten lässt. Ein Jongleur ist er, denke ich. Einer, der seinen Beruf beherrscht, was sich weniger in seinen routinierten Bewegungen, als in seinem warmen Lächeln zeigt, das er den Menschen um sich herum schenkt und mit dem er jeder Situation ihre Spitze nimmt.
Gerne wäre ich ein bisschen mehr wie er.

Es ist Sommer, der längste Tag bereits vorbei, der Löwenzahn verblüht, die Kastanien tragen kleine Igel und im Plänterwald streicht ein Mann umher. Strack wie Bolle schiebt er einen Buggy voller Spirituosen die Wege entlang und lässt diesen prompt stehen, als er meiner ansichtig wird. Schon hetzt er mir hinterher. Jeder von uns atmet schwer, der Eine aus seiner Geilheit heraus, die Andere getrieben von Angst, und in der Nacht, wenn ich nicht einschlafen kann und Julia Franck mit ihrer angenehmen aber doch überlieblich angelispelten, zauberhaftigen Stimme zu mir spricht, sehe ich wieder sein Gesicht, eingerahmt von fettigen Haarsträhnen. Ich rieche ihn, den ranzigen Talg, seinen Schweiß und den sauren Atem, die hemmungslos entfesselte Gier und ich sehe mich zwischen den Büschen auf der Flucht, die rettende Haltestelle ist nicht weit, dazwischen nur ein Zaun mit einer fehlenden Strebe als Durchschlupf und auf einmal bin ich dreizehm und der Onkel wohnt keine 100 Meter entfernt und ich erreiche weder den Bus noch den Onkel, der wahrscheinlich gerade bei offenem Fenster Klavierunterricht gibt, in die Tasten haut und die Wut über den verlorenen Groschen spielt, oder den Türkenmarsch oder war es der Götterfunke.
Zuhause angekommen steht die Mutter schon im Flur. Um 6 Minuten habe ich mich verspätet und ich weine und sie verhängt Hausarrest, eine Woche für jede Minute, und ich verlasse das Haus auch dann nicht, als ich lange schon wieder darf.

 

 

 

 

 

 

Bild: Aaron Noble, untitled, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Beletage

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Nehmen Sie einfach viel Geld in Ihre edel beringten Hände und kaufen Sie damit
Leben pur ab 8.000 € pro Quadratmeter.

1000 Jahre Vergeblichkeit

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Abendstunde –
im Klang der Gläser
ein neuer Ton

Ilse Jacobson

 

Am Grimm-Zentrum, dem stadtbekannten, als Bibliothek getarnten, Kontakthof treffen sich Männer mit dunklem Vollbart und Primatenkörper in Ringelshirts, mit Frauen, ready for Bewunderung for the Standmuskeln of the Fitnessstudio-bodyshaped-men. Nach meiner Ästhetik ähneln die Männer. Ich staune, dass sie überhaupt lesen, geschweige denn. Aber lassen wir das.
Der Filmemacher erzählt von den Schwierigkeiten, einen nicht gepumpten, gebräunten und tätowierten Darsteller für einen Film über die 80er zu finden, als Männer noch Schlakse waren und Körper nicht Produkte.
Nein, natürlich war nicht alles besser früher, nur anders, auf eine Weise, die mir als zukünftigem Fossil vertrauter und deswegen freundlicher erscheint. Doch andererseits ist soziale Kälte und Verschwachsinnung der Gesellschaft nicht nur eine Behauptung, sondern eine statistisch-empirische Wahrheit in meinem Erbsenzählerkosmos. Überall neue Menschen, denke ich, mit Reptilienblick und langen glatten Haaren oder Bärten. Mit Bachelor und Master und Projektmanagement-Expertise und Apps für alles. Megakrass, voll süß, total geil. On fire.
Ich staune. Ich wehre mich. Ich halte still. Das Universum rast über mich hinweg wie ein Nachthimmel und während wir lange schon nicht mehr die Krone sind und bald schon nur noch Wellenschaum, geht anderswo die neue Saat auf. Unbekannte Pflanzen, die ich lernschwache Hummel nicht kenne, nicht dechiffrieren, nicht verstehen kann.

 
Als ich nach deiner Abreise die Thermoskanne mit dem vergessenen Kaffee ausschütte denke ich: der Wurstzipfel hängt jedes Mal ein Stückchen höher. Ich werde ihn nie zu fassen bekommen. 1000 Tage Vergeblichkeit.
Wenn die Brücke nicht trägt, so sagst du, kannst du sie nicht betreten. Ich sage: ich bin keine Brücke und strecke dir meine Hand entgegen.

Meine Trauer ist Resignation gewischen, ein bitteres Auflachen nach jedem verstrichenen Tag, den wir, jeder für sich, beenden. Nie wird es anders sein. Es brauchte Zeit das zu begreifen, und die kleinen Zipfelchen deines Lebens, glimpses, die du mir ab und an als Vorschau auf einen Film zubilligst, ein Rettungsring, ein Akt der Gnade, ein Zugeständnis, sie kränken mich nur und ich greife nicht mehr nach ihnen, denn sie tragen mich nicht. Eine Fata Morgana, ein unscharfes Foto blühender Bäume somewhere an der Elbe, ein Fußballtor im Hintergrund und irgendwo du und dein Leben. Ich mag nicht mehr suchen danach und dich doch nie finden, weil du den Ausschnitt, wie stets, so wählst, dass du verborgen bleibst und längst schon durch den Ausgang verschwunden bist wenn ich den Raum erst betrete. Es sind Glasperlen statt Brotkrumen und sie nähren mich nicht. Ich bleibe hungrig. Andeutungen, Versprechen, uneingelöst über Jahre. Verfallene Lose, eine Lotterie ohne Gewinn. Die Schatulle ist verschlossen. Als wüsste ich nicht und doch schweigst du und ich mit dir, als wüsste ich nicht und als wüsstest du nicht, dass ich weiss. Du schweigst und ich betrachte das Foto deiner Füße am Strand, das du mir vor langer Zeit schicktest und ich denke: ich würde sie sowenig wieder erkennen wie dich.
So wolltest du es. So ist es.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: bswise, birdman, flickr
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Wimmelbild mit tsruwtarB

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Bei Frau Merkel um die Ecke geht es so zu: die Bratwurst ist spiegelverkehrt, die Krakauer lustig oder lustvoll und Senf & Ketchup gibt´s aus hängenden, euterartigen Melkflaschen. Leuchtmänner sitzen auf Bänken, Schilder warnen und Zäune verwehren. Obendrüber die Hochbahn mit geballter Faust und wolkigem Gekringel.
In unserem Rücken ist gerade Flohmarkt, dahinter steht das Bode-Museum wie ein dicker Knödel auf der Museumsinsel. Es handelt sich übrigens um jenes Museum, aus dem unlängst eine 100 kg-Goldmünze gestohlen und diese inzwischen wahrscheinlich zu Winke-Dildos umgeschmiedet wurde.
Vor dem Haus, in dem die Kanzlerin wohnt, vis à vis des Pergamon-Museums, fahren gerade wichtige Männer mit schwarzen Limousinen vor, derweil einer der wachhabenden Polizisten seinem Kollegen ganz selbstvergessen und ungeniert im Gesicht herum fummelt und die beiden kurz davor sind, sich zu küssen.
Ach, Berlin.

 

 

 

 

 

 

Bratwurst in Spiegelschrift liest sich auf den ersten Blick wie Brustwarze.

 

 

schrei wenn du brennst

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Dieser Text endet viel heiterer als der Titel vermuten ließe

Schrei wenn du brennst, steht auf der Betoneinfriedung am Eingang des Parks und ich gedenke des unbekannten Menschen, der dort (selmals) kauernderweise seinen Schmerz in die Welt gesprayt haben muss. Schrei, wenn du brennst.

Hätte er doch bloß ein Bündel Geldscheine zur Hand gehabt, es angezündet und in stummer Zufriedenheit über das kurze Aufscheinen einer ungeahnten, neuen, alten Freiheit oder Autonomie den hellgrauen Ascheflocken hinterhergeblickt während diese mottengleich aufstiegen in die nächtliche Luft und sich in der Dunkelheit verloren, hätte dieses Erlebnis möglicherweise alle Pein von seiner Seele genommen.
Unten das Feuer und oben Ihr.

Schrei wenn du brennst begleitet mich seit Jahren und manchmal betrete ich den Platz vorsätzlich von der anderen Seite, um den Schriftzug nicht sehen und nicht darüber nachdenken zu müssen. Doch der Fleck an der Wand macht das abgehängte Bild noch präsenter.

Es ist genau diese kleine, besprayte Betoneinfriedung, dieses unwirtliche Mäuerchen, zu der es mich an manchen Abenden als dem letzten warmen Fleckchen zieht, ehe die Sonne, die es eben noch mit ihren Strahlen bedacht hat, hinter den Türmen des Künstlerhauses Bethanien verschwindet und bald schon die Fledermäuse über die Wipfel der Platanen streifen.
In diesen vergoldeten Minuten ist schrei-wenn-du-brennst der Ort, an dem ich mit geschlossenen Lidern verweile, das Geflecht der roten Adern die hinter meiner Stirn aufleuchten betrachte und mich so lebendig fühle wie selten.

Der Sommer macht uns alle unsterblich, auch wenn der Brunnen tief und schwarz, sein Gluckern unheimlich und der Geruch modrig ist.
Jede Wirklichkeit ist saisonal.

 

 

 

 

 

 

(Musik zum Text: Nick Cave, Mercy Seat, https://www.youtube.com/watch?v=t6p5nw6zZig – youtube-Direktlink)