Bistro Universum

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(Bildrechte: V.m.H.)

Eine Bank unter Platanen. Den langen Weg läufst Du zu mir hin. Deine Schritte auf staubigem Boden. Ich schlage die Augen nieder.
Lächeln. Blicke.
Gazing
Abendlicht und Zigarette.
Essen bei den Schwestern, im großen Saal.
Sonnenstrahlen brechen sich in den Wimpern, wie damals, im Kindergarten.
Du isst, ich stochere. Orecchiette mit Steinpilzen.
Ein paar Tische weiter die Vermieterin mit Schwiegersohn.
Smalltalk, warm werden.
Später spielt Tilda Swinton auf der Leinwand hinter den Fenstern zum Garten.

Unter Platanen sitzen wir. Du stellst den Kragen auf.
Dein Gesicht ist milchig weiss im Laternenschein.
Schweigend, die Augen ineinander versenkt, sind wir uns.
Du greifst nach meiner Hand.
Trocken und warm wie Schlangenhaut. Unsere Finger gleiten gegeneinander.

Deine Hände zeichnen meine Konturen nach.
Wir schauen uns an.
Wenige Meter entfernt rhythmische Bewegungen auf einer benachbarten Bank. Stöhnen.

Der Park liegt im Dunkeln.
Flaschensammler, Betrunkene, Hundebesitzer, Desperados.
Spätsommer.

Zusammen gehen wir zum Bus. Die Tauben schlafen stumm in ihrem Verschlag.
Das Tauthaus thront grau über dem Engelbecken.
Unter der Brücke alkoholschwere Körper mit staubigen Habseligkeiten.

Im hellen Licht des Busses sehe ich Dich am Fenster sitzen.
Du hebst die Hand zum Abschied.

Kreuzberger Sommertraum

Carlo Giuliani Park 2013

Carlo Giuliani Park 2013 (Photo credit: seven_resist)

 Todo pasa y todo queda,
pero lo nuestro es pasar,
pasar haciendo caminos,
caminos sobre el mar.
Nunca persequí la gloria,

ni dejar en la memoria
de los hombres mi canción;
yo amo los mundos sutiles,
ingrávidos y gentiles,
como pompas de jabón.

 Antonio Machado, Cantares


Nomaden! Pilger! Vagabunden!
Juchhuu!

Endlich sind auch die Letzten eingetroffen.
Wie die Zugvögel kommen sie angereist. Zuverlässig. Jahr um Jahr.
Sobald der Winter vorbei ist und es wieder warm wird in Berlin, besiedeln sie mit den ausgebauten Hanomags, LKW, Bullies, Wannen, Transportern und Pritschenwagen ihre angestammten Plätze auf dem Bethaniendamm vor dem Rauchhaus und dem Kreuzdorf.
Unter den Wagen dösen die mitgereisten großen und kleinen Hunde, ein Ohr müde auf die Klänge der Welt gerichtet, das andere in sich selbst gekehrt.
Zwischen den Bäumen des Carlo-Giuliani-Parkes sind Wäscheleinen gespannt und vereinzelte kleine Zelte schlafen im Schatten der Akazien und Kastanienbäume.
Schnell schließen sich die Pilgerhunde mit denen der Wagenburg zu einem losen, umher streunenden Rudel zusammen.
Hier und da wird einer von ihnen vermisst, und durch mehrsprachig verfasste Anschläge an Bäumen und Laternenmasten gesucht.
Die Zusammenkunft mit den Kreuzberger Hunden wird im Spätsommer plüschige Früchte tragen, so wie in jedem Jahr, und bis zur Auflösung der Karawane durch die schlagartig einbrechende, schneidende Herbstkälte, wird man die Welpen auf den Rasenflächen rund um die Thomaskirche im tapsig übermütigen Spiel heranwachsen sehen.
Viele von ihnen werden ein Zuhause in Kreuzberg finden. Die anderen dürfen mit in den Süden ziehen, Heimat der meisten Straßencamper hier.
Spanier, Italiener, Portugiesen, Griechen. Ein paar Niederländer, Polen, Engländer und Franzosen.

Und wieder werden wir zurück bleiben, uns durch den eisigen Winter mit dem gnadenlosen  Ostwind zittern, das dreckige Moloch, das wir unsere Heimat nennen, verfluchen, vom Süden, der Wärme, der Sonne und der Freiheit träumen und auf die Rückkehr der Frühlingsboten warten, die sich Jahr für Jahr eine schöne, eigene kleine Welt am Luisenstädtischen Kanal schaffen und Kreuzberg bereichern und noch liebenswerter und bunter machen, als es ohnehin schon ist.
Abends sitzen sie dann biertrinkend auf dem Mäuerchen, das den Nachbarschaftsgarten einfasst, in dem sich die türkischen Frauen an einer großen Tafel zum Plausch treffen und Bohnen, Erdbeeren, meterhohen Sonnenblumen, Stockrosen, Tagetes und allerlei Kräutern beim Wachsen zuschauen.
Man unterhält sich, jongliert ein wenig, übt kleine Kunststückchen, mit denen sich tagsüber an den Ampeln der Hauptstadt ein paar Cent verdienen lassen. Die Stimmung ist entspannt. Friedlich.
Ab und an fährt eine Bullenwanne vor, Personenkontrolle, die üblichen Schikanen und Drohgebärden und dann wird weiter gechillt und gelacht, die eine oder andere Tüte geraucht, zum Klang der Lautsprecher des Freiluftkinos, das nur einen Steinwurf entfernt im Garten des Künstlerhauses Bethanien sehenswerte Filme auf einer meterhohen Leinwand zeigt.
Manchmal flattert eine Fledermaus vorbei.
Ihr Flügelschlag flüchtig wie das Glück dieser langen, blauen Sommernächte.

Kreuzberg, mein Kreuzberg.
Mein Zuhause.

En passant

zebrastreifen

(Photo credit: 30003019)

Auf dem Weg zum Mariannenplatz komme ich an dem hell erleuchteten Atelier einer Schneiderin vorbei, die bei geöffnetem Fenster und gefälliger Popmusik bunte Stoffe zu süßen Kleidern zusammennäht.
Wie jedes Mal, wenn ich die Frau dort arbeiten sehe, denke ich daran, dass sie Teilnehmerin der gleichen Angstgruppe wie A. war. A. allerdings hat die Gruppe schnell wieder verlassen, weil die gesammelten Ängste der Teilnehmer ihr noch mehr Angst machten.
Aus ihren Erzählungen ist mir die Erinnerung an jene Frau geblieben, die in ständiger Furcht vor einem tödlichen Sturz lebte, bei dem sie sich einen spitzen Gegenstand, wie zum Beispiel die Ecke ihres gläsernen Couchtisches, in die Schläfe, und damit direkt ins Gehirn rammen würde. Das Bild hat mich nie wieder los gelassen.

Am Mariannenplatz angekommen, sehe ich einen Altpunk mit stumpfen Irokesenzacken, der mit großen Schritten und vorgeschobenem Becken auf den neu eingerichteten Zebrastreifen zusteuert. Sofort bleibt ein herannahendes Fahrzeug stehen. Der Punk schaut ungläubig zur Seite, bemerkt die Streifen auf der Straße, stoppt, macht eine unwillig rudernde Bewegung in Richtung des Wagens und stößt dabei einen unverständlichen Fluch aus. Doch das Auto fährt nicht weiter. Stattdessen ermuntert der Fahrer den Punk mit einer Geste die Straße zu überqueren. Der Punk zögert. Er will nicht.
Fahr weiter, du Arschloch!“
Das Auto steht. Der Punk steht.
Keiner rührt sich von der Stelle.
Nach ein paar langen Sekunden, knickt der Punk ein und überquert stapfend die Straße.
Scheißtag. Wichser.

In dem Rondell vor dem Künstlerhaus Bethanien treffe ich auf Champagner, den kleinen Apportierhund, der mit fliegenden Ohren einem roten Gummiball hinterherjagt. So, wie jeden Tag. Töle setzt sich hin und markiert. Die beiden schauen sich nicht an.

Schöne Bluse!“, ruft mir Champagners Frauchen zwischen zwei Ballwürfen zu und nickt.
Ich schaue an mir herunter.
Danke.“
„Tiergarten?“
Ja.“
Blüht der Rosengarten schon?“
Ja.“
Dann mal viel Spaß!“
Danke, euch auch.“

Wir setzen unseren Weg  Richtung Westen fort.
Die Sonne scheint vom tiefblauen Himmel.
Ein schöner Tag liegt vor uns.

Tamagotchi

blogstatistik

blogstatistik (Photo credit: dkpto)

Charcoal keeps the embers glowing, wood keeps the fire burning, and troublemakers keep arguments alive

Kaum schreibt man ein paar Tage nichts und schaut hier nach den Rechten, da sieht die optische Darstellung der Blogstatistik aus, wie eine auslaufende Sinuskurve. Beängstigend. Ein Bisschen soll es doch noch Puckern, das Herz.

Es ist der 1. Mai. Vor meiner Haustüre tobt die Revolution Revolte. Töle hat genug davon, und ich sowieso. Jedenfalls in dieser Form. Also sind wir, nach einem Bad in der Menge, im Rauch des Grillgutes, im Fokus der allgegenwärtigen Polizei mit absonderlichsten Einsatzfahrzeugen (ein dunkelgrüner Bagger?), der iPhone-filmenden  Hipster in ihren unvermeidlichen Röhrenhosen, Trägershirts, Bärten und Hütchen,  zurück in die Bude geschlufft, und lauschen von hier den Klängen der schwurbelnden Gitarren, der vordergründigen Bässe und der trunkenen frühlingsfrohen Stimmen verbliebener Kreuzberger.

Für den Hund gibt es gleich Pansen. Wir Menschen erfreuen uns zu später Stunde, prä-verkatert, an Kartoffelgratin mit überbackenem Beelitzer Spargel an frischem Spinat, und gönnen uns einen Geburtstags- Ribeira del Duero. Crianza von 1996. Inzwischen dominiert das Dröhnen der Helikopter den Soundteppich.

Bald wird die Stadtreinigung die Spuren des Tages der Arbeit beseitigen.

Den Revolutionären da draußen möchte ich zurufen:

Keep the embers glowing!

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Musik: Rolling Stones, Salt Of The Earth

Mariannenplatz

Der Mariannenplatz liegt eingebettet zwischen der Mariannenstraße im Osten, der Waldemarstraße im Süden, dem Bethaniendamm, der ihn im Norden begrenzt und der Adalbertstraße im Westen.

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Er führt den Namen Platz zu Recht, anders als zum Beispiel der nahe gelegene Heinrichplatz, der einfach ein Plätzchen ist.
Marianne von Oranienburg-Nassau, Tochter Wilhelm des I., ist die Namenspatin meines Lieblingsplatzes in Berlin.
Ich liebe es von der Mariannenstraße aus die Stufen zum Bethanien zu nehmen und zu dem alten schönen Gemäuer mit seinen beiden Türmen und der dazwischen angebrachten Glocke, die an Missionskirchen in Lateinamerika erinnert, empor zu schauen.
Ein Blick nach links: in der Ferne, der Feuerwehrbrunnen von Kurt Mühlenhaupt, der 1981 an derselben Stelle errichtet wurde, an dem schon sein Vorgänger dem Krieg zum Opfer fiel. Ich weiß, dass dieser Brunnen die Arbeit und die Opferbereitschaft der Feuerwehrleute würdigen soll. Ein Blick in die Gesichter der Bronzefiguren, lässt einen dann aber doch an der hehren Absicht zweifeln: die sehen mit ihren dicken, geschwollenen und überdimensionierten Nasen und ihrem dümmlichen Gesichtsausdruck allesamt aus wie schwere Säufer.
Man könnte glauben, dass der Brunnen aus Hass auf Feuerwehrleute dort steht, und einzig ihrer Verunglimpfung dienen soll.
Um den Brunnen herum, gruppieren sich im Halbkreis rosafarben getünchte Alt- und Neubauten.
Auf Luftaufnahmen nach 1945 ist deutlich zu erkennen, welche Häuser im Block durch Bomben ausradiert wurden.
Eines davon stand direkt auf der Ecke Waldemar-/ Mariannenstraße.
Dort befindet sich jetzt ein großer Neubau, der sich gut ins Bild einfügt, und dessen Erdgeschoss eine Eckkneipe beherbergt, in der schon Rio Reiser gerne und häufig zu Gast war.
Vielleicht haben durchzechte Nächte zu der ersten Zeile des Rauchhaussongs geführt.

Heute steht das Bethanien nicht mehr ganz leer.
Es beherbergt zahlreiche Ateliers für Künstler, eine Kita, das Restaurant
“3 Schwestern” und im Südflügel die ehemaligen Besetzer der Yorckstraße, die inzwischen ordentliche Mieter sind, den Betreibern des Künstlerhauses Bethanien aber aus Gründen des Renommées ein solcher Dorn im Auge waren, dass man sich entschloss in ein todschickes Haus auf dem Kottbusser Damm umzuziehen. Gut so.
Wo Kunst nicht nur apolitisch ist, sondern zum Erfüllungsgehilfen von Gentrifizierern und Gleichmachern wird und sich ausdrücklich von alternativen Lebensformen distanziert, ist sie eben auch nichts anderes mehr als ein Business. Dies allerdings gerne mit viel Chichi und Wichtigmeierei.
Kurz: ich bin froh, dass sie weg sind.
Der Südflügel beherbergt neben den” Yorckies” auch die Heilpraktiker Schule (selbstverwaltet), die mit einem lässig aus dem Fenster gehängten Transparent, verziert mit dem Yin-und-Yang-Symbol, ihren Standort kenntlich macht.
Sobald es warm genug ist, sitzen die SchülerInnen draußen und halten mit ihren gezähmten LehrerInnen im Freien Unterricht ab. Man erkennt sie sofort. Haare, Klamotten alles ein bißchen filzig und grob.
Am eindeutigsten sind sie aber an ihren Blicken auszumachen.
Da ist so etwas Wissendes drin. Da merkt man gleich, dass sie sich durch ihre spirituelle Offenheit Welten erschlossen haben, zu denen ich als verkopfter und ignoranter Mensch niemals Zugang haben werde.
Mit toleranzgeschürzten Gesichtern sitzen sie da, mit friedvoll hängenden Schultern und wachsamem Blick.
Eine kurze Irisdiagnose en passant. Ein Braunauge.
Mein verschlossen bis ablehnender Gesichtsausdruck lässt eine Spontandiagnose zu: “Sepia!, total Sepia! Verzweifelt oder verbittert!”
Das hat mir mal ein Homöopath mit auf den Weg gegeben. So würde ich enden.
Ob er am Ende recht behält?
Schnell die Schule und die glotzenden Gutmenschen hinter mir gelassen (ich spüre noch ihre kosmische, feinstoffliche Liebe im Nacken), und rechts abgebogen, vorbei am Freiluftkino und zum Nachbarschaftgarten.
Dort treffe ich fast immer auf den gleichen Trinker, der mit seinem Foxterrier Idefix Ball spielt.
Idefix ist der klassische Apportierhund. Er lebt einsam in der Welt seines Balles, Artgenossen interessieren ihn nicht, Menschen interessieren ihn nicht: der Ball muss fliegen, zurück gebracht werden um wieder zu fliegen.
Das alleine zählt, und das stimmt mich irgendwie traurig.
Auf dem Rasen stehen zwei übermuskulöse Typen mit ihrem übermuskulösen Staffordshire-Rüden.
Dieser hat sich derartig in einen Knüppel verbissen, dass sie damit das 50- Kilo-Tier immer im Kreise herumschleudern können.
Da freuen sich Mensch und Kreatur gleichermaßen.
Ich nehme den Weg durch den Nachbarschaftsgarten und bewege mich auf das Georg-von-Rauch-Haus zu.
Ich mag das alte Gebäude.
Von der Nordseite des Bethanien hört man Musikfetzen. Klavier.
Die Jugend-Musikschule.
Es riecht mal wieder nach geröstetem Brot und nach einem Feuerchen.
Aus den Schloten der Bauwägen vom Kreuzdorf raucht es behaglich.
Eine Gruppe Touristen kommt mir entgegen. Ein Reiseleiter erklärt ihnen alles, was man über das revolutionäre Kreuzberg wissen muss. Und natürlich muss der Rauch-Haus-Song herhalten.
Ich finde es respektlos, wie sie da vor der Wagenburg stehen bleiben um geiles Ghetto zu gucken.
Kein Blick zu diesen Deppen, und wenn sie noch so gerne mal Blickkontakt mit einem Ureinwohner hätten.

Zurück zur Vorderseite des Platzes.
Am nördlichen Ende steht die Engelskirche. Ein monumentaler, schöner Backsteinbau, den man architektonisch eher in der Toskana verorten würde.
Ich verweile einen Moment auf den Stufen vor dem Eingang und schaue einem großen Hunderudel beim Spielen in der Sonne zu.
Als das Ordnungsamt versucht sich anzuschleichen, flüchtet man in alle Richtungen.
Auch ich schnappe meine Töle und gehe nach Hause.
Nachher müssen wir eh nochmal raus. Zur Abendrunde auf dem Platz.

Das Baumhaus an der Mauer

Merry Crisis, Berlin, 2009

Das Baumhaus an der Mauer liegt im Bezirk Kreuzberg und nicht, wie manchmal fälschlicherweise behauptet, in Mitte.
Das war einmal, und so fängt die ganze Geschichte überhaupt erst an.
Denn Osman Kalin, gebürtiger Anatolier, verließ als 40 jähriger seine Heimat, ging nach Österreich und von dort über Stuttgart und Mannheim nach Berlin.
1980 kam er hier an und bezog eine Wohnung auf dem Bethaniendamm, mit Mauerblick.
Mit dem Eintritt ins Rentenalter 1983 begann auch die Langeweile und als Kalin mal wieder so aus dem Fenster auf die Berliner Mauer blickte kam ihm eine Idee.
Er krempelte die Ärmel hoch und fing an, Schrott, Müll, Schutt und Steine von einer kleinen Brache zu schaffen, die vor seinem Haus im Schatten der Mauer lag.
Als diese Arbeit getan war, harkte er den Boden und bepflanzte ihn kurzerhand mit allerlei Gemüse und einigen Obstbäumen.
Ein Zaun drum herum, eine Holzhütte mitten drauf- so wurde Kalin zum Schrebergärtner der eigenen Kolonie mit ihren eigenen Regeln.

Eines Tages aber öffnete sich eine Tür im antifaschistischen Schutzwall, und Uniformierte statteten dem Efendi Kalin einen Besuch ab.
Man erklärte ihm, dass der neu angelegte und prosperierende Schrebergarten mitsamt Datscha zum Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik gehöre, auch wenn er aus mauerbautechnischen Gründen (Mangel an Fertigteilen zur Errichtung der Grenzanlage aus Beton und Stahl) auf der anderen Seite des Walls lag.
Es soll eine Diskussion gegeben haben, in deren Verlauf Grenzer und Gärtner sich gegenseitig als Eselssohn betitelten (so der heute fast 50 jährige Sohn des Gartenbauers).
Man einigte sich: der Efendi durfte bleiben, sollte aber die tollkühne Baumhauskonstruktion nicht weiter aufstocken und die Mauer auch tunlichst nicht als Rankhilfe benutzen.
Das war also für´s Erste geklärt. Unklar blieb weiterhin, wie der Efendi seinen Garten bewässern würde. Das Graben eines Brunnens wurde ihm untersagt und die Berliner Wassergesellschaft stellte klar, dass sämtliches Wasser unterhalb des Straßenpflasters ihr allein, und nicht Allah gehöre (wie der Efendi behauptet haben soll).
Schließlich sprang der Pfarrer der gegenüberliegenden evangelischen
St. Thomas-Gemeinde ein, und bis heute verhilft der Quell der Nächstenliebe dem kleinen Eiland zwischen Bethaniendamm und Mariannenplatz Jahr für Jahr zur Blüte.

Zu Weihnachten sollen die DDR-Grenzer dem Efendi, als volkseigenen Anrainer, sogar Gebäck und Spirituosen durch die Mauer gereicht haben, bis diese dann fiel und das Baumhaus plötzlich nicht mehr am Rande West-Berlins, sondern mitten in der wiedervereinigten Stadt stand.

Mit Bienenfleiß machte sich die Metropole mit Hauptstadtambitionen an die Umsetzung der Pläne Barths. Dieser hatte einen Grünstreifen als Naherholungsgebiet für Arbeiter enworfen, der entlang des ehemaligen luisenstädtischen Kanals vom Erkelenzdamm bis zum Bethaniendamm angelegt werden sollte.
Das Geld ging aus. Efendi blieb von der Verschweizerung seines Gartens verschont.
Im Jahr 2004 fiel das kleine Anwesen von Osman Kalin im Rahmen einer Grenzbegradigung an Kreuzberg, zu dem es im Geiste ja all die Jahre schon gehört hatte.

Kalin hat nun auch offiziell Nutzungsrecht seiner Scholle auf Lebenszeit.
Der heute fast 90 jährige genießt dies in vollen Zügen.
An lauen Abenden sieht man ihn nach getaner Arbeit vor seinem Garten mit einem Glas Tee bei Tische sitzen.
(Dieser hat inzwischen einbetonierte Beine, weil seine Vorgänger alle weg gelaufen
waren).

Und immer hat der Efendi ein freundlich lächelndes Kopfnicken für seine Nachbarn übrig. Er hebt die Hand zum Gruße und schaut zufrieden über seinen kleinen, schönen Garten, an dessen Zaun mannshoch Tagetes wuchert und Kürbisse gelbblühend ranken.
Auch wenn die Touristengruppen nerven, die regelmäßig um das aus Lattenrosten, Türblättern, Bauzäunen und anderem Wohlstandsmüll errichtete Haus mit seiner wagemutigen Balkonkonstruktion herumspazieren, oder mit ihren geliehenen Fahrrädern in großen Gruppen anhalten, um es tausendfach zu fotografieren, so bescheren sie der Familie Kalin doch ein kleines Zusatz-Einkommen. Denn durch das stetig gewachsene Interesse an dem Baumhaus berichten landesübergreifend Medien über dessen Geschichte.
Die Interviews mit der Familie sind inzwischen kostenpflichtig, und an den Tagen der offenen Tür wird Eintritt verlangt.
Recht so.
An der ehemaligen Datscha selbst, hängt seit einiger Zeit ein Schild mit der Aufschrift “Baumhaus an der Mauer”.
Eine Handy-Nummer ist beigefügt und links und rechts des Schildes weht je eine Fahne: die türkische und die deutsche.