known as tikerscherk

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Ich möchte nicht länger tikerscherk sein. Ich bin es nicht.
tikerscherk war eine defekte Leuchtreklame, ein Zauberwort, ein Hoffnungsfunke.
Ich bin nicht mehr der Mensch, der vor gut 5 Jahren angefangen hat unter diesem Namen zu schreiben.
tikerscherk war eine Andere als ich.
Sie trat kurz nach der Jahrtausendwende in mein Leben und begleitete mich die nächsten Jahre auf vielfältige Weise.

Damals fuhr ich täglich von meiner Arbeitsstelle in Berlin Marzahn mit dem Auto zurück nach Kreuzberg. Den größten Teil der Strecke bretterte ich mit stierem Tunnelblick immer geradeaus. Alle paar hundert Meter änderte sich der Straßenname, die Richtung blieb die gleiche. Ganz am Ende der Allee erahnte oder erhoffte man den Fernsehturm. Kurz davor würde ich links auf die erlösende Zielgerade abbiegen.

Ich fuhr und fuhr, die Zeit dehnte sich, sie zog sich und ich kam und kam, den Fuß auf dem Gaspedal, nicht an.

/ Hier ein Mac Paper, daneben das Standesamt, in dem der Argentinier (Toni Tolengho known as Toni Takitani) die Trapezkünstlerin geheiratet hatte, damals, als noch Osten war und sie raus wollte aus ihrem Land.

/ Dort, in der Scharnweberstraße, wohnte die Aubergine, dessen Haut so verführerisch glatt und wertvoll erschien und so nichtssagend und unbedeutend war, als ich sie berührte.

/ An dieser Stelle hatte ich Tom mit dem Auto abgesetzt, ihn in sein Leben entlassen. Wir haben uns danach nie wieder gesehen. Auf rätselhafte und unausgespochene Weise hörten unsere Kreise an jenem Tag auf sich zu überschneiden.

/ Bei der Sparkasse dahinten traf ich zufällig meinen Bruder. Mit einem wortlosen Kopfnicken ging er an mir vorbei.

Bilder.

/ Auf einem sehe ich die Straßenbahn, wie sie, vom Bersarinplatz kommend, quietschend die Petersburger herunterrollt, auf mich zu, laut und steifhüftig und sperrig, eine gewaltige Kuh mit viel zu kleinen Hufen. Ich stehe auf den Gleisen und schaue ihr entgegen, doch sie kommt nicht näher, sie rattert und schnaubt und steht in der Bewegung.

Travelling without moving

Erst, als ich von den Schienen trete, durchbricht sie die unsichtbare Grenze des Zeitlochs, des Vakuums in dem sie gefangen war, wie in einer sich immer weiter ausdehnenden Blase, in deren Inneren es kein Vorwärts und aus deren Mitte es kein Entkommen gibt. Ich spüre die Druckwelle, den Windstoß im Nacken, als sie die unsichtbare Wand durchstößt und laut donnernd und kreischend mit tausend Hufen an mir vorbeijagt. Ein Lastwagen, der die Autobahn mit aufgeblähter Plane in Schräglage durchpflügt (der wuchtigen Galeone auf Sturmkurs gleich, welche vor 307 Jahren vor der Küste Kolumbiens unterging und heute, im Jahr 2015, drei Jahrhunderte später, durch den sagenhaften Schatz, den ihr Bauch beherbergen soll, die gesamten Schulden eines Landes wird tilgen können,
Neben den Goldstücken und Edelsteinen ruhen die Knochen von 600 Seeleuten).

Ich fahre von meiner Arbeit zurück, immer geradeaus, die große Ost-West-Achse entlang, sammle Erinnerungen und Bilder ein, entkomme im Geiste nur knapp der Trambahn, der Boulevard weitet sich, öffnet sich zu acht Spuren, auf dem Mittelstreifen große Werbetafeln für die Abgeordnetenwahl. Neben das grinsende Gesicht Frank Steffels, dessen Familie Heimtextilien und Bodenbeläge vertreibt, hat jemand Bin TeppichLaden gekritzelt. Die Anschläge vom 11. September liegen nur wenige Wochen zurück.

Jetzt kreuze ich endlich die Straße der Pariser Kommune, weit ist es nicht mehr, hier schon die Steinschnecke auf dem Mittelstreifen, gleich ist es soweit, gleich erreiche ich das rettende Tor, da ist es, ich kann es sehen, noch 200 Meter, ich setze den Blinker, grüne Welle, aus dem Lautsprecher heult Nelly Furtado, ich stelle sie leiser, der Himmel ist mattrosa, im Westen geht die Sonne unter, jetzt wird alles gut werden.

Über dem Tor zur Freiheit steht

TIKER SCHER   G

ich biege ab, es ist geschafft.

37 Kommentare zu “known as tikerscherk

  1. Nun denn, hab Dank
    für Vieles,
    tikerscherk.

    Ƹ̵̡Ӝ̵̨̄Ʒ

    Ein Willkommen scheint mir nicht recht zu passen, also belasse ich es dabei meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß Sie die geneigte Leserschaft auch fürderhin mit Ihren Zeilen inspirieren und bezaubern werden.

    S.

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  2. Ich verstehe das. Der Teil von uns, der die jeweilige Internetexistenz ausmacht, führt nach einiger Zeit ein seltsames Eigenleben und ragt dreist ins reale Leben hinein. Wie lautete denn jetzt die komplette Leuchtreklame und weißt du schon, unter welchem Namen du demnächst hier auftreten wirst?

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  3. Es gibt eine Geschichte zu diesem Problem. Das ist ein Zufall jetzt. Diese Geschichte war gerade da. Vielleicht ist sie ja für Dich etwas hilfreich. Wenn Du magst kannst Du im Fett/Anthrazit Blog nachsehen. Sie heißt ‚Der Bär, der nicht da war‘ und stammt von Oren Lavie.

    Gruß mick.

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  4. So einen Internetidentitätstext an diesem besonderen Abend- für mich weniger- zu lesen, hat mir sehr gefallen! Ich blogge schon sehr lange. Vor der Wildgans gab es „Hobowoman“ und „Ludovika“ – beides war ich plötzlich nicht mehr, habe ohne Weh und Ach den Löschknopf betätigt – so werde ich es auch irgendwann mit der Wildgans tun. Wenn`s denn an der Zeit ist – ich werde es spüren.
    Du spürst auch was – bin gespannt!
    Sonja

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    • Interessante Namen hast Du Dir da gewählt und auch wieder abgewählt.
      Ohne Weh und Ach wird´s bei mir nicht gehen, das wäre nicht ich.
      Vielleicht muss ich mich auch erst einmal nur von tikerscherk entfernen, wie von einem Kosenamen der Kindheit, der dann, auf abgeklärte Art und Weise, wieder benutzt werden kann, sozusagen als Erinnerung oder als Zitat.

      Dieser Text brachte mir als ersten privaten Kommentar ein, dass er sehr tikerscherk sei. Vielleicht stimmt das und ich möchte einfach nur wachsen. Das habe ich mit meinem Klarnamen ja auch geschafft, möglicherweise können tikerscherk und ich ein Team bleiben. Wer weiß.

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  5. Ich sage und wünsche hier einfach mal spätnächtens ambivalentresistente Frohe Weihnachten im wahrsten aller Sinne und freue mich, dass noch jemand Anderes außer mir auch mal an die 600 seinerzeit Ertrunkenen gedacht hat in den letzten paar Wochen und sich zudem an die Plakate des Bin Teppich Laden erinnert. Wo und wie auch immer, ganz egal, aber bitte erhalten bleiben, liebe Tikerscherk, ohne Sie lässt sich ein Waldrand (u.v.a.) nicht aushalten. Sehr herzlich!

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    • Herzlichen Dank für die warmen Worte, lieber Schneck!
      Ich möchte nicht verschwinden, ich möchte nur nicht mehr Pippi oder Lotta sein. Vielleicht gelingt es mir tikerscherk neu zu besetzen, wenn nicht warte ich auf Eingebung, und nenne mich dann iregndwann Chantalle oder Yvette.

      An die 600 Ertrunkenen denke ich oft.
      Die Titanic wurde zum Grab erklärt, die San José ist viel zu wertvoll für solche Sentimentalitäten. Naja.

      Schöne Weihnachtsfeiertage auch Ihnen. Ich bin gespannt wer da am Jahresanfang bei Ihnen einziehen wird (ein großes Herz haben Sie und die Köchin und die alte Dame!).

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    • Weil der Name so enstanden ist, muss ich ihn übrigens auch klein schreiben.Er fängt ja mitten im Wort an.

      Ich bleibe auf jeden Fall, bei so lieber Blog-Nachbarschaft ist das ganz leicht.
      Herzliche Grüße nach Hamburg!

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  6. Sehr kraftvoll. Bevor ich dergl wurde (was eigentlich nur aus dem Kontext in dem die Fädenrisse entstanden sind entsprungen ist, die dergln sind ein Volk der Augsburger Puppenkiste und kommunizieren nur über dieses eine Wort und ich wollte wieder lernen Sätze zu bilden) habe ich, wenn ich irgendwo kommentierte meistens die letzten drei Buchstaben meines Rufnamens benutzt. Zum Teil tue ich das noch heute, wenn das Blog und meins sich thematisch sehr unterscheiden oder der Autor mich nur unter dem anderen Namen kennt. Die meisten Leute glauben, es ist mein Name. Wenn einer den ersten Buchstaben verschluckt, von dem wie ich gerufen werde, wenn ich mich denn mit einem Vornamen vorstelle, dann kommt eben der raus. Auch nicht schlimm. Mir ging irgendwann auf, dass das sogar ziemlich gut ist [Ich könnte allein damit meine Kunstlehrerin drankriegen, weil das ein System ist wie bei den Imis und einer davon war Meisterschüler bei Beuys, das fiel mir irgendwann beim Spülen ein.], aber ich wollte es irgendwie nicht für mein eigenes Blog. Auch meinen eigentlichen Rufnamen, eine Kurzform meines Namens nicht. Ich hatte ein diffuses Gefühl, das passt nicht. Es hat mich nicht getrügt. Derzeit passt dergl, weil es auch in den Kontext passt. Ich war aber auch schon, damals als Co-Autorin woanders in einem thematisch ganz anderem Blog Aurora. Das hat mit meinem Vornamen nichts zu tun, und passte aber damals in der Lebenssituation trotzdem so, dass ich damit eine Identifikation hatte. Das kam durch einen Bezug zu „True Faith“ von New Order. Ich habe für die Fädenrisse nicht eine Sekunde drüber nachgedacht dieses Pseudonym wiederzubeleben, da es einfach nicht mehr passt. Ich mache da jetzt was komplett anderes als damals und entsprechend änderte sich auch meine Identifikation. Mit Aurora könnte ich mich trotzdem dass es den Bezug noch immer gut nicht mehr identifizieren, das wäre nicht mehr ICH.

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    • Bei dergl muss ich immer an „dergleichen“, bzw an ein Blog denken, das „Eichen und dergl.“ hieß. Vielleicht gelingt es mir die Assoziation mit der Zeit zu überschreiben.
      Hatte bei Dir drüben ja schon gelesen, wie Du zu Deinem Namen kamst. So wählen wir uns alle den Namen, der zu uns passt und gehört, solange bis wir ihn abstreifen. Auch das mag ich am Bloggen- die Freiheit seine Identität nach Lust und Laune zu gestalten.

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      • „dergleichen“ ist doch auch schön als Wortspiel. Ich habe irgendwann aus Neugierde „dergl“ in eine Suchmaschine eingegeben weil ich wissen wollte ob man damit auf einen Artikel zu dem Spiel kommt und das Erstgezeigte war stattdessen „dergleichen“. Auch nicht schlecht.

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  7. fröhliche zeiten und besinnliche tage.

    meine idendiität als kalypso……die verbannte göttin aus „fluch der karibik“.

    habe mir erst die tage wieder alle 4 teile gegönnt.

    ach – was habe ich gelacht, geträumt und mich amüsiert.

    so eine hafenspelunke, wo wir alle tabus hinter uns lassen können…..
    die freiheit als die zu sein, die wir sein können…..
    liebe, verrat, freundschaft – wie sagte alexis sorbas…..
    das ganze verrückte spiel!

    ein wunderbares spektakel – und eine sehnsucht……..

    als cineastin kann ich mich nur darnieder knien, und voller erfurcht die filmemacher und dem rest der crew danken! und natürlich dem schreiber – ohne worte keine story

    wer wir sind?

    tja – das ist die frage, die schon immer gestellt wurde.

    was bist du hinter deinem namen, hinter deinem ich?
    nun, ein selbstbestimmter mensch, der im SEIN existiert.
    vom haben zum sein!

    namen – und hier fällt mir „dead man“ ein……..william blake –

    ich bin niemand!

    my name is nobody :-)

    oder auch „alice im wunderland“.

    ach, geschichten sind was wunderbares.

    was machen sie mit uns……………sie berrühren unsere innerstes!

    und genau dazu sind sie da!

    auf zu neuen ufern……………den horizont entdecken – seine alten muster hinter sich zu lassen…………..alte zöpfe abschneiden…………..mut und kraft dieses leben zu wagen! sichtweisen verändern – sich einlassen in den fluss. ohne widerstand.

    JA zu sagen – zu allem was kommt. eine bedingunglose hingabe ins jetzt.

    herzlichst*

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    • Ein Kaleidoskop an Einfällen und Erinnerungen.
      Ich dachte immer Kalypso wäre die Frau an Odysseus Seite gewesen, jene neben Penelope. Dass Dich der Fluch der Karibik zu der Namenswahl angeregt hat, ahnte ich nicht. Ich bin aber auch keine solche Cineastin wie Du.

      Bedingungslose Hingabe ins Jetzt ist ein hohes Ziel. ich versuchs mal.

      Schöne Feiertage Dir.

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      • und ich habe mal aus deinen zeilen herausgelesen…….du bist ein kleines mathe-as!

        ein filmtip – ich schreibe immer noch gerne die alte schreibweise…..
        tip – mit einem p……..hehehe….

        „oxford murders“ – hat auch was mit wittgenstein und seiner abhandlung zu tun…..spannend!

        krimi plus enigma

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  8. Das verstehe ich. Bestens.

    Mir waren die Projekt=Blog=Nick=Namen stets Totem/ Krafttier.
    Athanor. Vingolf. Falkin. Sogar KaosKobra.

    Und wie eine Schlange transformierte und häutete ich. Mich. Die dazugehörige Plattform hat es nie überstehen, können, sollen. Wurden zu klein. Zu unstimmig. Für das Neue. Wie alte Häute blieben sie zurück, zerfielen. Blass. Fahl. Nur in mir bewahrt. Als erInnerung. Und Puzzlesteil der virtuellen Neu-Inkarnation.

    Umso schöner, wenn der Ihrige Blog ihre Transformation er-trägt und wir dabei sein dürfen. Das hat etwas von Geburts-Helferin – und -Zeugin.

    Zur Weihnachtszeit inkarnierten traditionell die Sonnenkönige. Vollkommen richtig und längst überfällig: jetzt ist es beste Zeit für eine Königin. Also: herzlich willkommen, auch im neuen Gewand…

    mit liebem Gruß
    und herzlichen Wünschen für besinnliche Feiertage (gehabt zu haben)

    Ihre Halbwaisin aus dem brandenburgischen Morgenland:
    Nana vom See

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  9. guten abend meine liebe,

    ich möchte die an mich gerichtete anfrage – deren antwort stony vorweg genommen hat- zustimmen! :-)

    herzlichst*

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  10. Sind wir nicht alle mehrere? Auch wenn ich nicht mehr ganz so regelmäßig hier lese, würde meinem persönlichen Internet etwas Vertrautes fehlen. Ich hoffe, ich habe richtig herausgelesen, dass du weiter schreibst. Danke dafür.

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  11. Wer du auch immer gedenkst zu sein / mache es so wie es dir passt / ich denke oft für den schreibenden und malenden gibt es ich und ich / das Autoren ich und den anderen / und am ende wird es dennoch immer ein Geheimnis bleiben & das ist gut so.
    Wie auch immer / deine Texte sind stark und vermögen mich zu bannen. Danke. L.

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