Klassenfahrt

Klassenfahrten habe ich nie gemocht. Genau so wenig wie Schulsport.

Bundesarchiv Bild 183-N0912-0304, Neubrandenbu...

(Photo credit: Wikipedia)

Es war mir zuwider, wenn sich verschwitzte. dampfende Menschen, auszogen und ihre käsigen Körper, deren madenartige Nacktheit mich ekelte, vor meinen Augen mit großen, ausholenden Bewegungen einseiften. Schenkel, Achseln, Brüste. Später balancierten sie mit gespreizten Beinen, umständlich auf den Zehenspitzen und zogen sich das Handtuch mehrfach durch den Schritt. Vor und zurück. Danach trockneten sie unter ächzenden Verrenkungen die rückwärtige Spalte, und zu guter Letzt popelten sie zwischen ihren Zehen herum, bevor sie ihre Füße wieder in die alten Socken und die miefenden Schuhe zwangen. Die Verklemmten waren mir da lieber, obwohl auch deren Umgang mit Körper mich peinlich berührte. Außerdem wollte ich mit soviel ungebetener Nacktheit nichts zu tun haben.
Bis heute bin ich keine Kandidatin für den FKK-Strand, oder die Sauna.
Haut gefällt mir wohldosiert und privat am Besten.
Dann die Gruppendynamik. Gemeinsames Kichern, Johlen, sich verbrüdern. Intime Geschichten heraus posaunen. Sich einen Prügelknaben suchen, den man die ganze Reise über immer wieder anzählt,
bloßstellt, demütigt.
Die weniger autoritären Lehrerinnen wurden gepiesackt, wo es nur ging. Ausgelacht, verhöhnt, zur hilflosen Verzweiflung getrieben. Demontiert.
Bei der Abschlussfahrt nach Paris, wir waren ein Französisch-Leistungskurs, führte sich ein Großteil der Horde so auf, wie man es von Deutschen erwartet: laut, polternd und unsensibel.
Kaum hatten wir Notre Dame erreicht, rannten die Jungens (hat man die so genannt?) auch schon zu den afrikanischen Händlern, die vor der gotischen Kathedrale Schlapphüte aus Leder verkauften. Nach kurzem Feilschen hatte jeder von ihnen, bis auf den Blindschachspieler, einen Hut auf dem Kopf.
-Höhö, die sinn bestimmt mit Elefantenpisse gegerbt!
-Quatsch, da habbe die selbä druffgepisst! Harharhar!
Um Straßenmusiker, bildeten sie reflexartig einen Kreis und hotteten, mit ungelenkem Enthusiasmus,
bemüht connaisseurhaftem Gesichtsausdruck und taubenartigem Kopfrucken, ab. Dabei blieben die Hüften, um die sie ihre Pullover gebunden hatten, starr und fast unbewegt. Stattdessen verlagerten sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, und wippten, mit leicht gebeugten Knien, wie ein hospitalisiertes Kleinkind im Laufstall, das die Windeln voll hat. Den Takt zu treffen gelang nicht immer.
Es wurde auch übermäßig viel Alkohol getrunken. Komasaufen war ja damals noch nicht. Aber zum
Im-Hohen-Bogen-Kotzen, und zu jeder Menge verbalen Entgleisungen hat es spielend gereicht.
Natürlich gab man sich die Kante nicht mit Rotwein, sondern mit Sangria oder selbst mitgebrachtem Apfelkorn. Den Alkopops von früher. Rülpsen, furzen, grölen.
Was hab ich mich geschämt, wenn ich in dieser Zwangsgemeinschaft unterwegs sein musste. Auf gar keinen Fall wollte ich mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Gesenkten Hauptes lief ich durch eine der schönsten Städte der Welt. So verbrachte ich möglichst viel Zeit in Museen, auf Flohmärkten, bei den Bouquinisten an der Seine und in Bistros bei einem café au lait. Manchmal war auch der
Blindschachspieler dabei. Ein schweigsamer, angenehmer Mensch, der auf eine stille Art sehr komisch und unterhaltsam war.
Wie bei jeder Klassenfahrt, befiel mich bald irgendein körperliches Unwohlsein, so dass ich einen Arzt aufsuchte.
In Paris war mir derartig schlecht (nausée), dass ich zu einem Internisten im zweiten Arrondissement ging. Die Praxis befand sich in der Belle Etage eines palastartigen Altbaus, der an einem lauten Boulevard gelegen war. Über 4 Meter hohe Decken, Stuck, Intarsienparkett, Flügeltüren und originale, durch die Jahre abgenutzte, Art Deco Möbel.
Der Arzt war ein freundlicher, betagter Herr, der ein wenig mit mir plauderte, meine Zunge ansah, und mir dann ein Medikament mitgab, das ich nicht nahm, denn ich war bereits geheilt, als ich die Praxis verließ.
Meine Abscheu gegen Klassenfahrten, verursacht durch die beschriebenen Erlebnisse,  ging soweit, dass ich bei einer Reise ganz auf die Teilnahme verzichtete, und es vorzog statt dessen am Schulunterricht der Parallelklasse teil zu nehmen. Wenigstens konnte ich den Rest des Tages dann ohne Vorgabe gestalten, und musste auch nicht den üblichen Jugendherbergsfraß, geschweige denn meine unerträglichen Mitschüler erdulden.
Nur die Fahrt nach Berlin ist mir in guter Erinnerung geblieben. Es war bitterkalt. Wir hörten Ton,Steine,Scherben, David Bowie und The Stooges, zogen durch Kreuzberg und kifften im Schatten der Mauer.
Macht kaputt, was euch kaputt macht!
Die Luft roch nach Kohleöfen.
Am Nollendorfplatz gab es einen Flohmarkt in einem stillgelegten U-Bahnhof. Dort erstand ich Schallplatten, Stoffe und alte Knöpfe.
In der Garage wurden Klamotten zum Kilopreis verkauft. Alte Lederjacken, zerschlissene Jeans, schwere Gürtel. Jede Menge Nieten, Federn und Pailletten. Ein Paradies.
Dann natürlich der Punk-Himmel, das SO 36.
Sogar in den Dschungel wurde ich eingelassen, und war berauscht von soviel Coolness und Gin.
Ich wusste, dass ich eines Tages in West-Berlin leben würde.
Inzwischen bin ich seit 19 Jahren hier.
Der Dschungel schloss vor 20 Jahren endgültig seine Pforten, und die Mauer war auch schon gefallen, als ich nach Berlin zog. Das SO 36 gibt es noch, und hier wohne ich. In Kreuzberg Süd-Ost. Dort, wo ich immer sein wollte, und das mir bei aller Liebe auch mächtig zum Hals raushängt.
Bin gespannt, ob ich hier jemals weg komme.
Gestern in der Friedrichstraße, am Checkpoint Charly, und später beim Holocaust-Mahnmal habe ich sie mal wieder gesehen. Die Grüppchen von Schülern, die durch die Stadt ziehen, von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit. Manche sind laut, andere tragen blinkende Teufelshörner auf  ihren leeren Köpfen. Die Mädchen Shorts, Leggings, Chucks, Berlin-Stoffbeutel, und immer ein iPhone in der Hand, mit dem sie sich gegenseitig fotografieren. Posierend.
Nur ein paar trotten peinlich berührt hinter ihrer Klasse her, schämen sich, und schwören, irgendwann mal allein hierher zu kommen, und zum Studium nach Friedrichshain, Neukölln oder Kreuzberg zu ziehen. Vielleicht sogar auf eine Wagenburg, ein Hausboot, oder in ein Hausprojekt. Mal seh´n.

Bis dahin allerdings, wird sich soviel verändert haben, dass sie der Illusion von der geilsten Stadt der
Welt ein bisschen hinterher trauern, und trotzdem für immer bleiben werden.

Es geht voran

Bald wird es dunkel, und für einen ausgedehnten Spaziergang im Tiergarten sind wir spät dran. 
Schnell die dicke Jacke angezogen, Schal umgeworfen, Schlüssel geschnappt und zack, zack, zack 
aus dem Haus gestürzt. 
Töle spürt die Eile. Sie senkt den Kopf ein wenig und trabt konzentriert neben mir her.
Mariannenstraße, Schillingbrücke, Koppenstraße.
Am Ostbahnhof angekommen, hetze ich durch die ausgestorbene Minerva-Passage und blicke nach rechts.
Die Postfiliale bietet zwar keinen Geldverkehr, dafür aber Zigarren an, die neben dem Eingang in Humidoren aufbewahrt werden. Erstaunlich. 
Der Sandwich-Laden mit den passablen Thunfisch-Stullen ist schon wieder ausgezogen. Sein Vormieter Subway hat den zweiten Anlauf genommen hier Fuß zu fassen. 
Wie früher, ist der Laden auch heute wieder gähnend leer. 
Nicht die richtige Ecke für belegte Weißmehl-Produkte. Die Konkurrenz durch Mc Donalds und Backwerk in der Haupthalle ist einfach zu groß. 
Um dem lukullischen Elend die Krone aufzusetzen wird wahrscheinlich 
Dunkin Donuts als nächstes hier eröffnen.
Ein im Mittelgang aufgebauter Pavillon verkauft neben Filzpantoffeln, Schals mit Leopardenprint, bunten Socken und Moonboots auch Plüschhausschuhe in vielfältigen Ausführungen: Riesen-Chucks, Welpen, Ferkel, Drakulaköpfe, Tigertatzen, Bärenpranken usw.
Ich stelle mir vor, wie die glückliche Kundin Puschen für sich und ihren Partner erwirbt, die die beiden fortan in ihrer Freizeit tragen werden. 
Die Dame des Hauses trägt die Ferkel zur rosafarbenen Jogginghose mit silbernen Seitenstreifen. Der Gatte kombiniert die Raubtierfüße mit der legeren, tiefsitzenden Sweat-Hose in hellgrau.
Der Gedanke gefällt mir, und während ich mir den Alltag des Pärchens, zwischen RTL, festen und flüssigen Kohlenhydraten, sowie Lexmaul-Tuning ausmale, sehe ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster.
 Abrupt bleibe ich stehen.
 „Nein!“ 
Töle schaut mich an und gähnt verlegen. 
„Gibt´s doch nich!“
 Der Hund macht Sitz.

Zur schwarzen Hose und schwarzen Schürstiefeln trage ich tatsächlich eine rote Jacke mit gelbem Schal und gelber Kapuze, und sehe aus wie eine Deutschlandfahne. Schwarz, rot, gelb.
 Dass ich das nicht schon Zuhause gemerkt habe! 
Ob ich mir rasch etwas anderes zum Anziehen kaufe? 
In der Haupthalle gibt es einen Fanshop für Hertha BSC und die Berliner Eisbären. 
Die Fanartikel in XXXL sind zu blau, zu geräumig und sowieso nicht mein Fall. 
Ansonsten steht noch der Modevertrieb von Frau Pooth zur Auswahl.
 Der Preis für den Billigramsch ist mir zu hoch. Hungrige Kinder nähen nicht besonders gut.

Aber in diesem Flaggenlook durch die ganze Stadt?
 Dann lieber mit Drakula-Puschen in die S-Bahn steigen, einen Haarreif mit blinkenden Teufelshörnern aufsetzen und den Hund Männchen machen lassen.
 Wahrscheinlich würde sich Töle in meine Plüschfüße verbeissen und totschütteln spielen.
 Die Mitreisenden würden sich freuen, ihr lächelnd den Kopf tätscheln, die Mini-Pizza 
mit ihr teilen und mir ein paar Kupfermünzen vor die Füße werfen.


Ich beschließe meine Pläne zu vertagen und nach Kreuzberg zurück zu kehren.

Der Abwechslung halber gehen wir heute an der East- Side- Gallery entlang, Richtung Oberbaumbrücke, um torkelnde Touristen (TT) zu gucken.
 Der von Künstlern gestaltete Überrest der Berliner Mauer mit seiner naiv-düsteren Achtziger-Jahre-Ästhetik ist auch heute wieder ein Magnet für die Besucher der Stadt.
 Besonders beliebtes Fotomotiv, ist das Bild der in Ketten gelegten Friedenstaube. 
Ganze Gruppen bleiben davor stehen und lassen sich ablichten, ehe sie sich einen Original-DDR-Stempel in ihren Reisepass drücken lassen.
 Ohne nach links und rechts zu schauen laufen sie kreuz und quer (TT) und schrecken verstört beiseite, als ich versuche mir mit einem „Achtung!“ den Weg durch die Menge zu bahnen.

Wahrscheinlich schüchtert sie der Nationalfahnen-Aufzug, gepaart mit meiner harschen Aufforderung und dem Hund an meiner Seite, hier im ehemaligen russischen Sektor so sehr ein, dass sie beinahe glauben, die Mauer stünde noch und jeden Moment käme ein Volkspolizist sie zu verhaften, in düstere Stasi-Gefängnisse ab zu transportieren und wochenlang gnadenlos verhören zu lassen.

Direkt hinter der East Side Gallery fließt die Spree. Sie bildete die natürliche Grenze zwischen Ost- und West-Berlin.
 Bis 1989 patrouillierten hier die Grenzposten der DDR.

„You are entering a world of pain“  hatte um die Jahrtausendwende ein anonymer Sprayer in riesigen, kunstvollen Lettern dort auf die Mauer gesprüht.
 Schade, dass das Graffito übertüncht wurde.
 Heute finden sich hier nur ein paar geistlose Kritzeleien und die üblichen Tags.

Ich erinnere mich an die Werbung für ein Sprachinstitut, das Anfang der 90er Jahre Deutsch als Fremdsprache anbot „Learn German, as quick as you can spell reunification“. 
So schnell, wie sie buchstabiert und beschlossen war, hat sich die Wiedervereinigung nicht vollzogen. 
Auch nach über 20 Jahren, werden in den Neuen Bundesländern noch niedrigere Löhne gezahlt, als in den Alten.

Gleich sind wir an der Oberbaumbrücke. Im Lärm der riesigen Kreuzung zwischen Friedrichshain und Kreuzberg stehen ratlose Besucher der Stadt und studieren einen Reiseführer.
 Mit Hund wird man sofort als Einheimische identifiziert, und natürlich fragen sie mich nach einem der unzähligen Hostels, deren Namen ich noch nie gehört habe, weil sie mich naturgemäß nicht interessieren.

Als wir die schönste aller Berliner Brücken Richtung Süden überquert haben, biegen wir rechts ab ans May-Ayim-Ufer, und befinden uns jetzt auf der gegenüberliegenden Seite der East-Side-Gallery.
 Zur Kolonialausstellung wurde dieser Uferabschnitt ab 1891 ordentlich aufgehübscht. (Ausgerechnet hier spaziere ich jetzt in den deutschen Nationalfarben mit frisch gewaschenem weißen Hund entlang!) 
Die Doppel-Kaianlage ist eine Besonderheit. Anstelle des Leuchtturmes von damals, steht dort seit zwei Jahren die Signalkugel einer Berliner Künsterin.

Nach der Teilung Berlins verlief hier die Sektorengrenze, wobei die Spree in voller Breite zu Ost-Berlin gehörte. 
In den sechziger und siebziger Jahren wurden hier nicht nur die Menschen erschossen, die versuchten über den Fluss in den Westen zu gelangen. Es ertranken auch einige West-Berliner Kinder, weil den Rettungskräften jedes Eingreifen durch die Grenztruppen der DDR untersagt war.
 Später wurden Wasserunfallmelder aufgestellt die den DDR-Grenzposten optische und akustische Signale gaben, um (auf gleiche Weise) eine Ausnahmegenehmigung für die Rettung eines Ertrinkenden zu erhalten. 
Um weitere Kinder vor dem Sturz ins Wasser zu bewahren wurde oberhalb der Uferböschung enger Maschendraht gespannt.
Ein Teil davon steht heute noch. Löchrig durch die Jahre, wird auch er in Kürze dem neuen Anstrich des Modebezirks Kreuzberg weichen.

Man fängt an um die merkwürdigsten Dinge zu trauern, denke ich, als ich nach Hause trotte und an den leerstehenden Räumen der ungeliebten kleinen Schlecker-Filiale auf der Köpenicker Straße vorbei komme.
 In der Wrangelstraße werden die letzten Häuser saniert und selbstverständlich in Eigentumswohnungen umgewandelt. 
Wir warten gespannt auf den Einzug der neuen Nachbarn.
 Wer wird wohl als erstes gegen den, in der Markthalle beheimateten Privatclub klagen, und dessen Schließung erzwingen? 
Wieso sollte es hier in Kreuzberg anders laufen, als am Prenzlauer Berg? 


Sogar der traditionsreiche Knaack-Club, der immerhin 59 Jahre durchgehalten hat musste dem Druck der zugezogenen, neuen Eigentümer weichen. 
Der Magnet Club ist aus dem gleichen Grund nach Kreuzberg umgezogen; das Icon hat ganz dicht gemacht.
 Als im vergangenen Jahr der Club der Republik schließen musste, hing man kurzerhand ein Transparent aus dem Fenster, das mir gut gefallen hat.

Club der Republik

Zuhause angekommen schlägt mir eine Rauchwolke im Treppenhaus entgegen. Es stinkt auch wieder nach Pisse, und missmutig kicke ich die Scherben auf dem Boden beiseite, ehe Töle sich etwas eintritt.


ARF- Asoziale Radikale Ficker,

lese ich, als ich die Tür aufschließe . 


Kreuzberg 36, auf den Rest den scheiss ich!

steht darunter, ergänzt von

Fick die Welt

und


FUCK SYSTEM .

Daneben ein Fleck getrockneten Blutes.

Auch um diesen Schmutz und Gestank werde ich wohl eines Tages trauern, wenn endlich die letzte Eigentumswohnung verkauft ist. 


Mir graut vor dem Moment, in dem ein Gebäudereiniger sein Gerüst hier aufbaut und ich schriftlich dazu aufgefordert werde mich an der Planung zur Luxussanierung zu beteiligen.

Solange es hier so aussieht werde ich wohl noch ein bißchen bleiben können, bis die Gentrifizierung auch über mir zusammenschlägt wie eine große Welle.

Das Baumhaus an der Mauer

Merry Crisis, Berlin, 2009

Das Baumhaus an der Mauer liegt im Bezirk Kreuzberg und nicht, wie manchmal fälschlicherweise behauptet, in Mitte.
Das war einmal, und so fängt die ganze Geschichte überhaupt erst an.
Denn Osman Kalin, gebürtiger Anatolier, verließ als 40 jähriger seine Heimat, ging nach Österreich und von dort über Stuttgart und Mannheim nach Berlin.
1980 kam er hier an und bezog eine Wohnung auf dem Bethaniendamm, mit Mauerblick.
Mit dem Eintritt ins Rentenalter 1983 begann auch die Langeweile und als Kalin mal wieder so aus dem Fenster auf die Berliner Mauer blickte kam ihm eine Idee.
Er krempelte die Ärmel hoch und fing an, Schrott, Müll, Schutt und Steine von einer kleinen Brache zu schaffen, die vor seinem Haus im Schatten der Mauer lag.
Als diese Arbeit getan war, harkte er den Boden und bepflanzte ihn kurzerhand mit allerlei Gemüse und einigen Obstbäumen.
Ein Zaun drum herum, eine Holzhütte mitten drauf- so wurde Kalin zum Schrebergärtner der eigenen Kolonie mit ihren eigenen Regeln.

Eines Tages aber öffnete sich eine Tür im antifaschistischen Schutzwall, und Uniformierte statteten dem Efendi Kalin einen Besuch ab.
Man erklärte ihm, dass der neu angelegte und prosperierende Schrebergarten mitsamt Datscha zum Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik gehöre, auch wenn er aus mauerbautechnischen Gründen (Mangel an Fertigteilen zur Errichtung der Grenzanlage aus Beton und Stahl) auf der anderen Seite des Walls lag.
Es soll eine Diskussion gegeben haben, in deren Verlauf Grenzer und Gärtner sich gegenseitig als Eselssohn betitelten (so der heute fast 50 jährige Sohn des Gartenbauers).
Man einigte sich: der Efendi durfte bleiben, sollte aber die tollkühne Baumhauskonstruktion nicht weiter aufstocken und die Mauer auch tunlichst nicht als Rankhilfe benutzen.
Das war also für´s Erste geklärt. Unklar blieb weiterhin, wie der Efendi seinen Garten bewässern würde. Das Graben eines Brunnens wurde ihm untersagt und die Berliner Wassergesellschaft stellte klar, dass sämtliches Wasser unterhalb des Straßenpflasters ihr allein, und nicht Allah gehöre (wie der Efendi behauptet haben soll).
Schließlich sprang der Pfarrer der gegenüberliegenden evangelischen
St. Thomas-Gemeinde ein, und bis heute verhilft der Quell der Nächstenliebe dem kleinen Eiland zwischen Bethaniendamm und Mariannenplatz Jahr für Jahr zur Blüte.

Zu Weihnachten sollen die DDR-Grenzer dem Efendi, als volkseigenen Anrainer, sogar Gebäck und Spirituosen durch die Mauer gereicht haben, bis diese dann fiel und das Baumhaus plötzlich nicht mehr am Rande West-Berlins, sondern mitten in der wiedervereinigten Stadt stand.

Mit Bienenfleiß machte sich die Metropole mit Hauptstadtambitionen an die Umsetzung der Pläne Barths. Dieser hatte einen Grünstreifen als Naherholungsgebiet für Arbeiter enworfen, der entlang des ehemaligen luisenstädtischen Kanals vom Erkelenzdamm bis zum Bethaniendamm angelegt werden sollte.
Das Geld ging aus. Efendi blieb von der Verschweizerung seines Gartens verschont.
Im Jahr 2004 fiel das kleine Anwesen von Osman Kalin im Rahmen einer Grenzbegradigung an Kreuzberg, zu dem es im Geiste ja all die Jahre schon gehört hatte.

Kalin hat nun auch offiziell Nutzungsrecht seiner Scholle auf Lebenszeit.
Der heute fast 90 jährige genießt dies in vollen Zügen.
An lauen Abenden sieht man ihn nach getaner Arbeit vor seinem Garten mit einem Glas Tee bei Tische sitzen.
(Dieser hat inzwischen einbetonierte Beine, weil seine Vorgänger alle weg gelaufen
waren).

Und immer hat der Efendi ein freundlich lächelndes Kopfnicken für seine Nachbarn übrig. Er hebt die Hand zum Gruße und schaut zufrieden über seinen kleinen, schönen Garten, an dessen Zaun mannshoch Tagetes wuchert und Kürbisse gelbblühend ranken.
Auch wenn die Touristengruppen nerven, die regelmäßig um das aus Lattenrosten, Türblättern, Bauzäunen und anderem Wohlstandsmüll errichtete Haus mit seiner wagemutigen Balkonkonstruktion herumspazieren, oder mit ihren geliehenen Fahrrädern in großen Gruppen anhalten, um es tausendfach zu fotografieren, so bescheren sie der Familie Kalin doch ein kleines Zusatz-Einkommen. Denn durch das stetig gewachsene Interesse an dem Baumhaus berichten landesübergreifend Medien über dessen Geschichte.
Die Interviews mit der Familie sind inzwischen kostenpflichtig, und an den Tagen der offenen Tür wird Eintritt verlangt.
Recht so.
An der ehemaligen Datscha selbst, hängt seit einiger Zeit ein Schild mit der Aufschrift “Baumhaus an der Mauer”.
Eine Handy-Nummer ist beigefügt und links und rechts des Schildes weht je eine Fahne: die türkische und die deutsche.