Parforcejagd

Witney_Carson

Dieses Abschätzige alten oder alternden Menschen gegenüber.
Eine Verachtung, die beinahe schon an Feindselgkeit grenzt.
Die Zumutung, die ihre zerfallenden Körper uns aufbürden, als Spiegel der eigenen Vergänglichkeit.

Das Hässliche, Boshafte das mir aus den abwertenden Worten entgegenspringt, die ich hier und da lese oder höre.

Vor einer Weile erzählte mir Freund K. von der Zurückweisung, die er durch eine viel jüngere Frau, für die er sich interessierte, erfahren hatte. Sie begnügte sich nicht einfach damit ihm zu sagen, dass sie ihm nicht zugeneigt war, sie musste ihn auch unbedingt wissen lassen weshalb. Und offensichtlich musste sie ihn dazu abwerten, ihn herabsetzen und entwürdigen, ihn zwischen zusammengepressten Zähnen anzischen, ihm sagen, dass sie sich für einen alten, fetten Sack wie ihn niemals interessieren würde, was er sich einbilde überhaupt nach dem Thron ihrer göttlichen Jugend zu greifen.

Alternde Frauen mit hängenden Brüsten und Genitalien an denen die Schwerkraft ganze Arbeit geleistet hat. Männer, deren Hoden auf dem Oberschenkel zum Liegen kommen. Faltiges Skrotum mit fusseligem Schamhaar.

Na und?
Wen regt das auf? Wen geht das an?

Dürfen alte Menschen nicht mehr in die Therme oder an den FKK-Strand gehen?
Darf eine alte Frau ihre aus der Form geratenen Oberarme nicht mehr zeigen? Muss sie ihren Schoß schamhaft verbergen, während die Jugend sich räkelnd spreizt?
Weshalb sollte ein übergewichtiges Mädchen sich in eine Tunika hüllen anstatt bauchfrei zu tragen, wie alle anderen auch?
Um sich in tiefster Selbstverachtung selbst zu blamen (schaut, ich bin so hässlich, dass ich ein Zelt trage) oder um uns zu schonen, die Wahren, Schönen und Guten?
Um Rücksicht auf Menschen zu nehmen, die nicht gewillt sind ihrerseits achtsam zu sein,
Rücksicht auf diejenigen, die den alten oder dicken Menschen verachten und keine Sekunde zögern ihn dies spüren lassen, die aber ebenso auf jene herabblicken, welche dem unerbittlichen Druck durch Schönheits-, Jugend- und Fitness-Diktat nicht mehr stand halten können und sich deswegen kosmetischen Eingriffen unterziehen?

Lass Dich verlachen, wehr dich nicht und unternimm auch nichts dagegen.
Wer nicht von Natur aus so schön ist wie wir gehört nicht dazu, und wer sich mit so jemandem einlässt, mit dem stimmt etwas nicht.

(Reste ficken nennt man das.
Mangelware/ Remittenden/ weg damit!)

Nur durch Disziplin und Demut wirst du einer von uns.
Vielleicht. One day. Wenn uns danach ist.
Bewundere uns, erkenne unsere Überlegenheit an, sei ein Claqueur, füttere mein Ego mit deiner jämmerlichen Unterlegenheit. Verachte dich, ich tue es ja auch.

Alltagseugenik

Wer sich innerhalb dieser Logik (von Ästhetik mag ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen) bewegt, für den bedeutet alt werden zugleich auch hässlich werden.
Und Schande über den, der die Worte der Geringschätzung, die Gesten des Widerwillens aufnimmt und sie nicht stumm erträgt. Wie würdelos, wenn ein alter Mensch wieder jung oder ein Dicker endlich dünn sein möchte, der eine sich dafür liften und der andere sich deswegen das Fett absaugen lässt. Erst fressen, dann zum Arzt.

Nur Disziplin würden wir gelten lassen. Wer zuviel gegessen hat soll das auch bitteschön durch monatelanges Hungern wieder los werden. Allein durch Qualen kannst Du einer von uns werden.

Wer mit dem Altern nicht klar kommt, den trifft der ganze Ekel, den auch der dicke Mensch erfährt, oder jener, der dem täglichen Pikkolo im Büro nichts entgegen zu setzen hat und deswegen zum Vollblutalkohoiker wird.
Wer schwach ist, der gehört nicht zu uns.
Ageism, Lookism und Fat-blaming gehören zu den gesellschaftlichen Lieblingsspielen.
Parforce-Jagden bei denen die geifernde Meute gerne mit macht.

Manchmal ekele ich mich so sehr vor den Menschen.

(Ja, der Herbst. Und das verfluchte Blutergebnis ist immer noch nicht da.)

 

 

Bild: „Witney Carson“ von Danceluvswag – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC-BY-SA 4.0 über Wikimedia Commons – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Witney_Carson.jpg#/media/File:Witney_Carson.jpg

 

 

 

 

 

 

Zwillinge

DSWA_Zwillinge_73A_&_B

Zwillingstreffen in der Hauptstadt.
Gealterte Lottchen. Ihr schmerzlicher Doppelblick: hast du uns gesehen?
Karussellpferdchen.
Die Welt lächelt.

Gleich zwei Pärchen sind am Potsdamer Platz unterwegs.
Jenseits der Sechzig mit rübenroter Kurzhaarfrisur das eine,
über Fünfzig, hager, mit großporiger Haut, tiefen Nasolabialfalten und schwarzgefärbten Locken das andere.

Die Gleichgültigkeit, mit der die Zeit über alles hinweg geht, in zweifacher Ausführung.
Alte Kinder.
Noch einmal im Licht stehen.

Wenn eine von beiden sich operativ verjüngen und dabei ihren Zwilling zurück ließe. Ein paar Jahre der Teilhabe gewinnen. Das Antlitz der Vergangenheit annehmen um die Gegenwart zu überwinden. Zurückkehren.
Das Gesicht ihrer Schwester eine Erinnerung. An das was war und das was sein wird,
das Unentrinnbare.

 

Bild: By Krauss works picture (Collection F. Rauh) [Public domain], via Wikimedia Commons

Schacht

holzkuhMit vierzehn Jahren sehe ich zum ersten Mal einen Drogentoten.
Ich komme gerade von einem Gespräch mit der Therapeutin, zu der meine Eltern mich geschickt haben. Von dem Taxigeld für die Rückfahrt will ich später in der Taunusanlage noch etwas zu rauchen kaufen und mir einen entspannten Nachmittag machen. Zuhause werde ich einfach behaupten ich hätte die Quittung verloren. Das gibt zwar Ärger und meine Mutter wird das Geld von mir zurück verlangen, aber mein Vater wird es mir sowieso ein zweites Mal heimlich zustecken und die Sache ist erledigt. Über dies und anderes denke ich nach, als ich die lange Treppe zu den Gleisen hinunter laufe.
Etwa auf Höhe des letzten Absatzes sehe ich, dass unten ein paar Polizisten herumstehen, die die Reisenden an einem auf dem Boden liegenden Mann vorbei lotsen, dessen ausgemergelter Körper dort, am Fuße der Rolltreppe, in einer merkwürdigen Verrenkung eingefroren ist.
Er muss ohne sich noch abfangen zu können der Länge nach hingeschlagen und aufs Gesicht geknallt sein. In seinem dünnen, dunkelviolett gefleckten und verschorften Unterarm steckt noch die Spritze. Blut ist nirgends zu sehen. Nur dieser zerstörte Körper auf den schmutzigen Fliesen.
Obwohl ich dicht an ihm vorbei laufe lässt mich sein Anblick seltsam unberührt. Ich empfinde allenfalls eine leichte Neugierde, ein Erstaunen vielleicht über das, was da mit diesem Menschen geschehen ist, der mir wie vergängliches Beiwerk zu meinem Leben erscheint. Etwas so Unwesentliches und Peripheres etwa, wie die matt lackierten Holzkühe, mit denen ich als Kind meinen Bauernhof dekorierte und die irgendwann im Müll landeten, nachdem ich ihnen entwachsen war.
Staffage. Der zum Horizont hin verblassende Rand meiner Welt.

Als ich ein paar Meter von dem Toten entfernt bin zünde ich mir eine Zigarette an und starre auf die Possmann– Werbung an der gegenüberliegenden Schachtwand.

Erst lass isch mir mei Stöffsche bekomme
und hinnerher wird die U-Bahn genomme

Wenig später drückt der einfahrende Zug die stehende Luft aus dem Tunnel in die Station. Es riecht nach Gummi. Ich werfe meine Kippe auf den Boden, steige ein und suche mir einen Platz.
Auf der Fahrt sehe ich in mein Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelt.

Forever young, oder Vom Stolpern und vom Klopfen

Four_chamber_cardiovascular_magnetic_resonance_imaging

Nein, ich bin nicht krank, und mir fehlt auch nichts, nur jemand. Wenn es aber schon wieder so holpert und stolpert in meiner Brust, obwohl ich doch gerade erst diesen lästigen Nerv habe weg lasern lassen, dann werde ich trotzdem ein wenig nervös, um nicht zu sagen hysterisch.
Die Schwester anzurufen, würde nur wieder die gleiche und berechtigte Affirmation (Aktives, bzw. Aggressives Zuwarten) nach sich ziehen.

Türlich, türlich (sicher Digger)

Das Nachlesen in betroffenheitsspratzenden Internetforen indes treibt mich dem nächsten Apotheker in die Arme, der mir sogleich pflanzliche Wässerchen empfiehlt, statt mich zum Arzt, also zur Schwester zu schicken.
Nachdem Krankheiten und gesundheitliche Malaisen in letzter Zeit einigen Raum in diesem Blog einnahmen, ziehe ich in Erwägung es (vorübergehend) in Interims-Apothekenumschau umzubenennen und mir in vorauseilender Multimorbidität zum nächsten Geburtstag (remember the king) einen gut sortierten Fresskorb zu wünschen.
Bitte ohne Koffein, Nikotin, tierisches Eiweiß oder Alkohol, auch keine Kreuzberger Molle. Denn Jugend ist Rausch ohne Wein, wie schon mein Vater nicht müde wurde mir in meiner Adoleszenz hinterher zurufen, wenn ich des Nachts mit wild klopfendem Herzen aus dem Haus stolperte, um mein Leben zu feiern.

 

(Herz-gif Wikipedia)

Rotlicht

Rotlicht

Rotlicht (Photo credit: Thomas Pleil)

J. und ich unterhalten uns über Dies und Das. Dabei fällt mir eine lang vergessene Begebenheit ein, die ich im Erzählen noch einmal durchlebe.
Ich war vielleicht 14 Jahre alt und ungeküsst, als ich mit meiner Schwester auf eine Party ging, die in dem schmucklosen, lang gezogenen Kellerraum eines Neubaus der katholischen Gemeinde stattfand. Es war Hochsommer, es war heiß, alle trugen Blue Jeans, Turnschuhe und weiße T-Shirts. Ich auch. Draußen war es noch hell, aber drin zeichnete das gedämpfte Rotlicht die Gesichter weich und ließ die Konturen verschwimmen. Lebenshungrige, erwartungsvolle Teenager standen in dem fensterlosen Raum herum und warteten darauf zum Tanzen aufgefordert zu werden, denn es lief Blues.
Ein etwa Sechzehnjähriger, auf der anderen Seite der Tanzfläche, schaute mich an. Viel war bei dem Licht nicht zu erkennen, aber er hatte breite Schultern, Locken und einen großen, vollen Mund, und aus seinen, durch den Lichteinfall dunkel wirkenden, Augenhöhlen, glaubte ich die Sehnsucht blicken zu sehen, die er in diesen Abend legte.
Wie ferngesteuert ging ich quer durch den Raum, nahm seine Hand und zog ihn zu mir. Wir umarmten uns, und ich legte den Kopf auf seine Schulter. Langsam bewegten wir uns zur rauen Stimme von Rod Stewart, und ich fühlte, wie er vor Aufregung ein wenig bebte. Seine Unsicherheit und seine vorsichtige, unbeholfene Art, mit der er mich festhielt rührten mich zutiefst an.
Ich hatte keinerlei Erfahrung in solchen Dingen, aber ich wusste, dass wir die Rollen vertauscht hatten. Er war der Ältere von uns beiden, und ich dirigierte ihn durch diese, mit seinem übersprudelnden Verlangen aufgeladene, Situation.
Es war sehr heiß dort unten zwischen den Betonwänden und all den Körpern. Er schwitzte stark, und schnell war auch mein T-Shirt von seinem Dampf durchfeuchtet, und es roch nach Ariel, Bügelstärke, nach Baumwolle und nach fremder Haut.
So tanzten wir und drehten uns langsam und eng umschlungen zum Takt der Musik. Ich schloss die Augen, und das rote Licht drang durch meine Lider in mein Hirn, wo es sich mit dem Geruch und den Klängen dieses Momentes vermischte und zu einem jähen Glücksgefühl führte, das seinen völlig überraschenden Ausdruck in einem ungeplanten, leidenschaftlichen Kuss fand, den ich initiierte.
Der Augenblick, in dem sich unsere Lippen berührten, ließ ihn so erschaudern, als wäre ein Stromstoß durch seinen Körper gefahren. Ein starkes Zittern erfasste ihn, und sein Griff wurde etwas fester. Ich küsste ihn mit einem Selbstverständnis und einer Hingabe, als hätte ich nie etwas anderes getan. Ganz so, als kennten wir uns und uns verbände eine große Liebe zueinander. Mit einer Hand hielt ich seinen Nacken, die andere lag auf seinem Rücken, und unsere Münder griffen ineinander, wie Nut und Feder. Das Zittern steigerte sich, ging in Wellen durch seinen Körper, und ich wurde immer ergriffener, ohne zu verstehen was gerade geschah. Gleichzeitig dauerte er mich in seinem hilflosen Ausgeliefertsein an diesen Augenblick. Es fühlte sich an, als hätte ich einen Fisch an der Angel, und meine Lippen waren der Haken, an dem er sich wand.
Zu meiner Rührung, dem Bedauern, der Leidenschaft und der Neugierde, die ich bei diesem Kuss ebenso empfand, gesellte sich noch ein sehr starkes Gefühl der Fürsorge. Ich musste ihn beschützen, er war so verletzlich.
Dabei biss ich ihm gerade den Kopf ab, wie die Gottesanbeterin beim Liebesakt, und der Leib des Männchens zuckt und kopuliert enthauptet immer weiter, bis sie alles aus ihm heraus gewrungen hat.
Trotz der Vielzahl an Empfindungen, und dem inneren Tumult vergaß ich nicht, dass auch meine Schwester und ihre Freundinnen anwesend waren. Ich spürte wie ihre Blicke in meinem Rücken brannten, und wusste, dass sie mich zur Rede stellen würde, sobald ich mich aus dem Schutz dieser Umarmung und dieses Kusses gelöst haben würde.
Während der letzten Takte von Sailing drückte er mich an sich, und ich tat es ihm gleich. Wir hielten uns fest, als stünden wir vor einer langen, schmerzhaften Trennung, und beim Verklingen des letzten Tones löste ich mich aus der Umarmung, schaute in sein rot erleuchtetes, weiches Gesicht und seine dunklen Augen und genierte mich auf einmal so sehr, dass ich mich auf dem Absatz umdrehte und davon lief.
Ich rannte aus dem Keller, aus dem Gemeindehaus, durch den Garten, zur Straße hin und diese immer weiter den Berg hinauf, bis ich am Haus meiner Eltern ankam, aufschloss, die Treppe hinauf flog, und mich in meinem Zimmer auf mein Bett warf.
Ich hatte etwas Unfassbares getan.

Musik zu Text:

Wenn aber

Title page of the German magazine "Die Ju...

Wenn aber einer heute käme, und sagen würde: du darfst noch einmal von vorne anfangen, mit all dem Wissen, das du jetzt hast.
Du darfst mitten im Erwachsenenleben deine Jugend leben, mit der Schönheit und der Energie von damals, aber mit dem heutigen Bewusstsein wie wertvoll diese Zeit ist.

Was würde ich wohl tun.
Wie frei wäre ich, und wie glücklich würde mich diese Jugend, eingebettet in das Erwachsenenleben und in das Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit und meiner eigenen Endlichkeit, machen.

Wenn aber ich mir etwas wünschen dürfte,
dann wäre das Unbefangenheit allem und jedem gegenüber.
Und Naivität vielleicht.

Te Recuerdo Amanda

Auf Deutschlandradio läuft Víctor Jara.
Gleich mit 3 Liedern erinnert man an den chilenischen Sänger, der vor 40 Jahren, als Anhänger Allendes und der Unidad Popular, von Pinochets Schergen gefoltert und ermordet wurde.
Erst seit 2012, werden die dafür verantwortlichen Offiziere per Haftbefehl gesucht.

La vida es eterna en cinco minutos

Meine Gedanken kreisen um das was war. Bilder aus der Vergangenheit tauchen wie gestochen scharfe Fotografien vor meinem inneren Auge auf.
So, wie die Herbstsonne jedes Detail näher heranholt und schlaglichtartig ausleuchtet, so sind die alten Tage in den letzten Wochen wieder greifbar.
Mit einer Deutlichkeit, in der ich sie vielleicht nicht einmal damals erlebt habe. Steckte ich doch mitten drin in der dicken, undurchsichtigen Suppe meiner Jugend.

Eiserner Steg in Frankfurt am Main

Frankfurt war der Schauplatz.
Frankfurt war die Stadt in der die Kaufhäuser brannten und in der Adorno gelehrt hatte.
In Frankfurt stand ich jeden Samstag am Eisernen Steg, umwabert vom Gestank des, im Brückenkopf befindlichen, öffentlichen Pissoirs.
Von dort beobachtete ich das Treiben auf dem Flohmarkt.
In den Pissegestank mischte sich der Geruch von Bier, Räucherstäbchen, dem Naphtalin von Mottenkugeln, Patchouli- und Vanilleöl. Muff.
Kahlgeschorene, in Rot gewandete Hare Krishnas defilierten singend und trommelnd das Mainufer auf und ab.
Wir kifften, tranken Bier und klauten Lederjacken.
Ohne Helm rasten wir mit dem Motorrad durch die Stadt, immer auf der Jagd nach unserem Schatten.

Hare hare, rama rama

Unsere Abende verbrachten wir im Elfer oder in der Batschkapp. Öfters im Theater am Turm, im Cookies oder dem Morrison.
Manchmal auch im fabelhaften Sinkkasten, oder im Höhenkoller, die es inzwischen beide nicht mehr gibt.
Wir besuchten Konzerte und für die ganz großen fälschten wir Eintrittskarten. Trotz unseres Dilettantismus wurden wir niemals erwischt. Man hätte glauben können, dass jemand in dieser Zeit seine schützende Hand über mich hielt.

Lou Reed, The Cure, Dinosaur Jr.

Mit T. betrank ich mich im Dr. Feelgood, einer Eckkneipe auf der Berger Straße, wo er anschreiben lassen konnte. Zu Monatsbeginn, wenn die Stütze kam, zahlte er zuerst die Miete und beglich dann seine Trinkschulden. Von dem was übrig blieb kaufte er sich ein paar Platten.
T. liebte Jimmy Hendrix.
In seiner Wohnung hingen schwarz-weiß Poster mit nackten, gefesselten Frauen von deren Haut Sperma tropfte. Ich bin  nicht sicher, ob er, oder sein ewig stinkender Mitbewohner sie angepint hatte.
T. jedenfalls schienen sie überhaupt nicht zu interessieren.
Von Bondage war nie die Rede, und auch sonst war er, abgesehen von seinem Alkoholismus, ein bodenständiger Typ, dessen Berufswunsch das Betreiben einer Ziegenkäsefarm in Frankreich war.
Ziegen mochten wir beide.
Kennen gelernt hatten wir uns beim Trampen.
Ich hatte den vollkommen Betrunkenen vor der Batschkapp aufgelesen und nach Hause gebracht. Im Auto, vor seiner Haustüre versuchte er mich zu küssen, was ich  abwehren konnte.
Am nächsten Tag rief ich ihn unter der Nummer, die er mir beim Aussteigen in die Staubschicht auf meinem Auto gemalt hatte an. Die nächsten Monate verbrachten wir zusammen.
Im Haus schräg gegenüber von T. wohnten Terroristen. Sie flogen auf, als sich beim Reinigen einer Pistole ein Schuss löste.
Gerne hätten wir sie kennen gelernt. Wir träumten davon jemanden zu entführen und viel Lösegeld zu erpressen. Ehrensache, dass wir niemandem ein Haar gekrümmt hätten.

Baader-Meinhoff fanden wir grundsätzlich gut, das Töten allerdings erschien mir unnötig.
Erschrecken, erpressen und bedrohen musste doch reichen.
Eine Zeit lang überlegte ich, ob ich nicht meinen Großvater für eine Entführung zur Verfügung stellen sollte. Immerhin war er Bankdirektor und verpfeifen würde er uns später ganz sicher nicht.
Die Idee war uns durch die gründlich missglückte Entführung Pontos gekommen.
Extreme Antriebsarmut und unsere allumfassende pazifistische Grundhaltung liess uns den halbgaren Plan jedoch bald verwerfen.

Let´s drink to the hard-working people

Mein Großvater zog nach Pontos Tod in die Schweiz, wo er sich sicherer fühlte.
In seinen letzten Jahren besuchte er heimlich das Casino und verpulverte dort seine Kohle, bis ihm meine Großmutter auf die Schliche kam.
Wahrscheinlich hätte er an einer richtigen Räuber-und-Gendarm-Posse seine helle Freude gehabt. Solange das Essen gut war.
Ich mochte ihn sehr, den alten Genießer.

An manchen Wochenenden fuhren wir in den Taunus, flackten uns auf eine Wiese und erlebten die stadtnahe Natur im psychedelischen Vollrausch.
Einer hatte seine trächtige Hündin dabei. Zum ersten und bis heute letzten Mal erlebte ich die Geburt von Tierkindern.

English: Puppies in a bin.

Es war großartig. Unglaublich und zugleich so selbstverständlich.
Alle Anwesenden fühlten sich durch dieses gemeinsame Erlebnis zutiefst verbunden.

Liebe, Liebe, Liebe, hing über dem Wald von Oberursel.

Erst am nächsten Tag, nachdem wir wieder halbwegs bei Sinnen waren, fuhren wir, zusammen mit 8 Hundewelpen zurück in die Stadt.
Das Auto meiner Eltern war nach dem Ausflug ziemlich ramponiert. Die Benzinwanne war bei nächtlicher Geländefahrt eingedrückt worden, eine Zierleiste abgerissen und die Beifahrerseite verkratzt. Ich staune bis heute, wie entspannt mein Vater meinen Lebensstil ertrug und mir stets zugewandt und mit stoischem Gleichmut begegnete. Manchmal allerdings rief er mir gute Ratschläge oder Gefahrenwarnungen hinterher, wenn ich das Haus verließ.
Irgendwann musste ich ein paar Termine bei einer Psychologin von der Drogenberatung wahrnehmen. Eine nette Frau, mit altmodisch hochgesteckten Haaren, die am Stock ging, einen Klumpfuss hatte und hautfarbene, orthopädische Lederschuhe trug. Wir quatschten über dies und das, bis ich keine Lust mehr hatte mein schillerndes Leben in düsteren Farben zu malen.
Auf dem Nachhauseweg kaufte ich in der Taunusanlage Cannabis. In der B-Ebene der U-Bahn dann sah ich zum ersten Mal einen Toten. Er hatte die Nadel noch im Arm. Den letzten Termin bei der Psychologin schwänzte ich. Sie rief bei meinen Eltern an, was außer halbherziger Schelte folgenlos blieb.
Ängstlich und besorgt wurde mein Vater übrigens erst, als die schlimmsten Zeiten überstanden waren.

Der Reiter und der Bodensee

Studieren wollten wir nie. Lieber reisen und frei sein.
Vielleicht Fremdsprachenkorrespondentin werden.
Am besten learning by doing.
Sprache als Tor zur Welt.
Auf jeden Fall alles mitnehmen. Drogen, Sex, Musik.

Ian Dury

Bemerkenswert, dass wir fast alle noch die Kurve gekriegt haben.

English: mushrooms Deutsch: Pilze

Ein paar allerdings gingen als Drogentote in die Statistik ein.
Einen von ihnen hat mein Onkel, der Pfarrer beerdigt.

Frankfurt musste ich dann irgendwann verlassen.
Ich suchte mein Glück, erst in die Enge der unterfränkischen Metropole, dann in dem Häusermeer der Hauptstadt. Nach Frankfurt zieht es mich inzwischen wieder gewaltig.
Dort leben noch immer Vater und Schwester.

Die Schwester hat gerade Geburtstag und zu diesem Anlass bin ich in den ICE gestiegen, um den Tag mit ihr zu begehen. Viele ihrer alten Freunde waren zu Besuch.
Manche hatte ich seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen.
Allen scheint es gut zu gehen.
Die Hunde waren, wie immer, dabei.

Aber das ist eine andere Geschichte.

New Rose

Cassette

Cassette (Photo credit: jesstherese)

Der Erzieher der benachbarten Kita hat solange „Du Feinäähhh, Feinääääähhh !“ gekräht, wenn er meiner Katze ansichtig wurde, bis ich anfing ihn im Privatkreis nachzuäffen und sie ebenso zu betiteln.

Irgendwann, unbemerkt, wich die Ironie der Gewohnheit und eines Tages stellte ich fest, dass ich nun ebenso schwachsinnig wie Erzieher U. zu dem Kätzchen flötete.

So hielten im Laufe des Lebens immer wieder, ursprünglich abgelehnte und verspottete Redensarten, Spleens oder auch Schlagerphrasen Einzug in das Inventar meines Habitus.
Habitusses

Eine Professorin beispielsweise, hatte die Angewohnheit uns mit besonders jugendlichem Slang beeindrucken zu wollen, vergriff sich aber dabei regelmäßig im Soziolekt, wenn sie uns in Ihrer Begeisterung für etwas mit dem Wort Stark! oder Total stark! anstecken wollte, was bei mir den Zustand des Fremdschämens auslöste.
Natürlich benutzten wir das kernig intonierte
Stark! zu Semesterende mit einer Selbstverständlichkeit, die ihre Ausdrucksweise retrospektiv zum Volltreffer machte, und mich im uneingeweihten Umfeld als hoffnungslos verblödet dastehen ließ.

Die Tage schickte mir mein Bruder eine Musikdatei, die ich nichtsahnend öffnete und die mich sehr erfreute.
Achim Reichel mit
Boxer Kutte.
Wie konnte es dazu kommen?

Ich wohnte noch bei meinen Eltern, lümmelte auf dem Bett herum, als ich plötzlich einen Schrei aus dem Nebenzimmer höre.
Kurz darauf fliegt die Türe auf und mein Bruder stürzt herein.

-WAS HAST DU GEMACHT!!!,  brüllt er und starrt mich wütend an.

-Was´n jetzt los?, denke ich.

-HIER! HÖR DIR DAS AN! VERDAMMTE SCHEISSE!!!

Er legt eine Cassette in meine Anlage und drückt auf Start.
Ich erkenne einen Song von
The Damned und zucke innerlich mit den Achseln. Was hat er denn?
Der schnelle Beat wird jäh unterbrochen von eine Frauenstimme, die säuselnd deutsch-schlagert:

Und du bist immer wieder aufgestanden,
du hast so oft ganz neu angefangen,
dass du geweint hast ist wahrscheinlich,
doch starke Frauen weinen heimlich.

Dann setzen The Damned wieder ein.
Als ich zu einer Erklärung aushole, wird der Gesang Dave Vanians erneut unterbrochen.
Dieses Mal von einer kopfig-tremolierenden Männerstimme im Grönemeyer-Stakkato.

Kutte lernt das Boxen für’n Appel und ’n Ei
Er ist hart im Nehmen und mit Herz dabei

Boxer gehn oft in die Knie
blaue Augen zahlen drauf;
Meister komm’n und gehen
aber Kutte steht wieder auf.

Beim Testen des neuen Receivers hatte ich unbemerkt diese beiden Schlagerfetzen in das Lieblingstape meines Bruders eingefügt, das er in mühseliger Fleißarbeit aus eigenen und geliehenen Schallplatten (!) aufgenommen hatte.
Hüsker Dü, The Cramps, Dinosaur Jr., Henry Rollins, The Damned, The Fall, Pixies
R. liebte diese Cassette so sehr, dass er sie trotz der grauenhaften Unterbrechungen weiter hoch und runter hörte, um mir regelmäßig Vorhaltungen über die ruinierte Sequenz zu machen.
Irgendwann allerdings hatte er sich so an den Schlagerschrott gewöhnt, dass er ihn, ironisch und Luftgitarre spielend, in Punk-Manier mitgrölte.
Noch später zitierten wir ihn fröhlich, wann immer es im Alltag um Stärke, Kämpfe, Niederlagen und Heldentum ging.
Lange Zeit danach gab die Cassette dann den Geist auf.
Kutte und die starken Frauen blieben für immer eingebrannt in den Langzeitspeicher unserer Hirne.