Ich möchte nicht mehr, dass Du zu Deinem Vater ins Auto steigst, sagt meine Mutter, als ich sie auf halber Treppe treffe. Sie hält einen voll beladenen Wäschekorb in den Händen, der Duft von Waschmittel steigt mir in die Nase, ich schaue sie an. Ihr Blick ist ernst, nichts verächtliches oder heimtückisches liegt darin, auch ihrer Stimme fehlt der übliche abschätzige oder drohende Anklang. Sie meint es so, wie sie es sagt und sie meint es gut. Das ist das Beunruhigendste.
Wann genau das war, weiß ich nicht mehr. Es muss nach meinem Aufenthalt in der Uniklinik gewesen sein, ob Wochen oder Monate oder vielleicht sogar Jahre später – ich kann es nicht sagen. Die Erinnerung an diese Zeit liegt sorgsam verschlossen. Nur selten habe ich das Bedürfnis und den Mut an diesen Ort der Angst zurück zu kehren.
Das einzig konkrete Bild aus den Tagen in der Klinik, ist das eines verdorbenen Apfels, den ich in der Nacht gegessen habe und dessen zerfressenes Gehäuse ich am nächsten Morgen auf dem metallenen Nachttisch finde, braun und voller Wurmkot. Mich ekelt vor mir.
Auch an das fahlweisse Licht, das durch die Thermoglasfenster in das überheizte Krankenzimmer fällt, erinnere ich mich und an einen Brief des Pfarrers, der mich konfirmiert hat, an seine guten Wünsche für mich, an die Schmerzen in dem Gewebe unter der Operationsnarbe, die wie ein borstiger Tausenfüßler auf meiner Haut sitzt.
Das Gesicht meiner Bettnachbarin ist mir abhanden gekommen. Sie litt an Myasthenia gravis, das weiß ich noch, und ihr Name ist mir im Gedächtnis geblieben – Frau J. Ihre grauen Haare waren kurz, die Augenlider halbgeschlossen, oft hatte sie Mühe zu schlucken und manchmal fiel ihr auch das Sprechen schwer – das machte die Krankheit- dann stützte sie ihren Unterkiefer mit der Hand und ich konnte kaum verstehen was sie sagte. Alles andere habe ich vergessen.
Was nach der Klinik geschah, lässt sich nicht der Reihe nach erzählen.
Die Diagnose griff in unser aller Leben ein und änderte es von Grund auf. In meiner Erinnerung gibt es ein Vorher und ein Nachher. Zwei Leben, scharf voneinander getrennt. Es gab keinen Bereich, der verschont blieb und diese unbegreifliche Veränderung erfüllte mich mit großer Furcht. Eine Würgeschlange hatte sich um meinen Brustkorb gelegt.
Das ohnehin schon brüchige Gefüge meiner Familie war dem Druck nicht gewachsen. Wir verloren uns ganz und damit unser Zuhause und ich war Schuld daran.
Bis heute haben wir uns nicht erholt davon und manchmal denke ich, dass sie mir niemals werden verzeihen können, dass ich uns alle in den Abgrund gerissen habe.
Niemand sprach mit mir, keiner sagte mir was los war und was mit mir geschehen würde. Die größte Bedrohung lag in dem Schweigen, dem ich mehr Glauben schenkte als jedem Symptom und jedem aufmunternden Lächeln meines Vaters.
Auch meine Geschwister, die eine älter, der andere jünger als ich, hatten schwer zu tragen an diesem Geheimnis, dessen Auswirkungen sie nicht ermessen und schon gar nicht verstehen konnten. Sein Raunen klang schrecklich wie der Tod. Ein unausgesprochenes Abkommen, eine Vereinbarung hielt uns drei davon ab miteinander zu reden. Bloß nicht daran rühren, um es nicht noch schlimmer zu machen, es nicht aufzubrechen, wie eine Pestbeule. Man könnte daran zugrunde gehen. Wir hofften das Unglück zu bannen, indem wir ihm keinen Namen gaben. Unterdessen breitete es sich in meinem Inneren aus wie Teer.
Auf der Suche nach Kleingeld für Zigaretten stoße ich eines Tages im Arbeitszimmer meines Vaters auf ein medizinisches Fachbuch. Aufgeschlagen liegt es auf seinem Schreibtisch, zwei, drei Absätze sind rot angestrichen. Kathe steht daneben und jeweils ein großes Ausrufezeichen, gekritzelt mit nervöser Hand. Was ich lese übertrifft alle Befürchtungen. Die Zeit bleibt stehen.
Regungslos stehe ich da, das Blut rauscht in meinem Kopf und ich schaue aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus. Aus irgendeinem Grund muss ich an Michelle denken, die schon vor langer Zeit von hier weg gezogen und mit ihrer Familie zurück nach Frankreich gegangen ist. Bald darauf wurde die kleine Villa, in der sie lebten, abgerissen und an ihrer Stelle ein Neubau mit Tiefgarage errichtet. Auch der alte Birnbaum, von dem mein Vater jeden Spätsommer die Früchte pflückte, ist verschwunden.
Michelle wird nie von meiner Krankheit erfahren. Auch nicht von meinem Tod. Ich drehe mich um und gehe hinauf in mein Zimmer. Dort setze ich mich unter den Tisch und weine. Die nächsten zehn Jahre höre ich nicht mehr auf damit.