Äther

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Ich liege im dunklen Zimmer. Dann und wann streift das Licht eines vorbeifahrenden Autos die Wand, unter meiner Bettdecke der grünliche Schein des kleinen Transistorradios. Eine sanfte Frauenstimme spricht leise in die Nacht hinein.

Es gibt eine Welt, die außerhalb der meinen existiert. Etwas Unbekanntes, geheimnisvoll und zugleich vertraut, wie der dunkle Tannenwald neben der einsamen Landstraße mit dem silbernen Mond darüber.

Die Frauenstimme verebbt und in die knisternde Stille erheben sich die ersten Töne einer betörenden Melodie. Langgezogen und warm steigen sie in die Dunkelheit empor und wie betäubt schließe ich die Augen. Von weit her gesellt sich jetzt die Stimme eines Mannes zu dem milchigen Nebel in meinem Kopf und verbindet sich mit den schwebenden Orgelklängen und dem schleppenden Schlagzeug zu etwas Großem. Auf wundersame Weise werde ich Teil dieser anderen Welt und sinke auf dem Rücken liegend in sie hinein. Die Musik trägt mich und ein starkes Glücksgefühl durchströmt meinen ganzen Körper.
Ich bin verbunden mit allen Menschen, die irgendwo ganz allein in der Nacht den gleichen Klängen lauschen.
Fühlen sie wie ich?

 

Angeregt durch die liebe Asal, die in ihrem Blog  ein paar Lieder vorgestellt hat, die zu bestimmten Zeiten ihres Lebens von Bedeutung für sie waren, habe auch ich über meine Beziehung zu und meine Erfahrung mit Musik nachgedacht und dabei diese Erinnerung aus meiner frühen Kindheit hervorgeholt.

 

 

 

Photo: Wikimedia, Transistorradio

Von Muskeln und Musik

English: Bodybuilder

Irgendwo dudelt ein Radio tausendfach gehörte Oldies hoch und runter.
Ich erkenne die Melodie von I want muscles.
Als ich das Lied vor vielen Jahren zum ersten Mal hörte mochte ich es nicht, und das dazu gehörige Video, in dem sich Diana Ross mit einer Gruppe spärlich bekleideter Bodybuilder auf einem Bett räkelt, war mir erst recht zuwider.
Damals neigte ich noch dazu, mich in spindeldürre, schlaksige Jungalkoholiker mit schlechter Körperhaltung und ungewaschenen Achseln zu verlieben und Punkrock zu hören.
(Schwer vorstellbar: ein nach Seife duftender Punkrocker mit ausgeprägter Skelettmuskulatur ).
Bei den meisten setzte das Bier noch nicht an, nur bei einigen wenigen zeigte sich in der altersuntypischen Aufgedunsenheit bereits das schwache Bindegewebe, und man ahnte, wie dieser Verfall sich über die Jahre fortsetzen und schließlich unumkehrbar manifestieren würde.
Der Lauf der Dinge.
Mein Geschmack, was attraktive Körper anbelangte, entwickelte im Laufe der Zeit eine größere Diversität. Inzwischen durfte einer sich auch gerne ein wenig pflegen und leichte Ansätze von Muskulatur aufweisen. Später im Leben freundete ich mich sogar mit von Arbeit gestählten Körpern an und entwickelte in der Folge reizvolle Landarbeiterphantasien.
Interessanterweise erweiterte sich mit der Öffnung der ästhetischen Grenzen auch mein Musikspektrum. Von Punk und Rock´n´Roll zu Ska, Funk, Blues und Hip Hop usw.
Zur Not hörte ich auch mal klassische Musik, und wurde mit dieser zunehmend toleranter gegenüber Wohlstandswampen und Genießerkörpern.
Heute ertappe ich mich tatsächlich beim Fußwippen, als ich Diana Ross höre.
Bis zum Muskelmannfaible scheint es nicht mehr weit.

Musik zum Text: Diana Ross, Upside down

Life is life

requiem:
(Photo credit: Giovanni Giorgini)

All art constantly aspires towards the condition of music

 

Eines Tages erklärte mir mein Vater, dass die Anzahl der möglichen, komponierbaren Melodien endlich sei.
Fortan machte ich mir große Sorgen, dass ich diesen Punkt, an dem alle Melodien der Welt aufgeschrieben und vertont waren, würde miterleben müssen. Danach würden Wiederholungen mein Leben arm und eintönig machen.
Ich nahm mir vor, nicht zu verschwenderisch mit den Melodien umzugehen, nicht zuviele auf einmal zu hören und damit gleichermaßen zu verbrauchen, so dass der Vorrat, selbst wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, ausreichen würde.

*

Wir gehen mit den Hunden spazieren. Ich summe vor mich hin..
Das gibt’s doch nicht,“ sagt U. „den gleichen Ohrwurm habe ich auch.“
Kann ich mir kaum vorstellen, ich summe gerade das Brahms-Requiem.“
„Eben, genau das hab ich auch seit ein paar Tagen im Ohr.“
Zusammen flanieren wir durch den Tiergarten und singen :“Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“.
Es ist Sommer.

*
Auf einem Zettel, den meine Schwester unlängst in Frankfurt hängen sah, stand Folgendes:

Ich schenk Dir einen Ohrwurm

Darunter war das Blatt durch vertikale Schnitte zum Abreissen kleiner Schnipsel vorbereitet, und mit
Life is life
beschriftet.
Noch während unseres Telefonates habe ich den LaLa-LaLaLa-Loop bereits im Kopf, und werde ihn für de nächsten beiden Tage beinahe unaufhörlich singen.
Danke schön.

High Noon. Das langsame Sterben.

Seit Tagen habe ich eine Melodie im Ohr, die mich traurig stimmt.
Durch Zufall schaltete ich, auf der Suche nach Schlaf, in einen Schwarz-Weiß-Film hinein.
Obwohl ich Western nicht mag, nahm mich gleich die erste Einstellung, ein rauchender Cowboy, der in die Ferne blickt, und dazu der relaxte Sound des Titelsongs mit der angenehmen Männerstimme gefangen und spülte eine vage Erinnerung, ein beklemmendes Gefühl des Verlustes und der Trauer in mir hoch, das ich mir nicht erklären konnte.
Der Schmerz war so grundlegend, so fundamental und kam von ganz weit unten, von früher, aus einer Zeit, in der ich gerade erst in diese Welt geworfen  worden war, und mit gebundenen Händen versuchte zu schwimmen. Ein wildes Rudern und Strampeln, das nur das eine Ziel hatte: nach oben zu kommen um nicht zu ertrinken.
Und wie das Lied sich weiter entwickelt und zu dem Cowboy sich noch ein Zweiter und Dritter gesellen, so gesellt sich zu der tiefwurzelnden Trauer auch das Gefühl einer ungestillten Sehnsucht und eines schüchternen, kindlichen Glücks.
Die Bilder des Filmes mischen sich mit dem Bild einer schönen, dunkelhaarigen Frau, mit feinen Gesichtszügen und langen Beinen, die mit schwarzer Spitzen-Unterwäsche auf einem grüngestreiften Biedermeier-Sofa liegt und liest. Eine Zigarette in der rechten Hand, schwarze Pumps an den Füßen.
Sie, die Musik meist nicht ertragen konnte, sie als störend und unordentlich empfand, liebte diesen Film und dessen Titelsong. Seine Ausstrahlung im Fernsehen garantierte einen harmonischen Abend für die ganze Familie. Mit ihrer Stimmung stand und fiel alles.
Wie sie lächelte wenn Tex Ritter in den wenigen Strophen die ganze Filmhandlung vorweg nahm. Beim Refrain sang sie mit, und schien dabei so sehnsüchtig und zugleich hoffnungsvoll.
Ich liebte es, wenn sie so gut gelaunt war und zuversichtlich nach vorne blickte. Es machte mich selbst glücklich und euphorisch und gab mir das Gefühl, dass das Leben schön war und dass es immer besser werden würde und, dass sich alles irgendwie einrenken würde und das Glück dann dauerhaft auf unserer Seite wäre.
Aber das Glück war nicht beständig. Es war so flüchtig wie die Töne, die es herauf beschworen hatten, und bald schon fiel es in sich zusammen und der Himmel war wieder verhangen und grau wie zuvor. Oft auch schwarz, und von grollendem Donnern erfüllt.

Ich hatte eine Murmel in deren Inneren weiße, hell- und dunkelblaue Glasstränge ineinander verschlungen waren. Manchmal, wenn ich mich haltlos und einsam fühlte, hielt ich mir meine Murmel vor das linke Auge und dachte über das Leben und den Tod nach.
Wie war das gewesen, ehe ich geboren war? Wo war ich da? War die Zeit vor dem Leben auch der Tod und war der Tod hell oder dunkel?
Ich schloss die Augen und schaute ins Licht. So war der Tod. Hell wie die milchigen Stränge meiner Murmel. Das tröstete mich. Dann war es nicht schlimm zu sterben.

Eines Tages fand ich die Murmel nicht mehr. Sie hatte sie weg geworfen.

Inzwischen ist es über zwanzig Jahre her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe.
Damals hatte sie ihre Koffer gepackt, die Konten abgeräumt und meinen Vater, kurz nach seinem schweren Infarkt, verlassen.
Es war im April, an Hitlers Geburtstag, als sie mir Hausverbot erteilte. Bald darauf war sie selbst auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Jetzt lebt sie in einem Heim. Sie ist früh an Alzheimer erkrankt und weiß nicht mehr wer wir sind.
Als sie merkte, dass  Erinnerung und Orientierung ihr Stück für Stück verloren gingen, hat sie sich selbst an diesen Ort begeben, bei vollem Verstand, um dort auf das Nachlassen desselben und das tiefe Vergessen zu warten.
Mit letzter Tinte hat sie ein Besuchsverbot für uns verfügt.
Beim Hören dieses Liedes denke ich an sie, und all die Erinnerungen und Hoffnungen, die sie mit in das Grab ihres erlöschenden Geistes genommen hat, und es macht mich sehr traurig.

 

 

Musik zum Text: High Noon Trailer

Do not forsake me, oh my darlin‘
On this, our weddin‘ day
Do not forsake me, oh my darlin‘
Wait, wait along

I do not know what fate awaits me
I only know I must be brave

And I must face a man who hates me
Or lie a coward, a craven coward
Or lie a coward in my grave

Oh, to be torn ‚tweenst love and duty
S’posin‘ I lose my fair-haired beauty
Look at that big hand move along
Nearin‘ high noon

He made a vow while in state prison
Vowed it would be my life or his’n
I’m not afraid of death but oh
What shall I do if you leave me?

Do not forsake me, oh my darlin‘
You made that promise as a bride
Do not forsake me, oh my darlin‘
Although you’re grievin‘, don’t think of leavin‘
Now that I need you by my side

Wait along,wait along, wait along
Wait along, wait along
Wait along ,wait along, wait along, wait along

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Regen (3)

Keiner mag es mehr sehen,

Fanta droplet

Fanta droplet (Photo credit: s_evenseth)

niemand möchte mehr etwas davon hören, und doch regnet es einfach immer weiter, und das stete Prasseln lullt mich ein, macht mich schwach und antriebslos. Die Heizung läuft, wir trinken Tee. Die Katzen liegen zusammen gerollt in ihren Mulden. Wärmflasche auf dem Schoß. Buchstaben essen. Wir spielen grünen Winter. Als Untermalung dieses mal Fanta 4.

Hölle, Hölle, Hölle

 

Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel über Berlin, und es ist schneidend kalt.
Als ich über die Schillingbrücke Richtung Kreuzberg stapfe, pfeift mir der Nordwind in den Nacken. 
Ich friere bis auf die Knochen.
In der Ferne erhebt sich die Engelskirche, in deren Schatten sich das Baumhaus an der Mauer des Efendi Kalin duckt. Wenige Meter vor mir fliegen fünf Schwäne, mit riesigen Schwingen, knapp über die Brücke und die sich stauenden Autos hinweg. Unter ihnen auch ein graugefiedertes Jungtier.
 Vor der Silhouette des Roten Rathauses, landen sie auf der Spree und ziehen mit anmutig gebogenen Hälsen weiter Richtung Westen.
 Ein paar Enten und Möwen sitzen auf den Eisschollen und lassen sich flussabwärts treiben. Dazwischen bahnt sich ein klagendes Blässhuhn mit rostiger Stimme den Weg durch das kalte Nass. 
Wie eine Taube nickt es, von einem inneren Takt angetrieben, unentwegt mit dem Kopf, taucht für einige Sekunden unter, und kommt an unerwarteter Stelle wieder an die Oberfläche.
Erstaunlich, dass Schwäne trotz ihrer Leibesfülle so gut fliegen können, denke ich.
 So, wie die Spieler der Berliner Eisbären, die sich dickgepolstert, mit schrankbreiten Schultern und wattierten Schienbeinen überraschend behende übers Eis bewegen. Töle starrt durch die Metallstreben des Brückengeländers auf die Spree. 
Ihr Winterfell ist zottlig-grau.
Die Jukebox in meinem Kopf springt an. Ein Oldie reiht sich an den anderen:

„Ich möchte ein Eisbär sein, im kalten Polar…“
„You´re as cold as ice…“
„Ice, ice, baby“

und sogar
„Ein Lied kann eine Brücke sein“.

Aus welchem verstaubten Winkel meines Gehirns diese Töne wohl an die Oberfläche gefunden haben?
 Die Patina der Jahre hat sie ein wenig vergoldet, aber schon nach ein paar Takten bröckelt sie und mir reicht´s.

„Wo man singt, da lass dich nieder, denn böse Menschen haben keine Lieder“

Schwachsinn.

Es waren die übelsten Petzen und Streber, die sich im Musik-Unterricht besonders hervortaten indem sie auf exhibitionistische Weise, ihre glockenhelle Stimme zur Schau stellten.
 Mit betulich aufgerissenen Mündern und eifrigem Gesichtsausdruck, sangen sie auch im Kirchenchor, der mir schon deswegen wie eine Idioten-Liga vorkam. Die sakrale Musik bewegte sie so sehr, dass sie mit festgenagelten Füßen auf einer unsichtbaren Vertikalachse hin- und herpendelten, wie ein Metronom.
Ich erinnere mich an den Besuch bei der Passauer Maidult vor vielen Jahren. Erwachsene Menschen sitzen untergehakt auf Bänken, Bierhymnen johlend, bei denen sich Mädel auf Knödel, Durst auf Wurst und Stock auf Bock oder Rock reimt.
Lederhosen, Dirndl, Gamsbart, Musi, Maß und Brez´n.
Da wird gewippt, geschunkelt, gepoltert, geschuhplattelt, vor Freude gewiehert und gejuchzt.
Wie beim Karneval: verkleidete Narren, die betrunken auf langen Holzbänken sitzen, nach jedem Tusch hysterisch auflachen, und losgrölen, sobald der erste Takt von „Viva Colonia“ gespielt wird.
Rhythmisches Klatschen.

Gell du hast misch gelle gern, gelle isch dich aach, 
gelle wann isch lache tu, gell dann lachst du aach

In Würzburg hatte ich einen Mitstudenten, der als Burschenschafter mietfrei in einer schönen alten Villa lebte, die der Verbindung gehörte. Finanziert von den Alten Herren, ehemaligen „Burschen“.
 Meinem Kommilitonen verhalf sein Corps zu einem unbeschwerten Studium, mit reichlich Zeit für´s Saufen und Burschenlieder schmettern.

Verkleiden, trinken, lärmen.

Jetzt bin ich im Fußballstadion. Das rhythmische Springen des ganzen Blocks bringt die Tribüne gefährlich ins Schwanken, bengalisches Feuer lodert und qualmt. La-Ola-Welle.

Du hast die Haare schön
So sehen Sieger aus!

Die Bilder verschwimmen. Vor meinem inneren Auge sehe ich ein Wolfgang-Petry-Fantreffen. Alle sind, wie ihr Idol, in den achtziger Jahren hängengeblieben: mit dicker Lockenmatte auf dem Kopf, kariertem Hemd, Schnauzer im Gesicht, Bluejeans und unzähligen ausgefransten Freundschaftsbändchen an den Handgelenken.
Du bist der Wahnsinn. Ich geh mit dir durch die Hölle
singen sie im Chor. Bier kühlt die durstigen Männerkehlen und der Trupp zieht tanzend durch die Straßen. Aus den Häusern kommen immer mehr Petry-Klone, die sich dem Zug anschließen, der sich schnell zu einem Strom verdichtet. Manche von ihnen haben eine Akustik-Gitarre dabei, auf der sie das Heer der Klone musikalisch begleiten. Seit Jahren haben sie auf diesen Tag gefiebert und jeder Akkord sitzt.
Wir überqueren die Köpenicker Straße.
Hier ist Kreuzberg, hier bin ich sicher vor dem Mob, der am mit zum Himmel gestreckten Armen „Hölle, Hölle, Hölle!“ skandiert und weiter Richtung Westen marschiert.
Als ich am Kreuzdorf abbiege, kommt uns Leggit, ein betagter Doggen-Mischlingsrüde entgegen.
 Seit Jahren patrouilliert er rund um die Wagenburg. Die Hunde begrüßen sich freundlich. Am nächsten Baum hebt Leggit das Bein. Töle trabt ihm hinterher und schnuppert an der feuchten Rinde.
Aus einem 6-Tonner-Mercedes-Wohnmobil vor dem Georg-von-Rauch-Haus dringt lautes Geschrammel. Death before dishonour von The Exploited.
 Neben dem verrosteten Wagen stehen drei Punks mit ihren Hunden.
 Sie tragen schwarze Lederjacken, enge Hosen und 10-Loch Doc Martens. Mit einem Sternburger in der Hand, bewegen sie die Köpfe ruckartig zum schnellen Takt der Musik.
 Der eisige Wind trägt den Klang eines Martinshorn zu uns herüber. Von der Adalbertstraße biegt ein Krankenwagen mit Blaulicht auf den Bethaniendamm.
 Auf unserer Höhe schaltet er erneut die Sirene an.
Die Hunde der Punks heben ihre Köpfe und fangen an zu heulen.