Kreuzberger Sommertraum

Carlo Giuliani Park 2013

Carlo Giuliani Park 2013 (Photo credit: seven_resist)

 Todo pasa y todo queda,
pero lo nuestro es pasar,
pasar haciendo caminos,
caminos sobre el mar.
Nunca persequí la gloria,

ni dejar en la memoria
de los hombres mi canción;
yo amo los mundos sutiles,
ingrávidos y gentiles,
como pompas de jabón.

 Antonio Machado, Cantares


Nomaden! Pilger! Vagabunden!
Juchhuu!

Endlich sind auch die Letzten eingetroffen.
Wie die Zugvögel kommen sie angereist. Zuverlässig. Jahr um Jahr.
Sobald der Winter vorbei ist und es wieder warm wird in Berlin, besiedeln sie mit den ausgebauten Hanomags, LKW, Bullies, Wannen, Transportern und Pritschenwagen ihre angestammten Plätze auf dem Bethaniendamm vor dem Rauchhaus und dem Kreuzdorf.
Unter den Wagen dösen die mitgereisten großen und kleinen Hunde, ein Ohr müde auf die Klänge der Welt gerichtet, das andere in sich selbst gekehrt.
Zwischen den Bäumen des Carlo-Giuliani-Parkes sind Wäscheleinen gespannt und vereinzelte kleine Zelte schlafen im Schatten der Akazien und Kastanienbäume.
Schnell schließen sich die Pilgerhunde mit denen der Wagenburg zu einem losen, umher streunenden Rudel zusammen.
Hier und da wird einer von ihnen vermisst, und durch mehrsprachig verfasste Anschläge an Bäumen und Laternenmasten gesucht.
Die Zusammenkunft mit den Kreuzberger Hunden wird im Spätsommer plüschige Früchte tragen, so wie in jedem Jahr, und bis zur Auflösung der Karawane durch die schlagartig einbrechende, schneidende Herbstkälte, wird man die Welpen auf den Rasenflächen rund um die Thomaskirche im tapsig übermütigen Spiel heranwachsen sehen.
Viele von ihnen werden ein Zuhause in Kreuzberg finden. Die anderen dürfen mit in den Süden ziehen, Heimat der meisten Straßencamper hier.
Spanier, Italiener, Portugiesen, Griechen. Ein paar Niederländer, Polen, Engländer und Franzosen.

Und wieder werden wir zurück bleiben, uns durch den eisigen Winter mit dem gnadenlosen  Ostwind zittern, das dreckige Moloch, das wir unsere Heimat nennen, verfluchen, vom Süden, der Wärme, der Sonne und der Freiheit träumen und auf die Rückkehr der Frühlingsboten warten, die sich Jahr für Jahr eine schöne, eigene kleine Welt am Luisenstädtischen Kanal schaffen und Kreuzberg bereichern und noch liebenswerter und bunter machen, als es ohnehin schon ist.
Abends sitzen sie dann biertrinkend auf dem Mäuerchen, das den Nachbarschaftsgarten einfasst, in dem sich die türkischen Frauen an einer großen Tafel zum Plausch treffen und Bohnen, Erdbeeren, meterhohen Sonnenblumen, Stockrosen, Tagetes und allerlei Kräutern beim Wachsen zuschauen.
Man unterhält sich, jongliert ein wenig, übt kleine Kunststückchen, mit denen sich tagsüber an den Ampeln der Hauptstadt ein paar Cent verdienen lassen. Die Stimmung ist entspannt. Friedlich.
Ab und an fährt eine Bullenwanne vor, Personenkontrolle, die üblichen Schikanen und Drohgebärden und dann wird weiter gechillt und gelacht, die eine oder andere Tüte geraucht, zum Klang der Lautsprecher des Freiluftkinos, das nur einen Steinwurf entfernt im Garten des Künstlerhauses Bethanien sehenswerte Filme auf einer meterhohen Leinwand zeigt.
Manchmal flattert eine Fledermaus vorbei.
Ihr Flügelschlag flüchtig wie das Glück dieser langen, blauen Sommernächte.

Kreuzberg, mein Kreuzberg.
Mein Zuhause.

Mein Block

Coat of arms of Kreuzberg, a former Borough of...

Coat of arms of Kreuzberg, a former Borough of Berlin (Photo credit: Wikipedia)

                     

 

Muskauer/ Mariannen/ Waldemar/ Manteuffel

 

Vor Jahren stieß ich im Netz auf eine Reihe von Aufsätzen, in denen Grundschüler der E.-O.-Plauen-Schule über ihre Straße schrieben, und deren Vor- wie Nachteile aufzählten.

Einem türkischen Jungen, zum Beispiel, gefiel nicht, dass die deutschen Nachbarn, die unter ihnen wohnten immer meckerten, und dass die zweite deutsche Familie beim Kochen das Treppenhaus mit üblen Gerüchen verpestete.

Entspannte Zeiten, als hier kaum Deutsche wohnten, im Januar kein einziger Weihnachtsbaum auf dem Gehweg entsorgt wurde und die Kinder im Hof „Anne!“ plärrten, damit aber ihre Mutter, und nicht die kleine Anne-Sophie meinten, deren ernährungsbewusste, grün-wählende Yoga-Eltern das Töchterchen mit der Geländelimousine zum Ballett fahren.

In einem der Aufsätze beklagte ein Mädchen, dass ihre Reinickendorfer Verwandtschaft sie bedauerte im schmuddeligen Kreuzberg leben zu müssen.

Eine andere Schülerin wohnte in der Mariannenstraße und plädierte dafür, den Platz mit dem Feuerwehrbrunnen in Trinkerplatz umzubenennen, weil dort ganzjährig gesoffen wurde, als gäbe es kein Morgen.

Hunde konnten noch frei und ohne Steuermarke im Park herumtoben, den man sich mit grillenden Großfamilien teilte. Denn anstelle der Denunzianten des Ordnungsamtes spazierte noch der KOB durch den Kiez. Der Kontaktbereichsbeamte. Er war für ein festgelegtes Gebiet zuständig, das er über Jahre hinweg zu Fuß durchstreifte. Das machte ihn zu einer Art Dorfpolizisten, der sich für Hunde und Bierflaschen nicht interessierte.

Damals gab es auch noch das Café Anal, in dem es sich angenehm unbehelligt sitzen ließ, und das die Kinder in ihren Aufsätzen als Lesbenbar bezeichneten.


Schwule Mädchen – An jeder Ecke
Schwule Mädchen – In deiner Stadt

Jedes Jahr am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, um Schlag 18 h hebelten die ersten Sturmhaubenträger Pflastersteine aus dem Rondell des Mariannenplatzes.

Die in der Manteuffelstraße geparkten Wasserwerfer, bogen militärparaden-artig, in die Muskauer Straße ein und beschossen die Steinewerfer, die vor der großartigen Kulisse des alten Bethanien-Krankenhauses mit seinen beiden Türmen, im Glast der tiefstehenden Frühlingssonne umher rannten, nun bekränzt von einem Regenbogen, den die Gischt des Wasserwerfers auf sie heruntersprühen ließ. Abende an denen man, in verklärter Revolutionsromantik, ein Kind hätte zeugen, mindestens aber einen Plus-Markt plündern mögen. Der Bolle war bereits 1987 in Flammen aufgegangen. Wie sich später herausstellte zeichneten dafür allerdings nicht die Autonomen verantwortlich, sondern ein Pyromane, dem gerade der Sinn nach ein wenig Zündeln gestanden hatte, und der nicht bemerkt haben wollte, dass in Kreuzberg derweil ein Straßenkampf tobte.

Auf dem staubigen Oranienplatz schrammelte irgendeine Punkband die bedröhnten Kapuzen- oder Dreadlockträger, die zu diesem Anlass aus jedem Winkel hervor gekrochen waren, in die Nacht. Cannabisschwaden wehten durch die laue Frühlingsluft, kaltes Bier lief geschmeidig die Kehle herunter.

Mayday in Berlin-Kreuzberg Oranienplatz

Mayday in Berlin-Kreuzberg Oranienplatz (Photo credit: Wikipedia)

In dem Haus, schräg gegenüber dem meinen, stellte man nach Einbruch der Dunkelheit Boxen auf die Fensterbänke und beschallte die mit Schild und Helm bewehrten Polizisten, die schwer bestiefelt die Straße stürmten, um den am Westende liegenden Mariannenplatz abzuriegeln, mit „I shot the sheriff“. Immer wieder munkelte man, das Gebäude aus der Gründerzeit gehöre dem, kürzlich verstorbenen, Nazi Gerhard Frey, der die leerstehenden Räume für klandestine Kameradentreffen genutzt habe. Und das zu Zeiten, als es noch eine Kiez-Miliz gab, die mit Rechten ebenso beherzt aufräumte, wie mit dicken Kutschen oder Edel-Schuppen.

Kein Kiez für Nazis - 13

Kein Kiez für Nazis – 13 (Photo credit: Björn Kietzmann)

Im gleichen Haus wohnte auch Heiner Müller, dessen Volvo an einem Revolutionären 1. Mai, vor seiner Türe, in Flammen aufging. Die Brandmale im Teer waren noch vor wenigen Jahren zu sehen, wenn sie denn wirklich von Müllers Volvo und nicht von einer schmelzenden BSR-Tonne stammten.

Auch die legendäre „Fallgrube“ war dort interimsmäßig untergebracht. Sie ist ebenso Geschichte, wie das Pink Panther am Lausitzer Platz. Mit den ewig klammen Punks ließ sich eben nicht soviel Geld verdienen, wie mit der Jeunesse dorée, die heute den Kiez überschwemmt und sich in der Long March Canteen zum Shanghai-Feeling trifft.

Auch der beste Friseurladen, die Haarschlächterei, konnte mit seinen Kunden und dem abendlichen Saufen gegen Rechts im kleinen Kreise nicht überleben.

Ja früher, da zog auch noch die Straßengang 36 Boys durch den Kiez. Tim Raue war einer von ihnen.

Heute ist der 2-Sterne-Koch in der Rudi-Dutschke-Straße ansässig.

Heute schaut man zu, wie jede Baulücke mit Luxuseigentum versiegelt wird, und die verbliebenen Wagenburgen als folkloristischer Anachronismus erscheinen. Von Touristenhorden bestaunt, wie ein unbekannter Stamm im Urwald Papua Neuguineas.
Viel ist nicht mehr geblieben von dem alten Kreuzberg, in dem man vorbei fahrende Touristenbusse mit Eiern bewarf, ahnend, dass die Entdeckung des Viertels durch Marco-Polo-Reisende, zugleich auch dessen Ende bedeuten würde.
Aber es rührt sich Widerstand. Und dieser Widerstand wächst. Denn inzwischen trifft die Gentrifizierung nicht allein alternative Projekte, oder die türkische Familie, die nach über 30 Jahren aus ihrer Wohnung verdrängt wird. Zwangsräumungen gehören längst zum Alltag in Berlin Kreuzberg.

Wenn allerdings sogar Schulen und historische Denkmäler Luxuslofts weichen müssen, ist das Maß mehr als voll.
Wer jetzt noch glaubt, dass der Fürst sich in irgend einer Weise um das Fußvolk kümmern, oder gar den Bürgerwillen umsetzen wird, der glaubt auch noch an die jungfräuliche Empfängnis.

Mariannenplatz

Der Mariannenplatz liegt eingebettet zwischen der Mariannenstraße im Osten, der Waldemarstraße im Süden, dem Bethaniendamm, der ihn im Norden begrenzt und der Adalbertstraße im Westen.

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Er führt den Namen Platz zu Recht, anders als zum Beispiel der nahe gelegene Heinrichplatz, der einfach ein Plätzchen ist.
Marianne von Oranienburg-Nassau, Tochter Wilhelm des I., ist die Namenspatin meines Lieblingsplatzes in Berlin.
Ich liebe es von der Mariannenstraße aus die Stufen zum Bethanien zu nehmen und zu dem alten schönen Gemäuer mit seinen beiden Türmen und der dazwischen angebrachten Glocke, die an Missionskirchen in Lateinamerika erinnert, empor zu schauen.
Ein Blick nach links: in der Ferne, der Feuerwehrbrunnen von Kurt Mühlenhaupt, der 1981 an derselben Stelle errichtet wurde, an dem schon sein Vorgänger dem Krieg zum Opfer fiel. Ich weiß, dass dieser Brunnen die Arbeit und die Opferbereitschaft der Feuerwehrleute würdigen soll. Ein Blick in die Gesichter der Bronzefiguren, lässt einen dann aber doch an der hehren Absicht zweifeln: die sehen mit ihren dicken, geschwollenen und überdimensionierten Nasen und ihrem dümmlichen Gesichtsausdruck allesamt aus wie schwere Säufer.
Man könnte glauben, dass der Brunnen aus Hass auf Feuerwehrleute dort steht, und einzig ihrer Verunglimpfung dienen soll.
Um den Brunnen herum, gruppieren sich im Halbkreis rosafarben getünchte Alt- und Neubauten.
Auf Luftaufnahmen nach 1945 ist deutlich zu erkennen, welche Häuser im Block durch Bomben ausradiert wurden.
Eines davon stand direkt auf der Ecke Waldemar-/ Mariannenstraße.
Dort befindet sich jetzt ein großer Neubau, der sich gut ins Bild einfügt, und dessen Erdgeschoss eine Eckkneipe beherbergt, in der schon Rio Reiser gerne und häufig zu Gast war.
Vielleicht haben durchzechte Nächte zu der ersten Zeile des Rauchhaussongs geführt.

Heute steht das Bethanien nicht mehr ganz leer.
Es beherbergt zahlreiche Ateliers für Künstler, eine Kita, das Restaurant
“3 Schwestern” und im Südflügel die ehemaligen Besetzer der Yorckstraße, die inzwischen ordentliche Mieter sind, den Betreibern des Künstlerhauses Bethanien aber aus Gründen des Renommées ein solcher Dorn im Auge waren, dass man sich entschloss in ein todschickes Haus auf dem Kottbusser Damm umzuziehen. Gut so.
Wo Kunst nicht nur apolitisch ist, sondern zum Erfüllungsgehilfen von Gentrifizierern und Gleichmachern wird und sich ausdrücklich von alternativen Lebensformen distanziert, ist sie eben auch nichts anderes mehr als ein Business. Dies allerdings gerne mit viel Chichi und Wichtigmeierei.
Kurz: ich bin froh, dass sie weg sind.
Der Südflügel beherbergt neben den” Yorckies” auch die Heilpraktiker Schule (selbstverwaltet), die mit einem lässig aus dem Fenster gehängten Transparent, verziert mit dem Yin-und-Yang-Symbol, ihren Standort kenntlich macht.
Sobald es warm genug ist, sitzen die SchülerInnen draußen und halten mit ihren gezähmten LehrerInnen im Freien Unterricht ab. Man erkennt sie sofort. Haare, Klamotten alles ein bißchen filzig und grob.
Am eindeutigsten sind sie aber an ihren Blicken auszumachen.
Da ist so etwas Wissendes drin. Da merkt man gleich, dass sie sich durch ihre spirituelle Offenheit Welten erschlossen haben, zu denen ich als verkopfter und ignoranter Mensch niemals Zugang haben werde.
Mit toleranzgeschürzten Gesichtern sitzen sie da, mit friedvoll hängenden Schultern und wachsamem Blick.
Eine kurze Irisdiagnose en passant. Ein Braunauge.
Mein verschlossen bis ablehnender Gesichtsausdruck lässt eine Spontandiagnose zu: “Sepia!, total Sepia! Verzweifelt oder verbittert!”
Das hat mir mal ein Homöopath mit auf den Weg gegeben. So würde ich enden.
Ob er am Ende recht behält?
Schnell die Schule und die glotzenden Gutmenschen hinter mir gelassen (ich spüre noch ihre kosmische, feinstoffliche Liebe im Nacken), und rechts abgebogen, vorbei am Freiluftkino und zum Nachbarschaftgarten.
Dort treffe ich fast immer auf den gleichen Trinker, der mit seinem Foxterrier Idefix Ball spielt.
Idefix ist der klassische Apportierhund. Er lebt einsam in der Welt seines Balles, Artgenossen interessieren ihn nicht, Menschen interessieren ihn nicht: der Ball muss fliegen, zurück gebracht werden um wieder zu fliegen.
Das alleine zählt, und das stimmt mich irgendwie traurig.
Auf dem Rasen stehen zwei übermuskulöse Typen mit ihrem übermuskulösen Staffordshire-Rüden.
Dieser hat sich derartig in einen Knüppel verbissen, dass sie damit das 50- Kilo-Tier immer im Kreise herumschleudern können.
Da freuen sich Mensch und Kreatur gleichermaßen.
Ich nehme den Weg durch den Nachbarschaftsgarten und bewege mich auf das Georg-von-Rauch-Haus zu.
Ich mag das alte Gebäude.
Von der Nordseite des Bethanien hört man Musikfetzen. Klavier.
Die Jugend-Musikschule.
Es riecht mal wieder nach geröstetem Brot und nach einem Feuerchen.
Aus den Schloten der Bauwägen vom Kreuzdorf raucht es behaglich.
Eine Gruppe Touristen kommt mir entgegen. Ein Reiseleiter erklärt ihnen alles, was man über das revolutionäre Kreuzberg wissen muss. Und natürlich muss der Rauch-Haus-Song herhalten.
Ich finde es respektlos, wie sie da vor der Wagenburg stehen bleiben um geiles Ghetto zu gucken.
Kein Blick zu diesen Deppen, und wenn sie noch so gerne mal Blickkontakt mit einem Ureinwohner hätten.

Zurück zur Vorderseite des Platzes.
Am nördlichen Ende steht die Engelskirche. Ein monumentaler, schöner Backsteinbau, den man architektonisch eher in der Toskana verorten würde.
Ich verweile einen Moment auf den Stufen vor dem Eingang und schaue einem großen Hunderudel beim Spielen in der Sonne zu.
Als das Ordnungsamt versucht sich anzuschleichen, flüchtet man in alle Richtungen.
Auch ich schnappe meine Töle und gehe nach Hause.
Nachher müssen wir eh nochmal raus. Zur Abendrunde auf dem Platz.