Tourette

Meine Augen zur Zeit der Erscheinungen

Meine Augen zur Zeit der Erscheinungen (Photo credit: Wikipedia)

Da ich als Kind ständig Grimassen schnitt, und auch gerne mithilfe meines bescheidenen Schimpfwortkataloges fluchte, bat mich mein Großvater, der Pfarrer, eines Tages in sein Arbeitszimmer.
Das Fluchen, wie auch die Grimassen wären etwas, so erklärte er mir, das überhaupt nicht zu einem kleinen Mädchen passte.
Ich solle doch bitte versuchen es mir abzugewöhnen, weil andere Menschen sich daran störten.
Als Anreiz, versprach er mir 1 Mark, sollte ich einen ganzen Tag, bis zum Schlafengehen durchhalten.
Ich war acht Jahre alt, die Sommerferien lagen vor mir, und ich war bei meinen Großeltern zu Besuch. 300 km von Eltern und Geschwistern entfernt.
Meine Großeltern hielten jeden Tag Mittagsschlaf, derweil ich mich im Garten zu Tode langweilte und Johannisbeeren von den Sträuchern pflückte. Bis mir schlecht war, ich mich rücklings auf den Rasen legte und so laut sang wie ich konnte,  in der Hoffnung meine Familie würde mich hören und abholen kommen.
Wenigstens weckte ich mit dem Gesinge meine Großeltern, die mir zur Aufmunterung Kakao und Kuchen servierten und mir zu meiner Beschäftigung Papier und Buntstifte aus der großen Schublade des Küchentisches fischten.
Mein Großvater zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, während meine Großmutter Bohnen schnippelte und ich vor mich hin kritzelte.
Je länger ich da saß, umso nervöser wurde ich.
Ich biss mir auf die Lippen und zappelte mit den Füßen, bis meine Großmutter mich bat damit aufzuhören, weil es sie störte.
Ein Bild später hielt ich es nicht mehr aus.
Ich stand auf, verließ die Küche und flüchtete in den Garten hinter die Stachelbeersträucher, wo ich das Gesicht zu maximalen Grimassen verzerrte und fast unhörbar fluchte.

Scheißekackepipiarschlochmüll!

Anschließend ging ich wieder ins Haus, setzte mich an den Tisch und malte weiter.
Beim Abendessen fragte mein Großvater, wie denn der Tag für mich gewesen sei, und ob ich wirklich nicht geflucht oder grimassiert hätte. Dabei schaute er mir ernst in die Augen, was mich so einschüchterte, dass ich mit zitterndem Kinn ein Geständnis ablegte.

Doch, ich habe Grimassen geschnitten. Aber nur ein Mal. Hinter den Stachelbeersträuchern.

Ich fühlte ich mich erleichtert. Irgendwie wog meine Ehrlichkeit doch meinen kleinen, unbedeutenden Fehltritt wieder auf, fand ich.
Mein Großvater war anderer Meinung. Er zeigte sich sehr enttäuscht und konnte mir leider meine sauer verdiente Belohnung nicht aushändigen.

Alles vergebens. Verfluchte Scheiße!

4 Kommentare zu “Tourette

  1. Nimm`s mir nicht übel, ts, ich hab mich bestens amüsiert bei der Vorstellung wie du da mit verzerrtem Gesicht und nach den schlimmsen Schimpfwörtern suchend, hinter dem Stachelbeerbusch kauerst … ;-)
    Deine Geschichte macht Lust, mal in eigenen Kindheitserinnerungen zu kramen!

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  2. :-)
    Zum Glück kannte ich nur ziemlich harmlose Schimpfwörter damals.
    Auch wenn er hier pädagogisch daneben gegriffen hat, war mein Großvater übrigens ein ganz toller Mann!

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