Ach, Kreuzberg

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Kreuzberg ist der interessanteste und vielfältigste Bezirk Berlins.
Das haben inzwischen auch andere spitz gekriegt und sich nach und nach ins Paradies eingekauft. Weil sie es sich leisten können.
Eigentlich, so meinte K. neulich, sollte man Sticker drucken lassen. Darauf Jesus, wie er auf dem Esel reitet.
Den kleben wir dann auf die Scheiben der dicken Angeberkutschen, damit sie sich schämen.
Schämen
, lache ich. Dafür müsste man ja erstmal sowas wie ein Schamgefühl haben und wenn sie das hätten, würden sie erst gar nicht mit den Klunkern klimpern und Andere aus ihren Wohnungen verdrängen.

Manche kriegen den Hals gar nicht voll und bewohnen zu zweit ein ganzes Mietshaus. Mitten in der Stadt. Ja, das dürfen die, denn wer das Geld hat hat das Recht, das war schon immer so.
Zwar können sie auch nicht mehr als ein Schnitzel essen, wie ein Kollege von mir immer wieder behauptete, aber sie können dabei viel mehr Schaden anrichten als Menschen mit Durchschnittseinkommen oder sozialem Gewissen.
Inzwischen schwappt der Ungeist des Kapitals mehr und mehr auch über meinen Kiez und verändert sein Gesicht rasant. Es ist wie überall: das, was ihnen gefällt zerstören sie durch ihre Inbesitznahme.
Der Tauchausflug ins empfindliche Korallenriff.
Irgendwann ist alles tot. Wie am Prenzlauer Berg.

Die Grenze verläuft nicht zwischen dir und mir
Sie verläuft zwischen oben und unten

stand jahrelang als ungelenkes Graffiti auf einer Brandmauer am Bethaniendamm. Und tatsächlich ist aus dem einst dahin plätschernden Leben in Kreuzberg eines geworden, das nicht mehr zwischen Ich und Du, sondern zwischen Freund und Feind unterscheidet, zwischen oben und unten. Es gibt jetzt einen Gegner, einen Feind im Inneren, den man an seinen Insignien erkennt und, im Wissen, dass das nichts nützen wird, nach Leibeskräften bekämpft verachtet ablehnt. Immerhin sind wir moralisch im Recht, irgendwie.
Bis auch mein kleines Biotop für seltene Arten zerstört ist und das hässlich-einförmige Gesicht der bereits übernommenen Gebiete übergestülpt bekommt, nutze ich die Galgenfrist um das, was ist zu genießen.
Etwas anderes bleibt ja nicht.

Ach, Kreuzberg.

Zerstört

20140915_163520Da glaubt man, ein alter Hase zu sein: abgebrüht, mit allen Wassern gewaschen, abgestumpft, schmerzfrei.
Und dann spaziere ich nach einem langen Gang durch die Stadt heimwärts und will den Mann durch die ruhigeren Straßen Berlins lotsen, weil er in seiner beschaulichen Alsterstadt derartig imperialen Lärm, geschweige denn 4-Stunden-Märsche nicht gewohnt ist.
Komm, lass uns über den Acker gehen.“
Sage es, biege um die Ecke und stehe vor diesem großen Schild:

PATRIZIA
HIER ENTSTEHEN NEUE WERTE
Wohneigentum in Mitte.

Und nicht nur ich bleibe stehen und schaue und kann die aufsteigenden Tränen kaum niederkämpfen. Auch zwei alte Frauen, die auf ihren Hollandrädern die gewohnte Abkürzung über diese letzte große Brache, das letzte Stück Mauerstreifen im Kiez nehmen, stehen dort und schauen und sind fassungslos und wie betäubt.
Hier nun auch. Wir wussten es. Die ganze Zeit.
Als sie anfingen sämtliche Freiflächen hinter der Bundesdruckerei und Richtung Engelbecken mit großmäuligem Fertigteilprotz (Villa Fellini) oder seelenloser Krisenarchitektur, fast ausnahmslos hochpreisiges Eigentum, versteht sich, zuzubauen, ein Haus schlimmer als das andere, da wussten wir, dass es eines Tages auch unseren Acker treffen würde. Diesen Ort des Wildwuchses, der seit dem Fall der Mauer in einem Dornröschenschlaf lag und von uns gerne zum Spazierengehen und Verweilen genutzt wurde.
Die Essigbäume, die Hagebuttensträucher, die Wildrosen, die Akazien, der Kastanienhain, der Walnussbaum, der kleine Kugelahorn, der sich an die benachbarte große Silberpappel schmiegt, die riesige Wiese mit Weißdorn, Rauke, Goldrute, Disteln, Gräsern, Korn, Winden und zahllosen Wildblumen und Kräutern, der schattige Hohlweg, die Schmetterlinge, der Fuchs, das Käuzchen, die vielen Vogelarten und Insekten, all das wird in wenigen Wochen Vergangenheit sein, und das tut so weh, dass es mir beinahe den Atem raubt.
Die ersten Bäume, zur Straße hin, sind bereits gefällt, das Unkraut zum Gehweg gemäht, hier und da neonfarbene Markierungen vorgenommen. Das Gelände ist vermessen und vorbereitet für die Erschließung.
Wie ein Faustschlag trifft es mich, und so fröhlich, wie ich eben noch plapperte, so traurig und verstummt bin ich mit einem Mal.
Nein, es ist nicht der Regenwald, der da gerodet und auch kein Naturschutzgebiet, das platt gemacht wird. Nicht mein Geburtshaus, noch ein besonderes Kulturzeugnis. Es ist doch nur dieses zugewucherte Stück Mauerstreifen. Die letzte lebendige Erinnerung an das was war. Das Nowhereland. Die zirpende Insel. Der Ort zwischen gestern und heute. Das Verbindungsstück zwischen zwei Welten und Zeiten, die sich  voneinander abgekoppelt haben und auseinander triften wie zwei Kontinente. Mehr ist es nicht. Für mich aber ist es ein Stück Heimat, das da zerstört wird.
Und für was? „Neue Werte“ in Form von Privateigentum natürlich.
Es ist zum Heulen.


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Bin mal für ein paar Tage stationär.