Traubentod

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In dem Kriminalroman, den ich schriebe, wenn meine Phantasie für derart fiktionale Texte ausreichte, ließe ich die dicke goldene Traube auf den Kopf einer alten Frau, oder besser noch eines kleinen Kindes stürzen. Das Kind wäre die Tochter oder der Sohn einer im Orte nicht besonders gut gelittenen Person. Leider würde das Kleine den Unfall nicht überleben. Doch halt, war es wirklich ein Unfall?, früge sich die zuständige Kommissarin, die mit dem (katholischen) Pfarrer des Ortes liiert wäre.
Am Ende, soviel weiss ich schon, war das ganze eine Falle der ehemaligen Haushälterin des Pfarrers und ihres Komplizen. Doch was genau das Motiv der beiden war und wie das alles zusammenhängt, weiss ich leider nicht.

Der Schlachter

20141008_080159Die schwarze Limousine, in die ich steige, ist ein englisches Taxi.
Der Innenraum des Wagens ist überraschend groß. Wie ein Schulbus.
Wir sind 40 Frauen, die auf den langen Bänken sitzen, die in Fahrtrichtung vor den Fenstern montiert sind. Von der Fahrerkabine sind wir durch eine Glasscheibe getrennt.
Es ist Nacht, und wir fahren durch einsame Vorstadtstraßen.
Der Fahrer hält an und kommt in den Fahrgastraum. Er beginnt die Frauen mit einem Küchenmesser abzuschlachten, eine nach der anderen. Sie wehren sich nicht, Alles ist voller Blut, und ich merke erst jetzt, dass der Bus innen vollkommen weiss gefliest ist, wie ein Schlachthaus.
Auf unerklärliche Weise gelingt es mir zu fliehen und mich unter dem Wagen zu verstecken, der am Straßenrand geparkt und hell erleuchtet ist. Jeder könnte sehen, was dort geschieht. Aber es ist niemand da.
Ich habe Todesangst.

Zuhause dann, stelle ich fest, dass ich mit dem Mann zusammen lebe. Er ist ein Neurologe und Psychiater.
Wir stehen in meiner Küche, als er eine Handvoll kleinerer Knochen und Knorpel neben die Spüle legt. Er hat kräftige, dicke Finger. An den Knochen hängen noch blutige Fleischreste. Die Knorpelstücke entpuppen sich als ein paar Ohren.
Ich halte den Atem an, weil ich weiß, dass er anhand der Knochen und der Ohren feststellen kann, dass ihm eine der Frauen entwischt ist, und dass ich das bin. Ich weiß, dass er mich dann töten wird.
Ich stehe hinter ihm und schaue ihm zu, wie er die Knochen in der Hand dreht, und von allen Seiten prüfend betrachtet. Dann legt er die Ohren nebeneinander auf die Arbeitsplatte. Ich erschrecke, als ich erkenne, dass es zwei linke Ohren sind, die nicht von einem Menschen stammen können. Gleich wird er merken, dass ich ihm entkommen bin.
Er schaut die Ohren an, lächelt, und nickt zufrieden.
Dieses Mal habe ich Glück gehabt.

Flucht

English: not determined yet. Deutsch: noch nic...

Ich erinnere mich, dass ich ihn getötet habe.
Nur weiss ich nicht wann. Und nicht warum.
Ich hatte eine Komplizin.
Meine Schwester. (Oder ihr Mann)
Sie haben ihn zerlegt und in Beutel verpackt.
Ich weiss nicht wo sie sind.
Unter der Erde, in der Scheune oder im Fluss.
Im Gefrierschrank ist Fleisch für die Hunde.
Ziege, Lamm, Pferd.

Für Jahre eingesperrt. Keine Fahrt ans Meer.

Ich frage seine Mutter wie es ihm geht.
Sie glaubt mir nicht.

Into the wild, oder Aktenzeichen xy im Grunewald

 

Bei Einbruch der Dunkelheit im Grunewald auf dem Rücken liegend. Den Sand in den Haaren spürend. Den harten Boden unter den Schulterblättern.
Die Räder sind weggerutscht. Weh getan habe ich mir nicht.
Als einziges Geräusch ist ein leises Knacken und Rascheln der fallenden Eicheln zu hören, wie sie bei ihrem vorbestimmten Sturz an querstehenden Ästen und Zweigen abprallen, über Blätter rollen, weiter in die Tiefe taumeln, schließlich mit einem dumpfen Ploppen in das feuchte Laubbett eintauchen und dort versinken.
Töle versucht die Quelle des Knackens auszumachen, spitzt die Ohren und springt suchend umher. Ihr ganzer Körper ist in Habacht-Stellung, jeder Muskel erwartungsstarr.
Ich bleibe auf dem steil abfallenden, verwurzelten Weg liegen und suche im dunklen Grau nach dem allerletzten Tagesrest. Wo ist bloß Westen? Zum Teufelssee muss es noch ein Stück sein, aber wie genau ich dort hin komme, weiß ich nicht.
Das Handy zeigt mir als Standort noch immer Würzburg an. Meine aktuelle Position kennt es, trotz vollen Empfangs, nicht. Dabei habe ich mir das Gerät genau für solche Situationen gekauft, als das mit den Herzrhythmusstörungen anfing.

Ganz offensichtlich haben wir uns verirrt. Bei Dunkelheit sehe ich nicht gut, und im Moment habe ich überhaupt keine Orientierung mehr. Ob es von hier weit ist bis zur Heerstraße?
Angst beschleicht mich. So, wie früher, als ich zwanzig war und nachts mit dem Auto in den Frankfurter Stadtwald fuhr, um dort auf einem Forstweg stehen zu bleiben, das Licht auszuschalten und auf das Nahen des Mörders zu warten. Meine ganz persönliche Aktenzeichen-xy-Geschichte erleben.
Rauchend saß ich hinter dem Lenkrad, das Fenster der Fahrerseite geöffnet, die Türen unverschlossen. Über Rück-und Seitenspiegel behielt ich den Weg hinter mir im Auge, eine Hand immer am Zündschlüssel.

Auf einmal sticht den Hund der Hafer. Er fängt an, wie ein Derwisch um mich herum zu rennen, und dabei zu knurren. Der aufgewirbelte Sand spritzt mir ins Gesicht und in die Augen.
-Hey! ermahne ich sie, bekomme prompt Schmutz in den Mund und rappele mich auf.
Wir müssen weiter.
Als ich gerade Sand und Kiefernnadeln aus meinem Haar schüttele, höre ich etwas:
nahende Schritte hinter der Kuppe, von der ich wenige Meter entfernt bin. Kurz darauf tauchen zwei Läufer auf, die sehr schnell auf uns zu  kommen. Kein Laut von Töle. Ich halte den Atem an.
Der Moment, in dem wir uns in die Augen schauen, wird der Entscheidende sein. So ist es doch immer. Danach weiß man Bescheid.
Unsere Blicke treffen sich, ich versuche möglichst selbstbewusst zu wirken. Dabei habe ich Angst. Niemand weiß wo wir sind, es ist dunkel, ich bin mitten im Grunewald.
Sie könnten jetzt ganz ungestört über mich herfallen, Töle mit einem Tritt außer Gefecht setzen,und uns schließlich beide hier verscharren.
In einigen Monaten würde Rudi Cerne meinen Fall bei Aktenzeichen vorstellen und die Zuschauer um Mithilfe bitten.

Am Morgen des 13. November 2013, machten Spaziergänger im Berliner Grunewald einen grausigen Fund…

Dann kommt eine Rückblende, die mich zeigt, wie ich mich am Telefon fröhlich von einem nahestehenden Menschen verabschiede, und für den darauf folgenden Tag eine Verabredung treffe. Das Ganze gespielt von monoton sprechenden und unbeholfen agierenden Laiendarstellern.

Jaha, ich freue mich auch sehr, wenn wir uns morgen sehen! Küsschen!“, flöte ich ins Telefon.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Am nächsten Tag lief Tikerscherk ihren Mördern direkt in die Arme. Eine Zeugin erinnert sich noch, sie bei Einbruch der Dunkelheit in Richtung Teufelssee abbiegen gesehen, und sich gewundert zu haben, dass sie zu so fortgeschrittener Stunde den steilen und einsamen Pfad ins Waldesinnere nahm.
(Die kopfschüttelnde, mir schulterzuckend nachblickende Zeugin füllt jetzt den Bildschirm).

Die beiden Männer sind völlig verschwitzt. Beide tragen kurze Sporthosen und Trägerhemden. Sie schauen mich an, scheinen für einen Moment unschlüssig zu sein, springen dann über die große Querwurzel, die mir zum Verhängnis wurde, und versuchen auf dem schmalen, steilen Pfad an mir vorbei zu rennen, ohne auf den zahlreichen Eicheln auszurutschen, die dort auf dem Boden liegen.
Als sie ein paar Meter von mir entfernt sind, fordere ich mein Schicksal noch einmal heraus.
-Entschuldigung
, rufe ich ihnen hinterher, ist es noch weit bis zur nächsten Straße?
Sie bleiben stehen und drehen sich um.
Nein. 200 Meter hinter der Kuppe, kommt ein breiter Weg. Den musst du nach rechts gehen, dann kommt  die Straße.
Nachdem ich mich bedankt habe,  laufen sie, mit einem kurzen Blick auf die Uhr, weiter.
Ich habe ihre Zeit versaut.

Tatsächlich sind wir wenige Minuten später endlich wieder auf einem breiten, ebenen Weg, der uns bald darauf zum S-Bahnhof Grunewald führt.
In der Bahn dann, schaue ich hinaus in die Dunkelheit und fühle mich heimelig behütet.
Wie in einem, in flackerndes Licht getauchten, Kaminzimmer.
Ich sehe den Flammen zu, wie sie gierig die trockenen Holzscheite entlang, nach oben züngeln, um sie knisternd und zischend zu skelettieren und schließlich in lichtgraue Asche zu verwandeln.

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Faszinierend, wie eigentümlich sind die Filmchen auf Youtube, die aus einer Aneinanderreihung von täglichen Selbstporträts bestehen, die über Jahre aufgenommen, einen im Zeitraffer ablaufenden Lebensfilm ergeben. Daumenkino der Vergänglichkeit.

Zwischendurch gibt es immer wieder lustige, weil überraschende Momente, wenn z.B. ein Bart plötzlich verschwunden ist, oder, wenn aus einer Langhaarmatte eine Kurzhaarfrisur wird.

Trotz der Kurzweil der Bilderfolge, denke ich daran, das hinter solcher Veränderung oft der Wunsch steht, das Ende einer schwierigen Lebensphase auch optisch zu markieren.

Als ich vor Jahren in Barcelona erwachte, nachdem ich am Vorabend entschieden hatte auf Nimmerwiedersehen abzureisen, blickte ich in ein frisch rasiertes Gesicht, dessen freigelegte, blasse Züge mir kantig und starr wie die eines Nussknackers erschienen.

Eines unserer Lieblingsspiele war es gewesen, Gegensatzpaare zu bilden. Liebe-Tod. Glück-Leere. Schokolade-Senf. Bei „Bart“ konnten wir uns nicht einigen. „Clarity“ war seine, „Gilette“ meine Idee.

Wir hatten wohl beide recht.

Merkwürdig traurig macht mich ein Video auf youtube, bei dem Eltern ihre kleine Tochter vom Windelalter, über einen Zeitraum von 4 Jahren geknipst, und diese Privataufnahmen schließlich ins Netz gestellt haben. Das Kind lächelt nie und scheint mit blicklosen Augen in seinem wehrlosen Kindheitskokon erstarrt.

Ob es sich irgendwann darüber freuen wird, dass Tausende Menschen weltweit die Dokumentation seiner frühkindlichen Entwicklung verfolgen durften?

Es ist drei Uhr nachts. Ich kann wieder nicht schlafen. Im Fernsehen läuft eine Sendung über den Lagerarzt von Auschwitz, Josef Mengele, dessen besonderes Interesse der Zwillingsforschung galt. Überlebende berichten von seinen Grausamkeiten, den bestialischen Menschenversuchen, die der stets adrett gekleidete, arienpfeifende Mediziner mit äußerster Kälte und wissenschaftlichem Eifer durchgeführt und akribisch dokumentiert hat.

Zwischendurch immer wieder Aufnahmen aus dem Konzentrationslager.

Das Tor, einfahrende Züge, die Rampe, Sträflingskleidung, ausgemergelte Menschen, von Tod und Verzweiflung gezeichnet.
In einer Baracke liegen Todgeweihte in ihren Stockbetten.

Mein Blick bleibt an einer alten Frau hängen, deren Augen unbeteiligt ins Nichts zu starren scheinen, und mich dabei auf unerklärliche Weise an das Kind auf Youtube erinnern.

Ich schalte das Licht an.