Rotlicht

Rotlicht

Rotlicht (Photo credit: Thomas Pleil)

J. und ich unterhalten uns über Dies und Das. Dabei fällt mir eine lang vergessene Begebenheit ein, die ich im Erzählen noch einmal durchlebe.
Ich war vielleicht 14 Jahre alt und ungeküsst, als ich mit meiner Schwester auf eine Party ging, die in dem schmucklosen, lang gezogenen Kellerraum eines Neubaus der katholischen Gemeinde stattfand. Es war Hochsommer, es war heiß, alle trugen Blue Jeans, Turnschuhe und weiße T-Shirts. Ich auch. Draußen war es noch hell, aber drin zeichnete das gedämpfte Rotlicht die Gesichter weich und ließ die Konturen verschwimmen. Lebenshungrige, erwartungsvolle Teenager standen in dem fensterlosen Raum herum und warteten darauf zum Tanzen aufgefordert zu werden, denn es lief Blues.
Ein etwa Sechzehnjähriger, auf der anderen Seite der Tanzfläche, schaute mich an. Viel war bei dem Licht nicht zu erkennen, aber er hatte breite Schultern, Locken und einen großen, vollen Mund, und aus seinen, durch den Lichteinfall dunkel wirkenden, Augenhöhlen, glaubte ich die Sehnsucht blicken zu sehen, die er in diesen Abend legte.
Wie ferngesteuert ging ich quer durch den Raum, nahm seine Hand und zog ihn zu mir. Wir umarmten uns, und ich legte den Kopf auf seine Schulter. Langsam bewegten wir uns zur rauen Stimme von Rod Stewart, und ich fühlte, wie er vor Aufregung ein wenig bebte. Seine Unsicherheit und seine vorsichtige, unbeholfene Art, mit der er mich festhielt rührten mich zutiefst an.
Ich hatte keinerlei Erfahrung in solchen Dingen, aber ich wusste, dass wir die Rollen vertauscht hatten. Er war der Ältere von uns beiden, und ich dirigierte ihn durch diese, mit seinem übersprudelnden Verlangen aufgeladene, Situation.
Es war sehr heiß dort unten zwischen den Betonwänden und all den Körpern. Er schwitzte stark, und schnell war auch mein T-Shirt von seinem Dampf durchfeuchtet, und es roch nach Ariel, Bügelstärke, nach Baumwolle und nach fremder Haut.
So tanzten wir und drehten uns langsam und eng umschlungen zum Takt der Musik. Ich schloss die Augen, und das rote Licht drang durch meine Lider in mein Hirn, wo es sich mit dem Geruch und den Klängen dieses Momentes vermischte und zu einem jähen Glücksgefühl führte, das seinen völlig überraschenden Ausdruck in einem ungeplanten, leidenschaftlichen Kuss fand, den ich initiierte.
Der Augenblick, in dem sich unsere Lippen berührten, ließ ihn so erschaudern, als wäre ein Stromstoß durch seinen Körper gefahren. Ein starkes Zittern erfasste ihn, und sein Griff wurde etwas fester. Ich küsste ihn mit einem Selbstverständnis und einer Hingabe, als hätte ich nie etwas anderes getan. Ganz so, als kennten wir uns und uns verbände eine große Liebe zueinander. Mit einer Hand hielt ich seinen Nacken, die andere lag auf seinem Rücken, und unsere Münder griffen ineinander, wie Nut und Feder. Das Zittern steigerte sich, ging in Wellen durch seinen Körper, und ich wurde immer ergriffener, ohne zu verstehen was gerade geschah. Gleichzeitig dauerte er mich in seinem hilflosen Ausgeliefertsein an diesen Augenblick. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Fisch an der Angel, und meine Lippen waren der Haken, an dem er sich wand.
Zu meiner Rührung, dem Bedauern, der Leidenschaft und der Neugierde, die ich bei diesem Kuss ebenso empfand, gesellte sich noch ein sehr starkes Gefühl der Fürsorge. Ich musste ihn beschützen, er war so verletzlich.
Dabei biss ich ihm gerade den Kopf ab, wie die Gottesanbeterin beim Liebesakt, und der Leib des Männchens zuckt und kopuliert enthauptet immer weiter, bis sie alles aus ihm heraus gewrungen hat.
Trotz der Vielzahl an Empfindungen, und dem inneren Tumult vergaß ich nicht, dass auch meine Schwester und ihre Freundinnen anwesend waren. Ich spürte wie ihre Blicke in meinem Rücken brannten, und wusste, dass sie mich zur Rede stellen würde, sobald ich mich aus dem Schutz dieser Umarmung und dieses Kusses gelöst haben würde.
Während der letzten Takte von Sailing drückte er mich an sich, und ich tat es ihm gleich. Wir hielten uns fest, als stünden wir vor einer langen, schmerzhaften Trennung, und beim Verklingen des letzten Tones löste ich mich aus der Umarmung, schaute in sein rot erleuchtetes, weiches Gesicht und seine dunklen Augen und genierte mich auf einmal so sehr, dass ich mich auf dem Absatz umdrehte und davon lief.
Ich rannte aus dem Keller, aus dem Gemeindehaus, durch den Garten, zur Straße hin und diese immer weiter den Berg hinauf, bis ich am Haus meiner Eltern ankam, aufschloss, die Treppe hinauf flog, und mich in meinem Zimmer auf mein Bett warf.
Ich hatte etwas Unfassbares getan.

Musik zu Text:

26 Kommentare zu “Rotlicht

    • Ach, ja… Aber jetzt ist es auch ganz schön aufregend, finde ich. Es gibt eben leider nur ein erstes Mal. Alle anderen Male kann man nur so originell gestalten, dass sie auch wie eine Premiere sind.

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  1. Starkes Stück!*
    „Der arme, glückliche Kerl“ war das erste, was ich nach dem Lesen dachte und ich überlegte, ob ihr euch nochmal getroffen habt, und was das wohl für Konsequenzen hatte, wenn ja oder wenn nicht. Dann dachte ich: Egal, eigentlich ist es so, wie es ist, gut. Nichts davor, nichts danach, nur der Moment und viel Raum für Phantasie.

    *In mehr als einem Sinn…

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    • Danke!
      Als ich den Text schrieb, habe ich mich gefragt, ob ihm diese Situation auch in Erinnerung geblieben ist.
      Es war mein erster Kuss, und wir haben uns nie wieder gesehen.
      Meine Schwester hat mir noch ziemlich die Meinung gegeigt, und ich fühlte mich schuldig und schlecht.
      Ich bin überzeugt , dsss es ohne Rotlicht nicht soweit gekommen wäre.
      Schön war´s.

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  2. ach schööön…..und verlieben kann man sich doch in jedem alter.

    z.zt. bin ich auch schon etwas länger ungeküsst. höhö……

    bin mal gespannt, was da noch kommt…….

    und interessant ist das „rotlicht-feeling“ – naja, nicht umsonst gibt es das enstprechende milieu………rot – verführerisch………“teufel“ nochmal :-)
    willenlos……………dazu fällt mir spontan ein super film ein:

    „im auftrag des teufels“ – sehr, sehr interessant!!!

    und ein lied von den stones: sympathy with the devil

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    • Nein, bin ihm nie mehr begegnet. Das war nicht meine Gemeinde, bin protestantisch, und nur durch Zufall auf diese Party geraten.
      Wenn man von mir geküsst werden will, könnte Rotlicht zumindest helfen.

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  3. hehe…..lustig so in erinnerungen zu schwelgen….
    bei uns gabs immer diese „freitag abends disco“ im jugendzentrum….

    übrigens rotlicht gabs da keins!
    nur „schwummerlicht“…….im dunkeln ists gut munkeln :-)

    so süüüüß……der erste kontakt mit den jungs……

    auch ein bringer war immer „frühlings- oder schützenfest“…..
    stundenlang am autoscooter stehen und glotzen …..hey was geht ab?!

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  4. Wunderbarer Text! Ich bin auch direkt in meine Erinnerungen abgetaucht und hab beim ersten Kuss angehalten. Zwar nicht bei Rotlicht und nicht halb so beeindruckend wie der deinige, aber immerhin auch auf einer monatlichen kirchlichen Veranstaltung in einem Gasthaus im Nachbardorf. Ich war ein paar Wochen vorher 15 geworden.

    Auf exakt dieser Veranstaltung hatten sich 25 Jahre vorher auch meine Eltern kennengelernt und erstmals geküsst, meine Mutter war zu der Zeit auch 15 Jahre alt. Verrückt, oder? Und ziemlich schön.

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    • Das ist eine besonders schöne Geschichte! Hast du noch Kontakt zu der Frau, und wenn ja, wirst du sie heiraten?
      Solche Veranstaltungen waren anscheinend der Kontakthof vieler Jugendlicher, auch wenn man mit Kirche nichts am Hut hatte.
      Schreib doch auch drüber!
      Oder einen Text im Sinne von: How I met your mother- für dein Kind.

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      • Nein, ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr, das hat sich relativ schnell wieder im Sande verlaufen. Aber ich könnte eigentlich mal nach ihr googlen, das habe ich noch nie getan und den Namen habe ich natürlich nicht vergessen. Das könnte interessant sein.

        Wäre natürlich klasse, wenn man dem Kind so eine „HIMYM“-Geschichte erzählen könnte, ich würd`s auch sehr gern tun – allerdings kenne ich Sohnemanns Mutter aus dem Internet – laaaaaangweilig! Der würd schon los meutern, bevor ich den ersten Satz beendet habe.

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  5. Es ist eine nette Geschichte wie junge Menschen die Liebe entdecken.

    Aber die Musik, die damals die Stimmung erzeugte, hättest Du schon dazu tun sollen. So tue ich es hier.

    Rod Stewart, komplett mit New York Skyline und Twin Towers.
    Erfreue Dich der Erinnerung.

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    • Interessanterweise war dieser Moment sehr lange verschütt gegangen, und lebte durch das Erzählen wieder so intensiv auf, dass ich noch einmal in diesem Keller stand und zu Rod Stewart tanzte.

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  6. Pingback: AnschROTpuder. rotlichtkuss in stahlmontur in neun rötlichen bildern | Irisnebel

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