Gott am Feldweg

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Aber während ich zuzeiten in der Vorstellung selig war, daß meine Leiden endlos sein sollten, konnte ich es nicht ertragen, daß sie keine Bedeutung hatten. Jetzt finde ich an einem fernen Punkt in meinem Wesen etwas verborgen, das mir sagt, nichts in der Welt sei ohne Bedeutung, am allerwenigsten das Leiden. Dieses Etwas, das tief in mir vergraben liegt, wie ein Schatz auf einem Felde, ist die Demut.

Oscar Wilde

Attrappe

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Ein Mann, mit dem ich in meiner Jugend in mancher Nacht das Lager teilte, und der sehr viel älter war als ich, schenkte mir eines Tages die Memoiren von Katharina der Großen. Der Namensverwandtschaft wegen. Als Widmung schrieb er mir, mit einer klaren, schnörkellosen, dabei aber doch eitlen und einstudierten Handschrift, die gut zu seinem möchtegern-existentialistischen Auftreten im immerschwarzen Rollkragenpullover, mit Dreitagebart und lackschwarzem, wildem Haar passte, folgendes hinein, und traf dabei genau mein Lebensgefühl zu jener Zeit:

„Warum nur sind wir in allem so begrenzt, außer in der Fähigkeit zu leiden?“

So war das damals. Alles tat ständig weh, und immer gleich uferlos und nicht enden wollend.
Liebe zerstörte, Trennung zerstörte, Familie zerstörte und Schule quälte.
Selbst das Glück schmerzte, weil die Vorahnung seiner Endlichkeit nagte und jedes Vertrauen schon im Keim erstickte.
Alles ging vorbei, worauf und worüber sollte ich mich da freuen. Der Zauber des Anfangs wurde übertönt vom Lärmen seines bevorstehenden Endes.
Gegen die Schule, die Familie, die Liebe und den Kummer halfen nur Drogen und Sucht.
Das Extrem. Der Turbo in Allem. Exzess, Ausschweifung. Alarm.
Wollust, Völlerei, Überfluss. Maßlosigkeit. Viel von allem und von allem zuviel.

Aber war es nur das?
Hielt mich dieses ständige Leiden, das mich schon als Kind dazu brachte solange an meinen Zähnen herum zu reissen, bis ich sie endlich ziehen konnte,
das mich dazu verführte die Fingerspitzen an die rotierende Scheibe der elektrischen Brotschneidemaschine zu halten, bis die erste Hautschicht durchschnitten und feine Bluttropfen aus der brennenden Wunde hervortraten,
das mich so tief und lange am herumgereichten Joint saugen ließ, bis eine Atemlähmung eintrat, und ich nur durch feste Schläge auf den Rücken wieder nach Luft japsen konnte,
das mich mit LSD und Pilzen experimentieren ließ, bis die Wahnzusände mich überall hin verfolgten,
das mich Männern in die Arme trieb, die mir nicht gut taten,
das mich Aids nicht als Bedrohung sondern als Herausforderung verstehen ließ,
das dafür sorgte, dass ich Unmengen an Essen in mich hineinstopfte, bis mein Körper es wieder von sich gab,
das mich aber auch hungern ließ, bis ich vor Kraftlosigkeit beinahe zusammenbrach,
hielt mich eben dieses zerstörerische Leiden, das so offensichtlich danach strebte sich selbst zu perpetuieren, hielt mich genau das nicht auch am Leben und brachte mich mir näher?
Hätte ich mich denn überhaupt anders fühlen können als im Fressen, Kotzen, Hungern, Kiffen, Vögeln und Saufen? Als im Schmerz, der mir zeigte, dass ich lebte, und warmes Blut durch meine Adern floß und aus meinen Wunden perlte.
Der volle Magen, die Lungenschmerzen, sich kaum noch rühren können nach tagelangen Orgien, betrunken sein, bis nur noch Erbrechen half.
Ritzen, Beissen, Selbstverletzung. Gefahr.
Und hielt das Leiden mich nicht gleichzeitig ab von einem Leben, das in der Zukunft beginnen und mir endlich das grenzenlose Glück bringen würde, nach dem ich mich sehnte?
Was ich damals nicht wusste: es war alles da. Inmitten des stinkenden Unrates war der Tisch gedeckt.
Ich hätte dort Platz nehmen und der Musik lauschen, satt werden, lachen, mich freuen können.
Wenn ich es gekonnt hätte.
Aber der Schmerz war zu groß. Kein Blatt zwischen mir und der Welt. Alles war scharf, spitz und kantig. Und tat weh.