Radar

  • 27775741770_c08d867045_z
    Einer der Vorzüge, in einem Haus voll kranker Seelen aufgewachsen zu sein, ist der zuverlässige Radar, der sich durch die dauerhafte Wahnsinnsexposition entwickelt hat. Dieser präzise Ortungssinn befähigt mich zum Beispiel, die Stimmung eines Menschen schon dann genauestens zu erfassen, wenn er mit dem Rücken zu mir steht oder sitzt. Körperspannung, Körperhaltung, Bewegungsabläufe, Position im Raum, Atemfrequenz – all das spricht zu mir. Laut. Ich weiß, wenn jemand etwas im Schilde führt, lange ehe er es selbst auch nur ahnt. Ich erfasse intuitiv die kleinsten Zeichen, die sich mehr und mehr bündelnde Konzentration bei den unbewussten und doch zielgenauen Vorbereitungen, die leichte Unruhe, die unabhängig davon, ob Angst, Sorge, Wut oder Vorfreude der Motor ist, die Person in ein inneres Vibrieren versetzt, dessen Intensität und Klang mir jederzeit verrät wie weit der Prozess bereits vorangeschritten ist.

    Ich höre worüber geschwiegen wird und ich kann zwischen Wörtern unterscheiden, die etwas verdecken oder jenen, die etwas offenlegen sollen.

    Das sicherste Anzeichen eines bevorstehenden emotionalen Rückzuges oder eines nahenden Beziehungsabbruchs beispielsweise sind uneingeforderte Bekenntnisse und Beteuerungen, wortreiche Erklärungen, eine sich stumm entschuldigende, anfallsartige Schenkerei, überbetonter Optimismus, aufwändige Kittversuche, wo längst nicht mehr zu retten und das Kind bereits im Brunnen ersoffen ist.

    Bergen impossible.

    Überhaupt Schuldgefühle. Engste Vertraute seit frühester Kindheit.

    Eine Besonderheit unseres tiefprotestantischen Haushaltes war es nämlich, dass die Schuld und das schlechte Gewissen mit uns bei Tische saßen und mit brühendheißer Brotsuppe genährt wurden. Schon die Väter und Vätersväter hatten sie sich auf ihre gläubigen Schultern geladen, weil sie sich nur im Schmerz und in ihrer selbstunterstellten Schlechtigkeit fühlen und durch Buße zur Erleichterung kommen konnten, ein Zustand für dessen Erlangung wir Ungläubigen und Verlorenen später das Ritzen oder Erbrechen nutzten (Behauptungen, alles Mutmaßungen und Behauptungen). Die Schuld stand am Morgen mit uns auf und ging am Abend mit uns zu Bett. In den Nächten hockte sie sich bleischwer auf meinen Brustkorb und raubte mir für Jahrzehnte den Atem.

    Vor einiger Zeit versprach mir ein in der Ferne lebender Freund er werde mir ein Buch als Audiodatei einsprechen, eines, das ich mir selbst aussuchen dürfe und dann werde er mir dieses portionsweise zusenden. Da wusste ich was die Stunde geschlagen hatte und wählte ein Buch, dessen erste Kapitel alsbald eintrafen, doch ich begann erst gar nicht damit, mir die nach und nach gelieferten Fragmente anzuhören, wusste ich doch, dass mir das letzte Kapitel niemals zu Ohren kommen würde, weil die letzte Seite in unserer gemeinsamen Geschichte begonnen hatte und der Schlusspunkt bereits gesetzt war.
    Vorhersehbar war der Abschied und mit einer beinahe klamaukig anmutenden Dramaturgie wurde er schließlich zur Aufführung gebracht. Wenn ich schon nicht die gewünschten Gefühle zeigte, so sollte ich mich wenigstens ärgern, warten sollte ich, voller Ungeduld. Vielleicht sogar enttäuscht sein, doch genau das war ich am Allerwenigsten.

    Ich wäre nicht die Klassenbeste in der Irrenschule gewesen, wenn ich seine Strategie nicht von Anfang an durchschaut und nach bestem Wissen und Gewissen mitgespielt hätte.

     

     

    Times are hard, what else is new?

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Bild: Liszt Chang, flickr
    Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/

Ochsenhunger

11137782163_20f09cd25a_z

Dem Mann am Telefon erzählte ich ich trüge einen schwarzen, hautengen Catsuit mit durchgehendem Reißverschluss und einer schmalen Kette um die Hüften, ich konnte hören, wie seine Knöchel weiss wurden, als er die Hand zur Faust ballte, also erzählte ich weiter. In der Hocke säße ich, die Kniee weit auseinander und zöge ganz langsam den Zipper herunter. Dann legte ich auf.
Ein paar Wochen später erreichte mich ein Paket mit allerlei Gaben. Darunter eine New York Times, die ich von vorne bis hinten durchlas, doch ich fand keinen Hinweis. Er hatte es mir mit gleicher Münze heimgezahlt.

Ein anderer trug den Namen eines Waldtieres und nachdem ich ihm von meinen schweren Botten, dem Tanktop und dem Minischottenrrock erzählt hatte, schickte er mir ein feines silbernes Kettchen mit Kügelchen daran. Er schrieb es täte ihm Leid, er besuche regelmäßig Swingerclubs, seine Frau wisse nichts davon, und auch mich wolle er nicht belasten mit diesem Geheimnis.

Der Dritte und Letzte rief mich von einem Parkplatz aus an, wo er mit Unbekannten verabredet war. Flüsternd erzählte er mir was dort in der Dunkelheit vor sich ging. Dann legte er auf.

Von ihm habe ich nie wieder gehört. Doch ich erinnere mich noch an seinen Namen: Marek.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: Vizero, Vollmondparken, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

Attrappe

440px-Dummy_of_a_police_car
Ein Mann, mit dem ich in meiner Jugend in mancher Nacht das Lager teilte, und der sehr viel älter war als ich, schenkte mir eines Tages die Memoiren von Katharina der Großen. Der Namensverwandtschaft wegen. Als Widmung schrieb er mir, mit einer klaren, schnörkellosen, dabei aber doch eitlen und einstudierten Handschrift, die gut zu seinem möchtegern-existentialistischen Auftreten im immerschwarzen Rollkragenpullover, mit Dreitagebart und lackschwarzem, wildem Haar passte, folgendes hinein, und traf dabei genau mein Lebensgefühl zu jener Zeit:

„Warum nur sind wir in allem so begrenzt, außer in der Fähigkeit zu leiden?“

So war das damals. Alles tat ständig weh, und immer gleich uferlos und nicht enden wollend.
Liebe zerstörte, Trennung zerstörte, Familie zerstörte und Schule quälte.
Selbst das Glück schmerzte, weil die Vorahnung seiner Endlichkeit nagte und jedes Vertrauen schon im Keim erstickte.
Alles ging vorbei, worauf und worüber sollte ich mich da freuen. Der Zauber des Anfangs wurde übertönt vom Lärmen seines bevorstehenden Endes.
Gegen die Schule, die Familie, die Liebe und den Kummer halfen nur Drogen und Sucht.
Das Extrem. Der Turbo in Allem. Exzess, Ausschweifung. Alarm.
Wollust, Völlerei, Überfluss. Maßlosigkeit. Viel von allem und von allem zuviel.

Aber war es nur das?
Hielt mich dieses ständige Leiden, das mich schon als Kind dazu brachte solange an meinen Zähnen herum zu reissen, bis ich sie endlich ziehen konnte,
das mich dazu verführte die Fingerspitzen an die rotierende Scheibe der elektrischen Brotschneidemaschine zu halten, bis die erste Hautschicht durchschnitten und feine Bluttropfen aus der brennenden Wunde hervortraten,
das mich so tief und lange am herumgereichten Joint saugen ließ, bis eine Atemlähmung eintrat, und ich nur durch feste Schläge auf den Rücken wieder nach Luft japsen konnte,
das mich mit LSD und Pilzen experimentieren ließ, bis die Wahnzusände mich überall hin verfolgten,
das mich Männern in die Arme trieb, die mir nicht gut taten,
das mich Aids nicht als Bedrohung sondern als Herausforderung verstehen ließ,
das dafür sorgte, dass ich Unmengen an Essen in mich hineinstopfte, bis mein Körper es wieder von sich gab,
das mich aber auch hungern ließ, bis ich vor Kraftlosigkeit beinahe zusammenbrach,
hielt mich eben dieses zerstörerische Leiden, das so offensichtlich danach strebte sich selbst zu perpetuieren, hielt mich genau das nicht auch am Leben und brachte mich mir näher?
Hätte ich mich denn überhaupt anders fühlen können als im Fressen, Kotzen, Hungern, Kiffen, Vögeln und Saufen? Als im Schmerz, der mir zeigte, dass ich lebte, und warmes Blut durch meine Adern floß und aus meinen Wunden perlte.
Der volle Magen, die Lungenschmerzen, sich kaum noch rühren können nach tagelangen Orgien, betrunken sein, bis nur noch Erbrechen half.
Ritzen, Beissen, Selbstverletzung. Gefahr.
Und hielt das Leiden mich nicht gleichzeitig ab von einem Leben, das in der Zukunft beginnen und mir endlich das grenzenlose Glück bringen würde, nach dem ich mich sehnte?
Was ich damals nicht wusste: es war alles da. Inmitten des stinkenden Unrates war der Tisch gedeckt.
Ich hätte dort Platz nehmen und der Musik lauschen, satt werden, lachen, mich freuen können.
Wenn ich es gekonnt hätte.
Aber der Schmerz war zu groß. Kein Blatt zwischen mir und der Welt. Alles war scharf, spitz und kantig. Und tat weh.

 

Meine Schuld, meine große Schuld

Tabletten

Tabletten (Photo credit: Alina_Edinburgh)

Seit zwei Tagen schon befindet sie sich in diesem Zustand.
Auslöser war ein Wortwechsel mit meinem Bruder, in dessen Verlauf er sie für das, aus einer Laune heraus verhängte, Besuchsverbot eines Freundes kritisiert hatte.
Mit einem ironischen Mea culpa, mea maxima culpa hatte sie die Diskussion erstickt.
Bald darauf schlug ihre Stimmung um. Von offener Härte zu weinerlichem Selbstmitleid.

Erlkönig hat mir ein Leids getan

Seitdem hängt sie auf einer gefährlichen Mischung aus Alkohol, Valium und Schlaftabletten fest.
Mit schwarz geschminkten Augen, bekleidet mit einem transparenten Negligé, sitzt sie rauchend und trinkend vor dem Fernseher. Ihr Blick ist matt, die Mimik entgleist, ihre Bewegungen verlangsamt.
Keiner von uns wagt es mit ihr zu sprechen. Sie ist ein Pulverfass. Jedes Wort kann zur Eskalation führen.
Wir wissen, dass etwas geschehen wird, wir wissen, dass es schlimm sein wird, aber wir wissen nicht wann es sein und wen es treffen wird.

Vor einer Stunde ist sie endlich von der Couch aufgestanden und ins Bad gegangen, um sich für die Geburtstagsfeier einer Freundin fertig zu machen, die im Haus gegenüber wohnt.
Es ist der 1. Mai. Die Sonne scheint, draußen ist es sommerlich warm.
Sie hat ein knielanges, schwarzes Kleid mit tiefem Ausschnitt aus dem Schrank geholt, dazu schwarz-weiße Pumps mit Bleistiftabsatz.
Mein Vater, Benny und ich werden gleich zu einem Familientreffen in die Pfalz aufbrechen.
Die beiden warten unten beim Auto auf mich.
Ich suche ein Haargummi und finde keines.
Unentschlossen stehe ich vor dem Bad. Ich habe nicht den Mut zu klopfen.
Was, wenn genau das das Fass zum Überlaufen bringt? Sie hasst es, wenn sie gestört wird.
Andererseits möchte ich nicht mit offenen Haaren los. Immerhin werden wir den ganzen Tag unterwegs sein.
Eine Weile stehe ich vor der angelehnten Tür, lege mir die Worte zurecht und probe innerlich den richtigen Tonfall.
Möglichst unbekümmert und selbstverständlich soll er klingen.
Einmal durchatmen.
Ich bin soweit.
Mama?“ sage ich und klopfe leise an.
Keine Antwort.
Mama, ich muss mal kurz reinkommen, bitte. Hab was vergessen, geht ganz schnell.“
Von drinnen höre ich ein leises Surren, sonst bleibt es still. Sie ist so stur.
Papa wartet unten, ich muss mich beeilen.“
Als sie noch immer nicht antwortet, drücke ich vorsichtig gegen die Türe und sehe ihre Schuhe, die ordentlich nebeneinander stehen.
Wie klein sie sind, denke ich und erfasse erst den Bruchteil einer Sekunde später die ganze Situation.
Meine Mutter liegt leblos in der Badewanne, ihr Frisierstab zuckt im Wasser, auf dem Boden liegen zahllose leere Tablettenblister.
Sie ist tot!
Ich renne aus dem Bad, aus der Wohnung die Treppe hinunter, durch den Hof zur Straße, wo das Auto steht.
Papa, komm schnell! Mama ist tot!“ rufe ich und sehe meinen Vater, wie er auf mich zu und an mir vorbei ins Haus läuft, mit riesigen Schritten die Treppe hinauf stürzt, mein Bruder und ich ihm dicht auf den Fersen.
Iris!“ ruft er und seine Stimme überschlägt sich vor Angst.
Drei Sekunden nach ihm betrete ich das Badezimmer und sehe, wie er mit ausgestrecktem Arm ins Wasser und nach dem vibrierenden Frisierstab greift.
Papa!“
Der Augenblick in dem ich das Wort Vollwaise denke, ist der gleiche in dem ich erleichtert aufatme, weil mein Vater seine Hand mit dem Gerät unbeschadet heraus zieht.
Dann legt er seine Finger an ihren Hals und tastet nach dem Puls.
Notarzt!“ ruft er und läuft in den Flur zum Telefon.
Ich bleibe mit Benny im Bad und schaue sie an. Sie ist wachsweiss im Gesicht, die Lippen farblos. Ihre dunklen Haare schwimmen wie Algen im Wasser. Die Augenbrauen wirken aufgemalt, die Wimperntusche ist bis weit unter die Augen verlaufen.
Sie trägt noch immer ihr Negligé. Ihre großen Brüste liegen darunter wie zwei plattgedrückte Krapfen, in der Mitte die dunklen Brustwarzen.
Wieder fällt mein Blick auf ihre kleinen Schuhe. Das schwarz-weisse Design erinnert mich an ein Bajazzo-Kostüm.
Draußen im Flur die Stimme meines Vaters.
Ja, hier X. Genau. Ja. Bitte schicken Sie einen Rettungswagen. Selbstmordversuch. Meine Frau. Ja. Danke.“
Kurz darauf höre ich das Martinshorn. Mein Vater läuft den Sanitätern entgegen.
Nachdem sie Atmung und Puls überprüft haben, sammeln die Helfer sämtliche Blister ein und bringen meine Mutter auf einer Trage nach draußen.
Ich bleibe im Haus.
Von oben sehe ich, wie sie sie in den Wagen schaffen und die Türen hinter ihr schließen.
Sie haben sie nicht einmal zugedeckt.
Dann fahren sie mit Blaulicht davon.
Im Garten gegenüber stehen die Partygäste am gusseisernen Zaun. Einer schaut zu mir herauf.
Ich trete vom Fenster zurück.
Ich kann nicht weinen.
Der Abschiedsbrief, den ich wenig später finde, gibt mir den Rest.Enhanced by Zemanta

In einem Zug

English: High quality photograph of Lucky Stri...

English: High quality photograph of Lucky Strike Red Original box for the UK and A Cigarette (Photo credit: Wikipedia)

Es ist sechs Uhr Abends, der Horizont färbt sich pastellgelb ein. Der Erdkugel-stemmende Atlas auf dem Eingangsportal des Bahnhofes blickt in den tiefblauen Spätsommerhimmel. Ende September. Wir stehen vor dem Frankfurter Hauptbahnhof und ich zünde eine Lucky Strike an, die ich mit schnellen Zügen heiß rauche. Als ich fertig bin, zünde ich sogleich eine Zweite an, die ich ebenso gierig und hastig herunter qualme. Vor mir liegen ein paar rauchfreie Stunden. Gleich geht der Sprinter von Gleis 8 nach Berlin. Wir haben kaum Gepäck dabei, so dass der Weg dorthin in drei Minuten zu schaffen ist. Die Freundin drängelt. Sie wird langsam nervös.
Um 10 nach sechs betreten wir die Haupthalle. Noch exakt drei Minuten bis zur Abfahrt.
Wir sehen den weißen Zug auf dem Gleis stehen und müssen rennen um ihn noch zu erreichen. Immer das Gleiche.
Geschafft!
Die Platzreservierung war weitsichtig, der Zug ist ausgebucht.
Kaum sitzen wir auf unseren Plätzen, werde ich nervös. Dreieinhalb Stunden Fahrt ohne Unterbrechung liegen vor uns. In der Eile konnten wir nichts mehr zu lesen besorgen und als Lektüre liegt nur das Deutsche-Bahn-Magazin Unterwegs aus. Stinklangweilige Eigenwerbung. Sobald der Zug los gefahren ist, werde ich im Bistro-Wagen eine Zeitung kaufen. Ich schaue auf mein Handy. Es ist jetzt zwanzig nach 6. Eine Verspätung des Sprinters am Startbahnhof ist ungewöhnlich. Als ich mich gerade frage, was los ist, spricht der Zugführer aus den Bordlautsprechern und entschuldigt sich für den Missstand. Ein Teil des Zugpersonals sei noch mit einem anderen Zug unterwegs und die Reise könne beginnen, sobald diese hier in Frankfurt angekommen seien.
Prima, denke ich, dann kann ich ja noch einmal raus gehen und eine Zigarette rauchen.
Ich mache mich auf den Weg zum Abteil des Zugführers, um ihn zu fragen, wann denn mit der Ankunft seiner Leute zu rechnen sei. Er bleibt vage, rät mir aber dringend ab noch einmal auszusteigen, um am Ende des Gleises, innerhalb der Markierung zu rauchen. Es ginge wirklich jeden Moment los,und die Fahrgäste sollten bitte auf ihren Plätzen bleiben, um eine weitere Verspätung zu vermeiden. Sein Ton ist bestimmt.
Ich habe ja gerade erst geraucht, versuche ich mich zu beruhigen und bewege mich wieder zurück zu meinem Platz, wo ich in der Unterwegs herumblättere.
Doch plötzlich, fast schlagartig, springt mich eine ungeheure Unruhe an, die mich selbst überrascht. Wir sind noch nicht einmal gestartet und ich bin schon hypernervös. Mein rechter Fuß zuckt und wackelt und ich spüre eine enorme innere Anspannung. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, wie ich sie von meiner letzten Rauchentwöhnung kenne, als ich Nachts im Bett die Füße zwischen die Knöpfe der Damastbettwäsche steckte und so anspannte, dass das alte Tuch zerriss. Ich würde jetzt am Liebsten das Bahn-Heftchen in der Mitte durchreissen, anschließend sämtliche Koffer und Taschen aus den Gepäckablagen zerren, in den Mittelgang pfeffern, und die Samsonites der edel gewandeten Reisenden, auf den Boden krachen lassen.
Meine Freundin merkt an der Art, wie ich die Seiten umblättere, dass ich geladen bin. Und ich merke an der Art, wie sie unbeteiligt weg schaut, dass sie auf Deeskalation setzt.
Also sage ich es ihr: „Ich bin total geladen. Wenn der Zug nicht bald losfährt, steige ich aus und rauche noch eine.“
„Aber du hattest doch gerade zwei.“

„Gerade? Das ist fast eine halbe Stunde her und ich muss ja jetzt noch stundenlang ohne auskommen und wenn das hier nicht bald los geht noch länger.“
„Hast du keine Nikotinpflaster dabei?“

„Doch, aber ich kann doch nicht jetzt schon…du hast Recht.“ Ich krame in meiner Tasche herum und hole zwei Pflaster heraus.
„Gleich zwei?“
„Logisch. Viel hilft viel, weisst ja.“
Ich klebe mir beide Pflaster auf den Bauch und lehne mich zurück. Der Zug steht immer noch. Ich bin kurz davor durch zu drehen. Nach meiner Erfahrung dauert es mindestens eine dreiviertel Stunde bis das Zeug wirkt und selbst dann ist es nicht einfach. Ich nehme die Speisekarte vom Haken und schaue auf das Angebot an Weinen. Da der Zug noch immer nicht rollt, ist auch das Servicepersonal nicht unterwegs. Vielleicht sind sie noch nicht einmal an Bord. Aus dem Bistrowagen besorge ich mir eine kleine Flasche Rotwein. Ein Viertel, wie der Süddeutsche sagt.
Kaum habe ich das erste Gläschen eingeschenkt, geht es los. Ja!
Der ICE rollt aus dem schönen Bahnhofsgebäude heraus und ich genieße den Blick auf den Main und die sich entfernende Skyline. Mit einem Schluck leere ich das Glas, um eine schnelle Wirkung zu erzielen. Der Alkohol steigt mir fast augenblicklich in den Kopf, ich habe nicht viel gegessen. Außerdem verstärkt er, was ich mir hätte denken können, das Suchtgefühl. Ich halte es nicht mehr aus. Als ich meine Zigaretten raushole, wird die Freundin unruhig.
„Was hast du vor?“
„Ich zünde mir jetzt eine an.“
„Das kannst du nicht machen!“
„Doch, kann ich schon.“
„Bitte nicht!“
Ich bin in der Bredouille. Wäre ich alleine, würde ich mir jetzt auf jeden Fall eine anstecken, aber ich will K. nicht in Verlegenheit bringen und sehe ein, dass der voraus zu sehende Ärger auch sie betreffen würde.
„Dann gehe ich halt auf´s Klo und rauche dort.“
„Die haben überall Rauchmelder.“
„Na und, dann hält der Zug wenigstens an und ich komme hier raus. War eh eine blöde Idee den Sprinter zu nehmen, der nie stoppt. Ich halte das nicht aus.“
„Aber das Toilettenabteil ist doch auch der Wickelraum und es sind Babies im Zug!“
K. hat immer die besseren Argumente. Ich gebe auf.
Die Mitreisenden tun so, als wäre alles in Ordnung und geben vor weiter ihr Handelsblatt, die FAS oder die BAMS zu lesen, während ich schlechte Stimmung verbreite. Ich mache die Flasche leer. Der Rioja schmeckt ganz passabel, so dass ich mir gleich einen Zweiten hole. Inzwischen wirken die Pflaster, eine leichte Übelkeit und Herzrasen stellen sich ein. Endlich.
Auch die zweite Flasche habe ich innerhalb kurzer Zeit geleert, während K. neben mir nüchtern bleibt, und komme nun in eine merkwürdig hysterisch- euphorische Stimmung. Fast so, als würde das Schiff sinken und ich noch ganz allein einen ausgelassenen Donauwalzer auf´s Parkett legen, während ich, mich selbst umarmend, dem Untergang entgegen tanze.
Ich gerate in extreme Quassellaune und plappere ohne Punkt und Komma. Der Alkohol hat nicht nur eine zungenlösende, sondern auch eine beflügelnde Wirkung. Mein Kopf funktioniert so gut, wie selten. Ich erinnere mich an Bücher, Gedichte, Filme, Zitate, Werbung, Begebenheiten, Erlebnisse, springe von einem Thema zum nächsten, bin eine fulminante Unterhalterin und bestelle mir beim Kellner noch eine dritte Flasche Wein.
Jetzt geht es mir besser. Die Hände sind schweißnass, mein Herz puckert, die Gesichtshaut spannt von den Pflastern, aber die Verzweiflung ist trunkener Euphorie gewichen, die Wut dem Schalk.
K. hat sich eben ein Bier bestellt, das sie sehr schnell trinkt. Vielleicht möchte sie sich meinem Level ein wenig annähern, denn ich bin inzwischen schon ziemlich angetrunken. Während ich noch bei der dritten Flasche bin, trinkt sie ihr zweites Bier, und wir beide plaudern und lachen nun, als würden wir zusammen auf einem Hochbett sitzen und uns über Jungs und die Bravo unterhalten. Die Stimmung ist gut, wenn nur diese Übelkeit und die leichten Schweißausbrüche nicht wären. Die Pflaster sind überdosiert.
Gegen die aufkommende Mundtrockenheit nehme ich noch einen Schluck. Mir ist jetzt richtig schlecht. Egal. Besser noch einen Wein holen und die Übelkeit herunter spülen. Gesagt, getan.
K. fängt an sich Sorgen zu machen.
„Meinst du nicht, du solltest langsam aufhören zu trinken?“
„Auf gar keinen Fall“, entgegne ich fröhlich, „mir ist eh schon schlecht von den Pflastern.“
„Dann mach sie ab!“
„Wir sind noch eine Stunde unterwegs. Wenn ich sie jetzt abmache, wird der Jieper so groß, dass ich die Notbremse ziehen muss.“
Der Mann am Nebentisch unterbricht seine Lektüre und schaut zu mir herüber. Mit seinen Blicken misst er die Wahrscheinlichkeit, ob ich meine Worte in die Tat umsetzen könnte und wendet sich beruhigt wieder seiner BAMS zu.
Ich sehe nicht so aus. Er traut es mir nicht zu! Da kennt er mich aber schlecht. Der Zorn des Entzugs brodelt wieder in mir hoch und meine Stimmung droht zu kippen. Am liebsten würde ich dem gelackten Idioten jetzt eine scheuern und dann in den Speisewagen gehen um dort etwas Feines zu essen, bis der Zug am nächsten Bahnhof hält und ich der Polizei übergeben werde. Zufällig kommt der Kellner vorbei und ich bestelle mir noch eine Wein und dazu eine Snack.
„Das ist die vierte Flasche“, sagt K.
„Ja, ich weiß. Und es ist die letzte für heute.“
„Ein Liter!“
„Auf einem Bein kann man nicht stehen.“
Plötzlich schäme ich mich. Ich sitze betrunken im ICE von Frankfurt nach Berlin, durch meine Adern fließen Alkohol und Nikotin und ich benehme mich wie eine offene Hose und nicht wie eine erwachsene Frau mit Hochschulabschluss. Doch gleich raunt mir wieder der kleine Teufel ins Ohr. Scheissegal! Was geht dich das an, wenn die dressierten Affen hier sitzen und so tun als bestünde die Welt aus Zahlen. Sie besteht nun mal aus Fleisch und Lust. Und Wein!

Sehr geehrte Damen und Herren, in voraussichtlich zwanzig Minuten erreichen wir Berlin Hauptbahnhof. Unser Zug hat 6 Minuten Verspätung. Alle Anschlusszüge ab Hauptbahnhof werden erreicht.

Der Zugfahrer ist ein Gott! Er hat die Verspätung wieder eingefahren. Ich möchte nach vorne stürzen und ihn küssen. Stattdessen bleibe ich wo ich bin, ziehe mir die Nikotinpflaster vom Bauch und trinke den letzten Schluck Wein. Ich bin inzwischen sehr betrunken und erschöpft.
Am Hauptbahnhof verlassen alle Fahrgäste außer uns den Wagen.
K. ist plötzlich ähnlich aufgedreht wie ich es eben noch war. Sie ist hippelig, hat einen großen Bewegungsdrang und fragt mich, was sie jetzt tun soll.
„Was meinst du damit?“
„Ich will sporteln. Sag mir was ich machen soll!“
Das Bier zeigt seine Wirkung. Wir haben beide einen sitzen.
„Versuch mal einen Klimmzug an der Gepäckablage.“
Nichts leichter als das.
„Das war leicht. Und jetzt?“
„Jetzt mach Hürdenlauf über die Sitzreihen.“
„Und wenn jemand kommt?“
„Wer soll denn kommen?“
K. zieht ihren Rock hoch und klettert unter vollem Körpereinsatz, über die hohe Rückenlehne auf den nächsten Sitz und so immer weiter bis zum Ende des Großraumabteils.
„Und jetzt?“ ruft sie von hinten. Sie lacht, ihre Wangen sind gerötet. Das Spiel fängt an mir Spaß zu machen. Ich bin ihr Coach,und sie die ambitionierte Sportlerin.
„Und jetzt musst du unter den Sitzen durchrobben, bis hier vorne zu mir,“ kommandiere ich und fühle mich wie Katharina Witts gestrenge Trainerin. Die gute K.! Sie ist wirklich die Beste!
K. ziert sich. „Das ist doch total dreckig da unten und außerdem passe ich da nicht durch“, ruft sie quer durch den Wagen.
„Quatsch, ist sauber. Sind doch im ICE. Außerdem sind wir gleich Zuhause, sieht dich heute niemand mehr. Und natürlich passt du da durch! Komm schon Bitte!“
So angespornt verschwindet  K. hinter der Rückenlehne eines Sitzes. Ich höre, wie sie sich unter großer Anstrengung nähert. Ein Soldat auf dem Übungsplatz. Nach einer langen Weile kommt sie zerzaust und voller Schmutz unter dem Sitz mir gegenüber hervor gekrochen. Ich japse inzwischen tonlos nach Luft vor Lachen.

Sehr verehrte Fahrgäste, wir erreichen in Kürze Berlin Ostbahnhof. Der Zug endet hier.

Geschafft! Nur wenige Minuten trennen mich noch von einer Lucky. Wir verlassen den Zug, jede auf ihre Art derangiert. Vor dem Bahnhof zünden wir uns eine Zigarette an. Ich fühle mich plötzlich dreckig und bin erschöpft und leer. Ein Junkie bin ich. Ein süchtiges, armes Schwein. Scham überkommt mich, und den Heimweg verbringen wir schweigend. Der Rausch ist schlagartig vorbei. Ich habe Kopfschmerzen.

Das war vor 5 einhalb Jahren. Seitdem rauche ich nicht mehr.

Enhanced by Zemanta