Fatum

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Ich spüre keine Erleichterung, als ich die Nachbarin auf der Treppe husten höre. Sie ist die einzige im Haus um die es mir nicht Leid getan hätte. Gerade gestern habe ich sie im Stillen wegen ihrer Boshaftigkeit verflucht. Wie würde ich mich jetzt fühlen, wenn es sie erwischt hätte.
Bei den Fahrradständern im Hof klappert es. Ich schaue nach. Es ist der Tischler. Gottseidank.
Entschlossen stratzt der junge Hausmeister durch den Garten. An ihn habe ich überhaupt nicht gedacht. Immer glaubt man es müsse die Älteren treffen, die offensichtlich Kranken.

Vergangene Nacht, ich liege nach einer aufwühlenden Woche erschlagen im Bett, rückt schon einmal die Feuerwehr an. Zwei lodernde Stühle wollen gelöscht werden. Unbekannte haben sie auf dem Gehweg vor dem Haus in Brand gesetzt.
Als die Löschzüge weg sind, liege ich noch lange wach und denke über mein seltsames Leben nach.

Heute Mittag bitte ich die Doktorandin eine Runde mit dem Hund zu gehen um noch einmal ein wenig Schlaf zu finden. Bleischwer ist mein Körper und matt mein Geist, nach dieser Woche voller Jubel und Bangen, Angst, Sorge, Liebe und Ergriffenheit. Das Rauschen der Heizungsrohre beruhigt mich, drüben vom Platz höre ich die Glocken läuten. Ich atme tief ein und schließe die Augen.

Keine Minute später höre ich schon wieder das Martinshorn und mit ihm  aufgeregten Tumult im Haus. Getrappel, Schreie, Stimmen. Jemand ruft etwas auf türkisch, die Haustür wird aufgestoßen und schwere Schritte poltern hastig über die Treppe nach oben. Nicht lange danach kommt ein zweiter Wagen, seine Reifen rollen satt über das  Kopfsteinpflaster. Bremsen, wieder Schritte, Adrenalin. Mit einem dumpfen Schlag fällt die Tür ins Schloss. Erstarrt bleibe ich liegen und lausche der Stille. Mein Herz schlägt schnell.

Nach drei Stunden verlässt die Polizei das Haus. Kurz danach tragen zwei Männer einen großen grauen Plastiksack die Treppe hinunter.  Zum Luftholen stellen sie die Bahre vor meiner Wohnungtür ab.

 

 

 

 

 

 

 

Bild: diadà
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Zärtliche Polizisten

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Im Briefkasten liegt ein Benachrichtigungsschreiben für ein Paket aus Usbekistan. Abholbar bei der hiesigen Zollbehörde innerhalb von 10 Tagen, Lagerungsgebühr 50 Cent daily. Ich schaue auf den Kalender und stelle fest, dass ich schon ziemlich lange nicht mehr nach der Post gesehen haben muss, denn übermorgen geht das Paket bereits zurück. Angeblich per shipping.
Wie soll das denn gehen? Welches Meer könnte das sein?
Ein Blick in die Wikipedia und ich lerne, dass Usbekistan nicht bloß ein Binnenstaat ist, sondern sogar ein Binnenstaat inmitten von Binnenstaaten. Nur Liechtenstein (nicht Roy) ist ebenso binnig in der Welt unterwegs. Ein bisschen kann man sich das vielleicht vorstellen, wie eine Kapsel in einer Kapsel, oder ein innenliegendes Bad n einem fensterlosen Bunker, nur halt ohne Deckel oder Decke und natürlich viel heller, also doch irgendwie ganz anders, aber binnen durch und durch.

Usbekistan hat also, wie ich schon ahnte,  gar keinen Meereszugang und shipping ist deswegen nicht.
Überhaupt sieht es bezüglich Wasser ziemlich mau aus in dem zentralasiatischen Staat. Ein Großteil der Flüsse führt kaum noch Wasser und wenn das so weiter geht, lese ich, kann man in in absehbarer Zeit nicht mal mehr auf dem Aralsee herumschippern, dessen südwestlicher Teil sich im Nordosten des Landes befindet und dessen Austrocknung immer weiter voranschreitet. Bald wird es dort nur noch Wüste geben, die mit Kamelen zu durchqueren sein wird, nicht aber mit Frachtern. Und Schuld daran sind allein die Russen. Die haben nämlich damals zuviel Wasser aus dem See entnommen und damit ein ökologisches Desaster angerichtet. Das Einzige was heute und für die Zukunft vielleicht noch helfen könnte den Aralsee zu retten, wäre das gezielte Abregnen-lassen großer Wolken. Darunter litten dann allerdings die umliegenden Binnenländer. Eines davon ist (im Süden) Afghanistan.
Wenn ich an Afghanistan denke, habe ich gleich viel deutlichere Bilder und Vorstellungen im Kopf als zu Usbekistan, über die ich mich jetzt und hier nicht auslassen möchte.

Ähnlich muss es dem Zollbeamten ergangen sein, der, nachdem ich ihm das Benachrichtigungsschreiben und meinen Ausweis vorgelegt habe, alles gründlich prüft und mich mit strengem Blick fragt, was ich denn ausgerechnet aus Usbekistan erwarte und was genau drin sei in dem Paket.
Ich kläre ihn auf, dass es sich bei der Sendung um Frauenzubehör handelt und bilde mir ein in seinen Augen ein abwinkendes, War ja klar, zu lesen.
Das Interesse des Polizisten an mir und meinem Paket erlischt augenblicklich, er händigt mir eine Wartemarke aus und bedeutet mir Platz zu nehmen.

Nachdem ich einen schlechten, zuckersüßen Automatencappucino geschlürft und mir die Vitrine mit den durch Einfuhrverbote belegten Waren angeschaut habe (z.B. Schildkrötenpanzer), wird meine Nummer angezeigt. Ich darf die einzige Tür an der Stirnseite des Raumes öffnen, die in einen riesigen Saal mit grauem Linoleumboden führt, dort zu dem hintersten Schreibtisch gehen, wo mich ein freundlicher Beamter erwartet, vor seinen Augen den zugenähten und mit mehreren Siegeln verschlossenen Leinensack, auf dem mein Name steht, mit einem Teppichmesser öffnen und ihm die Ware vorzeigen.

Was ist das für ein Material? will er wissen.
Kaschmir, antworte ich.
Ob er mal anfassen dürfe.
Gerne.
Er fährt mit der Hand ganz vorsichtig über die schwarze Wolle, als handele es sich um ein scheues Tier und schaut mich dann an.
Das ist aber nicht besonders weich, in seiner Stimme schwingt Enttäuschung mit.
Das wird noch, beruhige ich ihn und mich gleichermaßen, nach dem ersten Waschen, so wie der Schal hier.
Aus einem unkontrollierten Impuls heraus greift der Mann über den breiten Schreibtisch hinweg zu mir herüber, nimmt einen Zipfel meines Schals zwischen Daumen und Zeigefinger und prüft die Weichheit der Wolle mit konzentriertem, in die Ferne gerichteten Blick. Dabei streichelt er, sozusagen en passant, mit dem Handrücken ganz sachte über mein Kinn.
Das ist weich, sagt er und sieht so selig aus, als hätte ich ihm einen großen Wunsch erfüllt. Zur Belohnung darf ich mitsamt meines Paketes das Zollamt durch den Haupteingang verlassen und muss nicht, wie alle anderen, wieder in den Wartesaal zurück und dann erst über den Seiteneingang ins Freie treten.

Ich gehe zu dem Parkplatz vor dem Haus, lasse den ganzkörperschwanzwedelnden Hund aus dem Auto, lege ihr den Maulkorb an und drehe eine kleine Runde durch den angrenzenden Volkspark Wilmersdorf.
Eigentlich mag ich an Polizisten nur ihre Uniform, denke ich und schaue in den abendlichen Himmel, aber dieser hier war wirklich sehr sehr niedlich.

 

 

 

 

Bild: „Zentrale Unterstützungsgruppe Zoll – Beamter (1)“ von High Contrast – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY 3.0 de über Wikimedia Commons – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zentrale_Unterst%C3%BCtzungsgruppe_Zoll_-_Beamter_(1).JPG#/media/File:Zentrale_Unterst%C3%BCtzungsgruppe_Zoll_-_Beamter_(1).JPG

Bärtige Männer

SAMSUNGIch hab´s ja nicht so mit Weihnachten. Darum an dieser Stelle kein Weihnachtsbeitrag.
Statt vor dem Baum zu sitzen und zu singen bin ich lieber draußen unterwegs und genieße die menschenleeren Straßen.
Es ist mild, fast schon warm. Dann und wann zündet irgendein Bengel einen Knaller und andere Bengel johlen dazu. Ein Auto knattert über den nassen Asphalt und der Hund steckt seine feuchte Nase in den Schmutz.
Dorthin, wo die bärtigen Männer hausen. Die, die bei der großen Verlosung eine Niete gezogen haben, die die nicht über Los gehen durften, sondern für ein paar Runden aussetzen müssen.
Mensch ärgere dich nicht
Die Balkone sind festlich erleuchtet. Immer weniger muslimische Familien leben hier, rund um den Mariannenplatz.
Am Kotti  hängen die üblichen Gestalten rum. Der Turkey fragt nicht nach Jesu Geburt.
Unter dem Viadukt der U-Bahn kauert einer neben seinen zerfetzten Tüten. Das Gesicht vom Leben auf der Straße gezeichnet.
Ich gebe ihm einen Fünfer. Er ist so schwach, dass er sich nicht einmal freuen kann.
Vor der Sparkasse steht der Nächste. Mit einem Pappbecher in der Hand öffnet er jedem die Tür. Drin liegt sein Hund auf einer Decke und schläft.
Er nimmt den Fünfer und schaut sich um, als hätte ich ihm Drogen zugesteckt.
Bei der Post auf der Skalitzer stoße ich gleich auf vier ältere Männer, die hinten im Gang bei dem Behinderteneingang sitzen und die Automatiktür mit einer Unterarmstütze blockieren.
Fünf Euro für jeden von ihnen. Hundert Jahre Leben für mich als Dank.
Draußen ein junger Typ mit Schäferhund.
Als ich ihm 5 Euro gebe kommt die Frau, die auf den Stufen zum Eingang sitzt, und streckt mir ihre Hand entgegen. 5 Tacken auch für sie.
-Siehste, jeder bekommt was, sagt der Typ zu ihr und ich ahne, dass etwas zwischen ihnen schwelt. Die Frau läuft mir hinterher und hält mir eine Packung Ibuprofen unter die Nase. Ich schüttele den Kopf und gehe weiter.
Am Ostbahnhof stehen größere Gruppen betrunkener Männer und streiten sich lautstark.
Ich getraue mich nicht, zu ihnen zu gehen und sie zu beschenken. Lärmende, alkoholisierte Männer ängstigen mich. Außerdem habe ich nicht mehr genug Geld für jeden und befürchte sie könnten sich auch noch um die Scheine streiten.
Drinnen sitzt eine einzelne Reisende mit ihrem Koffer in einem der kleinen Glaskästen, die dort für Wartende aufgestellt wurden. Ansonsten ist der Bahnhof wie ausgestorben. Mitten in der Halle ein Rollstuhlfahrer mit riesigem falbem Schäferhundmischling. Die spindeldürren Beine des Mannes liegen ausgestreckt in einer sperrigen Konstruktion. Er ist in Decken gehüllt und schläft mit zur Seite geneigtem Kopf.
Es dauert nicht lange, bis die patrouillierenden Polizisten auf ihn zutreten, sich breit aufstellen und den Schlafenden auffordern den Bahnhof zu verlassen. Der mächtige Hund fängt an zu bellen und lässt sie nicht näher herankommen. Der Rollstuhlfahrer reagiert nicht, öffnet nicht einmal die Augen. Es bellt ohne Unterlass, die beiden Polizisten schauen ratlos.
Ich freue mich, auch wenn ich weiß, dass sie ihn früher oder später wieder vor die Türe setzen werden. Und wenn sie dafür den Tiernotruf herbei funken müssen, der ihnen den Hund vom Leibe hält.
Inzwischen hat sich, die Gunst der Stunde nutzend, der erste Streithahn durch den Seiteneingang in den Bahnhof geschlichen und wühlt in den Müllbehältern herum.
Statt Pfandflaschen 5 Euro für ihn.
Wie erschrocken er mich anschaut, als ich das Geld aus der Hose hole. Dachte er ich zöge ein Messer? Ich wünsche ihm einen schönen Abend und gehe runter zu Lidl und Rossmann. Dort sitzen sie auch oft.
Heute sehe ich nur einen Mittfünfziger mit gepflegtem Schnauzbart und hellen Wildledermokassins, der mit spitzen Fingern Plastikflaschen aus dem Container klaubt und sie in den mitgebrachten Rollkoffer steckt. Als ich ihn anschaue blickt er weg und geht mit aufrechtem Gang zum Aufzug.
Nein, ihm werde ich nichts anbieten. Es würde ihn kränken.
Das Bellen in der Halle oben hat aufgehört. Der Rollstuhlfahrer ist verschwunden.
Wie immer, wenn ein Obdachloser abgeführt wird, habe ich die Vision, dass er irgendwo in den Katakomben der Bundespolizei verprügelt wird und sie ihn dann an den Stadtrand fahren und auskippen wie Müll. Aus den USA hört man solche Dinge, warum sollte es hierzulande anders sein?
An seiner Stelle steht nun ein gedrungener älterer Mann mit Vollbart. Er trägt ein Ringelshirt und ausgebeulte Hosen mit Hochwasser und Hosenträgern. Darunter Sandalen. Vor ihm ein voll bepackter und mit Tüten behangener Rollator. Ich bin schon im Begriff einen Schein zu ziehen, als ich sehe, dass die Tüten und Kisten voll sind mit Lebensmitteln.
Fehlalarm.
Ich beschließe mit der S-Bahn zu fahren, eine Runde mit dem Hund durch den dunklen Tiergarten zu drehen, und auf dem Rückweg über den Potsdamer Platz vielleicht noch ein paar Obdachlose abzufangen.
Es ist noch Geld übrig.
Neben Balzac sitzt einer, das Gesicht so zugerichtet, dass ich erschrecke.
Ein junger Kerl, keine 25. Platzwunden überall, die Nase dick und blau, die Augen blutunterlaufen und fast vollständig zugeschwollen, hockt er dort beim Ausgang der U-Bahn.
-Kaffee?, rufe ich ihm zu, ehe ich den Laden betrete, und er nickt.
Ich bestelle eine Brezel und einen Cappuccino für mich, einen großen Kaffee und ein belegtes Ciabatta für ihn. In einen kleinen Becher schütte ich etwas Milch und bringe ihm alles drei nach draußen. Er greift nach der Milch und trinkt sie in einem Zug aus. Er hat Hunger.
Dann begreift er, dass ich ihm auch etwas zu essen gebracht habe, und schenkt mir ein schiefes Lächeln. Erst jetzt sehe ich das kleine Pappschild zu seinen Füßen.
I AM HOMELESS
und dieser Satz trifft mich ganz unerwartet tief und heftig. So sehr, dass mir das Kinn zittert, und die Augen brennen.
Wie lasch dagegen das Wort obdachlos klingt.
Der Heimatlose mit polnischem Akzent bedankt sich sehr herzlich bei mir.
You are a good person!
Aufs Äußerste beschämt verlasse ich den Potsdamer Platz und gehe niedergeschlagen nach Hause.
Dort wartet kein Baum, kein Braten, keine Geschenke, kein Kind auf mich.
Dafür aber eine warme Altbauwohnung in begehrter Investorenlage.
Später dann kommt der Unterfranke, und gemeinsam mit einer Freundin kochen und essen wir.
Es gibt kein Recht auf Heimat. Das hat das Bundesverfassungsgericht gerade in einem Urteil zum Braunkohleabbau festgestellt.

Für niemanden.

Musik zum Text: massive Attack, Unfinished Sympathy
http://www.myvideo.de/watch/7030466/Massive_Attack_Unfinished_Sympathy

Kreuzberg bleibt unhöflich

Als ich das Haus verlasse, fährt er mich beinahe um, der Nazinachbar. Mit Blickkontakt.

An anime stylized eye.

Muss er noch üben.
Komme ich kurz darauf am Trinkertreff vorbei, schleudert einer seinen Zwergenhund gegen die Wand.
Einmal, zweimal. Polizei gerufen.
Nach Platzverweis kommt er zu mir, der Volltrunkene, und wünscht mir den völligen Unfalltod, mir Schlampe.
Der jetzt auch?
Vor der Kirche hat einer einen Baum gekillt. Ringsum die Rinde abgeschält und runtergerissen.
Hat ihm vielleicht den Hungertod gewünscht, den völligen.

Kreuzberg bleibt unhöflich.

Oranienplatz-susan

Tamagotchi

blogstatistik

blogstatistik (Photo credit: dkpto)

Charcoal keeps the embers glowing, wood keeps the fire burning, and troublemakers keep arguments alive

Kaum schreibt man ein paar Tage nichts und schaut hier nach den Rechten, da sieht die optische Darstellung der Blogstatistik aus, wie eine auslaufende Sinuskurve. Beängstigend. Ein Bisschen soll es doch noch Puckern, das Herz.

Es ist der 1. Mai. Vor meiner Haustüre tobt die Revolution Revolte. Töle hat genug davon, und ich sowieso. Jedenfalls in dieser Form. Also sind wir, nach einem Bad in der Menge, im Rauch des Grillgutes, im Fokus der allgegenwärtigen Polizei mit absonderlichsten Einsatzfahrzeugen (ein dunkelgrüner Bagger?), der iPhone-filmenden  Hipster in ihren unvermeidlichen Röhrenhosen, Trägershirts, Bärten und Hütchen,  zurück in die Bude geschlufft, und lauschen von hier den Klängen der schwurbelnden Gitarren, der vordergründigen Bässe und der trunkenen frühlingsfrohen Stimmen verbliebener Kreuzberger.

Für den Hund gibt es gleich Pansen. Wir Menschen erfreuen uns zu später Stunde, prä-verkatert, an Kartoffelgratin mit überbackenem Beelitzer Spargel an frischem Spinat, und gönnen uns einen Geburtstags- Ribeira del Duero. Crianza von 1996. Inzwischen dominiert das Dröhnen der Helikopter den Soundteppich.

Bald wird die Stadtreinigung die Spuren des Tages der Arbeit beseitigen.

Den Revolutionären da draußen möchte ich zurufen:

Keep the embers glowing!

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Musik: Rolling Stones, Salt Of The Earth

Nordweststadt-Hymne

1961 Chevrolet Impala

1961 Chevrolet Impala (Photo credit: Georg Schwalbach (GS1311))

Rote Ampel. Nordweststadt.

Es ist 6 Uhr abends. Hochsommer. Die Hitze steht zwischen den Häusern. Über der geteerten Straße flimmert die Luft. Wir hören „England“ von Angelic Upstarts, und wiegen unsere Köpfe  zur salbungsvollen Oi!-Punk-Hymne. Ein Polizeiwagen kommt rechts neben uns zum Stehen. Der Fahrer schaut rüber, mustert mich und raunt seinem Kollegen etwas zu. Beide taxieren mich jetzt, und begutachten anschließend, mit geschultem Blick,  meine Mitfahrer.

Logo, jetzt werden wir kontrolliert.
Dreckige Karre. 6 Leute, 5 Haarfarben. Abgebrochene Mercedessterne an den Lederjacken. Alle, außer mir, ein
Binding in der Hand.

Ich stelle die Musik leiser. Protest von allen Seiten. Der Polizist kurbelt die Scheibe herunter und bittet mich nach der Ampel rechts ran zu fahren. Meine Freunde johlen betrunken, in freudiger Erwartung einer Begegnung mit der Frankfurter Exekutive.

„Besoffene Idioten! Hoffentlich hat
niemand was einstecken.“

Als es grün wird, setze ich ordnungsgemäß den Fahrtrichtungsanzeiger, fahre langsam an und lenke den Wagen an den rechten Straßenrand. Die Polizei kommt hinter uns zum Stehen. Der Fahrer steigt aus, während sein Kollege uns im Auge behält.

Als er gerade meine Türe erreicht, kommt von hinten ein alter Kadett angschossen, aus dessen Fenstern 3 Kerle ihre Oberkörper hängen.

„Ihr seid Arschlöcher!“

rufen sie den Polizisten im Vorbeifahren, mit sich vor Übermut überschlagenden Stimmen, zu.

Der Beamte, dem ich eben die Fahrzeugpapiere reichen will, zuckt zusammen. Blitzschnell reisst er den Kopf herum, starrt ungläubig dem davon rauschenden Opel hinterher, dessen Radialreifen bei der leichten Linkskurve ein
Quietschen erzeugen, das an Verfolgungsjagden in den Straßen von San Francisco denken lässt.

Was haben die eben gesagt?“  fragt er mich fassungslos.

IHR SEID ARSCHLÖCHER!“  krakeelen meine hilfsbereiten Freunde unisono aus dem Fond und schmeissen sich weg vor Lachen.

Der Polizist macht seinem Kollegen ein Zeichen, wedelt mit der anderen Hand in unsere Richtung, und spurtet zu seinem Einsatzfahrzeug. Mit Blaulicht und Martinshorn nehmen sie die Verfolgung auf.

Ich setze den Blinker nach links, und schippere hinaus in diesen vielversprechenden Abend.

Exekutive Bayern/ Röllbach

Es st spät, als wir endlich mit dem Bus in Röllbach (einem Dorf im Spessart, unweit von Miltenberg) ankommen.

Wir fahren durch den Ort, nehmen den Feldweg Richtung Wald, lassen sämtliche Häuser hinter uns und stellen das Wohnmobil unter einer Gruppe alter Bäume, auf festem Grund ab.
 Im Sommer trifft sich hier die Jugend, um im Schutze einer Marien-Skulptur das Rauchen, Trinken und Jungsein zu genießen. 
Inzwischen ist es fast Oktober. Nachts wird es auf weiter Flur schon frostig kalt. 
Und so ist das Interesse am Zechen im Freien, dem Faible für´s Trinken in geschlossenen, verqualmten Räumen gewichen.


Wer weiß, vielleicht sitzen sie jetzt alle im örtlichen Schützenverein.

Kaum haben wir die Seitentür des Spielmobils aufgeschoben, springt Töle schon aus dem Bus und nimmt instinktiv Witterung auf.
 Sie schnuppert gebannt den Feldweg entlang zur benachbarten Koppel. Der Duft von Pferdeäpfeln entschädigt für die anstrengende Fahrt. 
Auf den abgeernteten Stoppelfeldern riecht es nach Gülle, Mäusen, Hasen und Füchsen. 
Mein Freund dreht sich eine Zigarette.

Wir stehen in der Stille der Nacht, atmen tief ein und schauen dem Rauch hinterher, wie er nach oben steigt und sich in der Dunkelheit verliert.
 Es ist windstill. Der nächste Autobahnanschluss ist weit weg. 
Nur die Flugzeuge, die sich dem Frankfurter Flughafen nähern, grollen und blinken von weitem über der nächtlichen Idylle des fränkischen Dorfes.
 Langsam spazieren wir zurück zum Ortskern, beobachten den manischen Zickzack-Kurs von Töle, und freuen uns als wir den Hof unserer Freunde betreten, deren Hund pflichtbewusst anschlägt.

Lange haben sie auf uns gewartet. Die Flaschen sind kaltgestellt, ein Teil schon geleert. 
Unter ländlichem Sternenhimmel werfen wir den Grill an und schlürfen fröstelnd wärmende Getränke.
 Gegen 3 Uhr beschließen wir die Nacht zu beenden, um am nächsten Tag taufrisch für den Geburtstag meines Patenkindes zu sein.
 Der Junge schläft tief, und ahnt nichts von dem Mountainbike, das wir mitgebracht haben.

Angeschickert machen wir uns auf den Weg zu unserem Bus. Durchs Dorf, übers Feld. 
In vollem Galopp nehmen wir die leichte Steigung Richtung Wald.
 Unser Gastgeber stürzt mit seinem Fahrrad in einen Bewässerungsgraben. 
Die Hunde springen ausgelassen um ihn herum, bellen in die dunkle Nacht und nießen kopfschüttelnd vor Lebensfreude. 
 Am Wohnmobil angekommen, reissen wir die Türen auf, setzen uns ins Fahrzeuginnere, öffnen eine Flasche Rotwein und ich koche mir auf dem Gasherd Wasser für eine Wärmflasche. Es ist sehr frisch geworden und mich fröstelt. Wir wickeln uns in billige Discounterdecken.
 Ein Glas noch, dann geht es ins Bett. Ganz sicher. Morgen ist ja Geburtstag.

Es ist schön, dort zu sitzen, zu trinken, zu reden, der klaren, kalten Stille zu lauschen und auf das Gestern, Heute und Morgen einer uralten Freundschaft anzustoßen.

Erst spät bemerken wir, dass ein Fahrzeug sich dem Bus nähert, und mit Abblendlicht direkt auf uns zuhält.
 In unseren fröhlich-benebelt-erschöpften Hirnen blubbern zeitlupenartig winzige, wohlwollend wabernde Fragezeichen empor, flackern wie ein Irrlicht, das selbstgenügsam nach keiner Antwort am inneren Firmament sucht auf, und zerfallen in der Euphorie des Augenblicks in winzige funkelnde Moleküle, so wie

… wie irgendwas.


Egal was. 


Was ist hier eigentlich los?

Langsam klickert es in unseren Köpfen, die innere Sanduhr rieselt, und wir ernüchtern schlagartig:

für eine Flurbegehung durch den Landwirt scheint es etwas spät, 
die Jugendlichen haben nur Mopeds, und unterliegen ohnehin dem Hordenzwang. 
Die redlichen Siedler liegen längst im Bürgerkoma.

Wer sonst könnte also um diese nachtschlafende Zeit zwischen brachem Feld und dunklem Wald unterwegs sein?

Die Lichter des Wagens nähern sich.

Langsam wird es merkwürdig.
 Was machen wir bloß, wenn Killer im Anmarsch sind? Niemand wird unsere Schreie hören…

Wir bleiben im Bus sitzen. Das Fahrzeug kommt frontal vor uns zum Stehen, die Vordertüren öffnen sich und zwei Männer steigen aus. 
Geblendet bleiben wir sitzen, starren in die Lichtkegel, die Hunde bellen.
 Jetzt bewegen die beiden sich auf uns zu. Ich erkenne die Silhouette einer Uniform.

Gott sei Dank! Es sind bayerische Polizisten!

Herzlich willkommen! Sie ahnen gar nicht, wie sehr wir Sie vermisst haben!“

möchte ich Ihnen erleichtert entgegen rufen, unterdrücke diesen Impuls aber und warte darauf, was als nächstes geschieht.

Grüß Gott, die Fahrzeugpapiere und ihre Ausweise, bitte!“

Ein routinierter Griff, in die Tasche.

Bitte schön.“

Während der eine zum Dienstwagen zurück geht, um die Daten abzugleichen, frage ich den anderen, wie es eigentlich kommt, dass sie zu so später Stunde hier aufkreuzen.

Gab es Beschwerden?“ möchte ich wissen.

Wir sind die bayerische Polizei; wir schauen unter jeden Stein.“ antwortet er mir mit einem selbstbewussten Lächeln.

Haben wir irgendetwas falsch gemacht? Ist es nicht erlaubt hier zu stehen?“

Junge Frau, es ist so: in Schweden ist alles erlaubt, außer es steht ausdrücklich da, dass es verboten ist.
In Deutschland ist alles verboten, außer es steht ausdrücklich da, dass es erlaubt ist.“

Eine gelungene Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands, deren in Paragrafen gegossene, neidverrammelte Engstirnigkeit, das beklemmende Gefühl eines zu eng geschnürten Korsetts hinterlässt.
 Das Empfinden keine Luft mehr zu bekommen.

Also ist es verboten hier zu stehen.“

Der Polizist nickt.

Ich atme tief ein und erkläre ihm, dass wir allesamt zuviel getrunken haben, um das Wohnmobil von diesem Ort zu entfernen.
 Das versteht er und selber wegfahren mag er es auch nicht.

Nachdem unser Freund sich als Einheimischer ausweisen kann, erteilen die Ordnungshüter uns die Erlaubnis, noch bis zum nächsten Tag zu bleiben und verabschieden sich mit einem freundlichen:

Gute Nacht, die Herrschaften!“
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Danke, für diese schönen Stunden,


Danke, für diesen ganzen Tag;


Danke, daß Du mich hast gefunden


Heut’ in Freud und Plag’.

Exekutive Bayern/ Schweinfurt

Nachdem Töle sich die Beine vertreten hat, und der Bus halbwegs aufgeräumt ist, verlassen wir den Rasthof Frankenwald bei Rudolphstein und setzen unsere Fahrt Richtung Westen fort.
Das Spielmobil tut sich schwer. 
Immer wieder muss es zur Maximalgeschwindigkeit (101km/ h) getriezt werden, um sich mit röhrendem Motor die nächste Steigung zu erkämpfen, wobei der Schub durch die Gesetze der Schwerkraft schnell verloren geht, und wir mit 50 km/h den Berg hochzuckeln. 
Die schwer beladenen 12- Tonner, die sich von hinten heranschieben, blenden fluchend auf und würden uns gerne mit einem Wildfänger von der Piste räumen, wie einst die Widlwest-Lokomotiven kreuzende Bisons.
 Lang dauert es nicht mehr, bis der liebliche Teil des bayerischen Vogtlandes sich vor uns öffnet, und die Welt wieder weit erscheint.

Ich erinnere mich an eine Zugfahrt von Berlin über Fulda nach Würzburg.
 Mir gegenüber saßen zwei Herren mit reichlich Gepäck, die eben von einer China-Reise zurückkehrten. 
Mit hängenden Schultern und müden Augen, referierten sie erschöpft und mit monotoner Stimme von den Unbillen ihrer Asienreise. 
Bis der ICE Hessen verließ und nach Franken einfuhr. 
Ein müder Blick aus dem Fenster. Die Stimmung änderte sich schlagartig.
 „Herrliche Landschaft, wunderbares Gemüt!“ entfuhr es dem jüngeren der beiden, und die Gesichtszüge strafften sich. Sein fränkisches Herz schlug höher.
 So weit war er gereist, so nahe lag das Glück.

Wir nähern uns Bayreuth (Wagner). 
Lassen Kulmbach rechts liegen (Gottschalk).
 Vorbei an Bamberg (Bamberger Reiter). 
Über Haßfurt, durch die Haßberge. (?)

Inzwischen ist es dunkel geworden, und wir fahren auf die erste Tankstelle in Schweinfurt.
 Dank seiner ausgeleierten Blattfedern schaukelt der Bus, behäbig wie ein Kamel, über die Ablaufrinne vor der Tanke, und wir steuern die linke Zapfsäule an. 
Zu meinem Erstaunen wimmelt es hier nur so vor biertrinkenden Skinheads.
 Live-Musik dröhnt an unsere Ohren.

Als meine Begleitung aussteigt, kommt ein grün-weißer BMW rasant angeschossen, bleibt quer vor uns stehen, die Türen springen auf und zwei Polizisten stürzen auf meinen Freund zu, der sich erstaunt umschaut, im Glauben, dass jetzt die Glatzen dran sind.

Mitnichten.

Wie schon auf dem Rasthof Frankenwald, müssen wir unsere Papiere zur Kontrolle vorlegen, und werden (nach ergebnisloser Prüfung) aufgefordert den Beamten Zutritt zu unserem Bus zu gewähren.
Töles Knurren quittiert der Dienstältere mit einem jovialen Auflachen, und bittet mich den Hund festzuhalten. 
Na klar.
 Unseren Einwand, unlängst kontrolliert, danach ewig mit Aufräumen beschäftigt gewesen zu sein (weil sonst alles klappert), und inzwischen erheblich im Verzug zu sein, wollen sie nicht gelten lassen. Vielmehr scheint diese Behauptung das Interesse der Ordnungshüter erst richtig anzufachen.
 Handschuhfach, Sonnenblende, Aschenbecher, Kühlschrank, Taschen, Hundekorb, Chemietoilette. Das Gleiche nochmal, nur gründlicher.
 Am Ende ist nichts mehr an seinem Platz.
 Töle wird allmählich nervös und knurrt immer bedrohlicher. Auch die ungeahnte Chance aus den überall verteilten Klamotten eine Schlafstätte zu bauen, kann ihre Stimmung nicht heben.

Ich frage den jüngeren der Uniformierten, woher eigentlich die Musik und die kahlköpfige Kundschaft kommen. 
Er freut sich über mein Interesse am lokalen Geschehen, und erklärt mir gut gelaunt, dass unweit ein Konzert der Böhsen Enkelz, einer Coverband der Böhsen Onkelz stattfindet.
 Der Ältere, inzwischen sichtlich gereizt, unterbricht das Gespräch und fordert uns auf Jacken- sowie Hosentaschen zu leeren. 
Irgendetwas muss sich doch finden lassen!
 Mein Freund wird aufgefordert aususteigen, die Arme nach oben zu strecken, und sich vor dem Bus abtasten zu lassen.
 Mich dürfen sie nicht anfassen. Ich befürchte, dass als Nächstes weibliche Verstärkung herbeigefunkt wird, und wir noch mehr Zeit verlieren.

Nur ein Wagen voller Afrikaner könnte jetzt helfen, denke ich.

Aus irgendeinem Grunde lassen die Beamten dann doch von uns ab, und wir dürfen die Reise fortsetzen.
 Vielleicht hat die Musik im Hintergrund sie wieder ein bisschen fröhlicher gestimmt.


Die Ordnungshüter verzichten darauf weitere Personenkontrollen unter der einheimischen Bevölkerung vorzunehmen, und setzen ihre nächtliche Patrouille durch die Straßen Schweinfurts fort.