Radar

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    Einer der Vorzüge, in einem Haus voll kranker Seelen aufgewachsen zu sein, ist der zuverlässige Radar, der sich durch die dauerhafte Wahnsinnsexposition entwickelt hat. Dieser präzise Ortungssinn befähigt mich zum Beispiel, die Stimmung eines Menschen schon dann genauestens zu erfassen, wenn er mit dem Rücken zu mir steht oder sitzt. Körperspannung, Körperhaltung, Bewegungsabläufe, Position im Raum, Atemfrequenz – all das spricht zu mir. Laut. Ich weiß, wenn jemand etwas im Schilde führt, lange ehe er es selbst auch nur ahnt. Ich erfasse intuitiv die kleinsten Zeichen, die sich mehr und mehr bündelnde Konzentration bei den unbewussten und doch zielgenauen Vorbereitungen, die leichte Unruhe, die unabhängig davon, ob Angst, Sorge, Wut oder Vorfreude der Motor ist, die Person in ein inneres Vibrieren versetzt, dessen Intensität und Klang mir jederzeit verrät wie weit der Prozess bereits vorangeschritten ist.

    Ich höre worüber geschwiegen wird und ich kann zwischen Wörtern unterscheiden, die etwas verdecken oder jenen, die etwas offenlegen sollen.

    Das sicherste Anzeichen eines bevorstehenden emotionalen Rückzuges oder eines nahenden Beziehungsabbruchs beispielsweise sind uneingeforderte Bekenntnisse und Beteuerungen, wortreiche Erklärungen, eine sich stumm entschuldigende, anfallsartige Schenkerei, überbetonter Optimismus, aufwändige Kittversuche, wo längst nicht mehr zu retten und das Kind bereits im Brunnen ersoffen ist.

    Bergen impossible.

    Überhaupt Schuldgefühle. Engste Vertraute seit frühester Kindheit.

    Eine Besonderheit unseres tiefprotestantischen Haushaltes war es nämlich, dass die Schuld und das schlechte Gewissen mit uns bei Tische saßen und mit brühendheißer Brotsuppe genährt wurden. Schon die Väter und Vätersväter hatten sie sich auf ihre gläubigen Schultern geladen, weil sie sich nur im Schmerz und in ihrer selbstunterstellten Schlechtigkeit fühlen und durch Buße zur Erleichterung kommen konnten, ein Zustand für dessen Erlangung wir Ungläubigen und Verlorenen später das Ritzen oder Erbrechen nutzten (Behauptungen, alles Mutmaßungen und Behauptungen). Die Schuld stand am Morgen mit uns auf und ging am Abend mit uns zu Bett. In den Nächten hockte sie sich bleischwer auf meinen Brustkorb und raubte mir für Jahrzehnte den Atem.

    Vor einiger Zeit versprach mir ein in der Ferne lebender Freund er werde mir ein Buch als Audiodatei einsprechen, eines, das ich mir selbst aussuchen dürfe und dann werde er mir dieses portionsweise zusenden. Da wusste ich was die Stunde geschlagen hatte und wählte ein Buch, dessen erste Kapitel alsbald eintrafen, doch ich begann erst gar nicht damit, mir die nach und nach gelieferten Fragmente anzuhören, wusste ich doch, dass mir das letzte Kapitel niemals zu Ohren kommen würde, weil die letzte Seite in unserer gemeinsamen Geschichte begonnen hatte und der Schlusspunkt bereits gesetzt war.
    Vorhersehbar war der Abschied und mit einer beinahe klamaukig anmutenden Dramaturgie wurde er schließlich zur Aufführung gebracht. Wenn ich schon nicht die gewünschten Gefühle zeigte, so sollte ich mich wenigstens ärgern, warten sollte ich, voller Ungeduld. Vielleicht sogar enttäuscht sein, doch genau das war ich am Allerwenigsten.

    Ich wäre nicht die Klassenbeste in der Irrenschule gewesen, wenn ich seine Strategie nicht von Anfang an durchschaut und nach bestem Wissen und Gewissen mitgespielt hätte.

     

     

    Times are hard, what else is new?

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Bild: Liszt Chang, flickr
    Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/

Im Spiegel

 

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Im Herbst fliegen meine Mutter und ich für zwei Wochen nach Spanien. Die Wärme soll mir helfen. Es muss schlecht um mich stehen.

Wir erreichen das winzige Studio im zehnten Stock mit einem der Aufzüge. Während meine Mutter sich einrichtet, sitze ich auf dem Sofa und schaue durch die geschlossene Balkontür nach draußen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie ihre Tiegel, Tuben und Parfums vor dem Spiegel im Bad platziert. Das Licht bricht sich in den geschliffenen Flakons und wirft unzählige goldene Punkte an die Wand. Ich stehe auf und räume meine Sachen in die Kommode. In der obersten Schublade finde ich eine Bibel, auf spanisch. Beim Blätter-Bingo bleibt mein Finger auf dem Wort amor liegen. Ich werte das als gutes Zeichen und lege die Bibel, zusammen mit einem Kugelschreiber und einem Oktavheft zurück in die Schublade.

Das Appartementhaus steht auf einer kleinen Anhöhe. Dahinter erheben sich kahl die Berge. Ab und an knattert ein Auto über die baumlose Uferstraße, dann ist es wieder still. Die Saison ist vorbei.
Die meisten Wohnungen im Haus werden ganzjährig von ihren Eigentümern, englischen oder niederländischen Rentnern, bewohnt, die tagsüber regungslos am Pool liegen und sich am Abend auf ihre Balkone zurückziehen, wo sie essen und in die untergehende Sonne blicken. Ruhig liegt das Meer, seine Zungen lecken dunkle Zacken in den Sand.

Mittags sitze ich neben dem Pool und schaue auf die tiefblaue Linie am Horizont. Ich weiß nichts mit mir anzufangen, das Wasser ist zu kalt zum Schwimmen, das mitgebrachte Buch längst gelesen und der nächste Ort eine Dreiviertelstunde zu Fuß entfernt.
Neben mir liegt meine Mutter. Ihre Augen sind geschlossen, die Kippe in ihrer Hand brennt langsam herunter. Ich betrachte die dunklen Haarstoppeln oberhalb des Randes ihrer Bikinihose. Die Dehnungsstreifen auf ihrem Bauch schimmern im Sonnenlicht wie silbrige Laufmaschen. Oder wie Schneckenspuren, denke ich.

Sie hat das kommen sehen, hat sie gesagt. Doch weder Tabletten noch heiße Bäder und nicht mal der Treppensturz hatten genutzt. Jemanden zu finden, der einem dabei half war schwer, denn es war illegal, damals noch, außerdem war es gefährlich. Sie wünschte es hätte geklappt, wir alle drei, denn bis heute leidet sie unter den Spuren der Schwangerschaften. Wir haben ihre Figur ruiniert. Das verstehe ich und es tut mir Leid, dass ich daran nichts mehr ändern kann.

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Jahre später, ich sitze in einer Psychoanalyse-Vorlesung, berichtet der Professor von einer depressiven Patientin. Er beschreibt deren ausgeprägte Nasolabialfalten und ihre hagere Erscheinung. Im Laufe der Analyse stellte sich heraus, dass sie unter starken Schuldgefühlen litt, die im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter standen, die jung an Kinderlähmung gestorben war. Das damals noch kleine Kind, glaubte durch seinen Ungehorsam, die Lähmung verursacht zu haben und dadurch die alleinige Schuld am Tod der Mutter zu tragen.

Ich verlasse den Hörsaal. In der Toilette betrachte ich mein Gesicht. Bald darauf breche ich das Studium ab.

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Meine Mutter schlägt die Augen auf. Ich schaue erst weg und dann wieder hin. Auf ihrer Oberlippe haben sich kleine Schweißtröpfchen gesammelt. Ob ich den Schlüssel haben kann, frage ich sie, ich muss auf Toilette. Sie reicht ihn mir wortlos. Oben angekommen stelle ich mich auf den Balkon und rauche. Erst dann gehe ich ins Bad. Das Gesicht, das mich aus dem Spiegel anschaut ist schön. Kleine goldene Punkte sprenkeln die Haut wie Sommersprossen. Ich lächele und es lächelt zurück. Singend kehre ich zurück an den Pool.

 

 

 

 

 

 

Bild: Von No machine-readable author provided. Guanxito2006 assumed (based on copyright claims). – No machine-readable source provided. Own work assumed (based on copyright claims)., CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1225800

Keine Tränen

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Nachdem der Krankenwagen abgefahren ist stehe ich noch eine Weile am Fenster und halte mich mit beiden Händen an dem schmalen Vorhangschal fest, den sie genäht hat. Im Garten gegenüber zerstreut sich die Partygesellschaft. Eben noch hingen sie alle am Zaun und schauten zu, wie sie aus dem Haus getragen wurde, bleich und ohne Leben. Es gibt nichts mehr zu sehen.
Meine Mutter hatte ihren großen Auftritt.

Als ich sieben Jahre alt bin, gehen meine Eltern mit uns spazieren. Meine Mutter zeigt auf ein Haus mit Garten und einem Türmchen. Hier werden wir bald wohnen. Ich freue mich auf ein eigenes Zimmer.

Die kleine, schiefergedeckte Villa wurde 1904 fertiggestellt. Sie hat ein Türmchen, mehrere Giebel und Fachwerk in der oberen Etage. Die Fenster sind mit rosafarbenem Sandstein eingefasst, die zweistöckige Holzveranda ist mit buntem Glas versehen, im Garten steht eine Trauerbirke.
Die große Zypresse vor dem Eingang erinnert an Gutshäuser in der Toskana.
Hier leben wir.

Ich erinnere mich nicht mehr wer von uns den Brief gefunden hat.
War ich es, oder mein Bruder?
Ich weiss noch sehr genau was sie (in ihrer großen Handschrift) geschrieben hat.
Ich habe Schuld an ihrem Tod. Auf ihrem Grab sollen wir tanzen, mein Bruder und ich, und Parties feiern. Der Weg ist frei für unser Glück.
Meine Ohren dröhnen, mein Mund ist trocken.

Die Rettungssanitäter haben die leeren Tablettenblister eingesammelt und mit genommen.
Ihre kleinen schwarz-weißen Pumps stehen noch immer ordentlich neben der Badewanne.

Das Krankenhaus hat angerufen. Sie ist über den Berg. Beim Auspumpen des Magens wurden ihre Zähne lädiert. Das Elektrogerät war gut isoliert und hat keine Schäden hinterlassen.
Es war ihr ernst.

Ich kann nicht einmal weinen.

Bild: By AleXXw / Alexander Wagner (Own work) [CC BY-SA 3.0 at (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/at/deed.en)%5D, via Wikimedia Commons

Revanche

Vergissmeinicht

Vergissmeinicht (Photo credit: dirrch)

Der Unterfranke erzählt mir von Einem, der einen unglaublichen Hals auf einen Typen schiebt, der ihm das Leben gerettet hat.

Wieso das denn?“ will ich wissen.

Na, genau deswegen.“

Verstehe ich nicht.“

Jetzt stell dich mal nicht so dumm.“

Versteh´ ich nicht, auch wenn ich mich schlau stelle.“

Ist doch klar. Der Eine tut dem Anderen einen riesigen Gefallen, und deswegen hat der Andere jetzt einen Hals.“

Ja, das sagtest Du bereits. Aber wo kommt dieser Hals her?“

Na, weil der Eine jetzt in der Schuld des Anderen steht, und das wird er ihm nicht verzeihen.“

Was gibt es denn da zu verzeihen?“

Du willst das nicht verstehen, oder?“

Doch, unbedingt. Aber ich kapiere das einfach nicht. Ich würde mich freuen, wenn mir jemand das Leben retten würde.“

Schon. Aber ist doch scheiße, wenn du dafür jemandem was schuldest.“

Wie kommst du denn immer auf Schuld oder Schulden?“

Dann ist es halt demütigend.“

Demütigend?“

Logisch. Erst, wenn du dem Anderen auch das Leben gerettet hast, dann seid ihr quitt.“

Aha. Wenn sich aber keine Gelegenheit zum Retten ergibt, muss man seinen Retter ein Leben lang hassen, ja?“

Genau. Das Einzige, was man machen kann, ist, dem Anderen eine Falle zu stellen, und ihn dann auch zu retten. Dann schuldet man ihm nichts mehr, und kann ihn jederzeit töten.“

„Töten? Tolle Idee.“

Ja, oder?“