Jonglieren

Wie offenbart man sich, ohne um Liebe oder Mitleid zu bitten?

Margo Jefferson



Ich kann wieder lesen. Ganze Romane und nicht bloß Ausschnitte oder einzelne Kapitel.
Die damit einhergehende Social- Media-Enthaltsamkeit lässt den Dritten Weltkrieg und andere pulstreibende Schlagworte in die Ferne rücken. Eine Fata Morgana irgendwo, aber nicht hier in Bullerbü.

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Das Finanzamt Frankfurt schreibt an uns Abkömmlinge.
Der Anwalt schickt Mails, deren Inhalt ich nicht verstehe.
Die Bremsen des Autos sind eingerostet.
Der Unterfranke züchtet Würmer in einer Kiste auf dem Balkon.
Wokileins IBD ist aufgeflammt. Blutiger Kot und gereiztes Gekläffe.
Der Besuchshund ist im Stadium C der Herzerkrankung angelangt. Bei D ist Sense.
Ob der Krebs zurück ist, ist nicht sicher. Die Wahrscheinlichkeit liegt über 90 %.
Das demente Tölchen bellt in der Nacht. Die ebenso entrückte Tigerin schreit im Chor dazu und nutzt das Katzenklo nicht mehr.
Jeden Morgen die gleiche Sauerei in der Küche, im Flur, im Arbeitszimmer.

Wie ein altmodischer Jongleur, der zwischen einer Reihe Tellern auf kreisenden Stäben hin und her hastet, tue ich alles, um die mir anvertrauten, kleinen Seelen am Leben zu halten.
Auf Dauer werde ich diese Gangart nicht durchhalten können.

Die neue Vermieterin spricht mich auf der Straße auf mein hohlwangiges Aussehen an. Ob es mir gut ginge. Man mache sich Sorgen um mich.
Ich kämpfe mit den Tränen und entschuldige mich dafür.

Die Vogelfutterreste wachsen zu Sonnenblumen heran. Die Spatzen hängen schaukelnd an den hohen Bambushalmen. Auf den Frühling ist Verlass.



Der Anblick meines greisen Tölchens mit den dünnen Beinen, den eingefallenen Lenden und dem unberatenen Blick aus großen Augen lässt mich an den Kanzler in seinen letzten Wochen denken. An die blauen Windelhosen, den Zimmernachbarn Herrn H, die Hitze in dem kleinen Bad, den flirrenden Spätsommertag, die Schwestern-Pizza auf dem verwilderten Parkplatz.

Wie der Kanzler im Rollstuhl sitzt ohne Fußstützen und in ausgetretenen Schuhen und wie die Malerin dem klapperdürren großen Mann zuvor in die Hosen hilft auf mein Drängen hin, gemeinsam ins Freie zu gehen, wo er doch nur schlafen will und sich wundert ob ich mit der Alpenbahn gekommen bin und wieso ich in Berlin und nicht länger in Murnau lebe.
Was die Mama dazu sagt, fragt er mehr sich als uns und ich gehe hinaus in den Gang, die Tür seines Zimmers steht offen, und in lockerem Plauderton frage ich dort meine verstorbene Mutter ob es in Ordnung sei, wenn wir Schwestern eine kleine Runde mit unserem Vater drehen. Sie sagt ja.
Und draußen vor der Klinik, das inzwischen lauwarme Grapefruit-Getränk in der Hand, lehnt der Kanzler sich zu meiner Schwester hin und raunt ihr ins Ohr, er sei jetzt Teil des Klinikteams und auf ihr gespieltes Erstaunen lächelt er verschwörerisch und sagt: ich mache nicht mehr viel, ich berate nur.

Veneers

Die ersten längeren Spaziergänge des Jahres führen mich aus der Luisenstadt ins nahegelegene Mitte. Die Köpenicker Straße ist inzwischen fast vollständig gentrifiziert. Nur die besetzte Köpi, die letzte Amalgamfüllung im ansonsten perfekt verblendeten Gebiss und der schrabbelige Wurstpate (Wurstparte) halten sich wacker. Gleich neben der planenverhangenen Fressbude haben Privatiers sich einen neo-brutalistischen Klotz mit bodentiefen Fensterfronten errichtet. Drei übereinander gestapelte Showrooms für Designklassiker in denen stilvolle Menschen selbstbewusst und konzentriert an ihren Apfel-Geräten sitzen und networken.

An der Michaelkirchbrücke, ein Stück weiter, verstellen neu gebaute
Eigentumswohnungen den Sonnenstrahlen den Weg ans abendliche Ufer, und den Bewohnerinnen und Besuchern des Spreefeld den Blick auf´s Rote Rathaus.
Goldene Tagesausklänge mit Kater Blau, Le Dorf und den ratternden Zügen der S-Bahn vis à vis, dazwischen die großen weichen Wellen vorbeischippernder Boote von deren Deck Sommermusik in den weiten Himmel dudelt, hier und da die krächzenden Rufe eines einzelnen Blässhuhns, sind damit Geschichte und ich werde mir ein neues Sujet für meine Berlin-Elegie suchen müssen.
Ob wohl das niederländische Paar mit dem supernoblen Appartment direkt an der Spree, beide in ihren Vierzigern, er schwarz gekleidet, sie in Cowboystiefeln und luftigen, knöchellangen Designkleidern, auch schon weiter gezogen ist?
Kurz nach ihrem Einzug hatten sie elegante, metallene Gartenmöbel, flankiert von amphorenartige Pflanztöpfen mit exotisch anmutenden, großblättrigen Pflanzen vor ihrer Terrassentür aufgestellt, deren Pflege sie jedoch mit der Zeit aufgaben, bis nur noch Gestrüpp übrig blieb, trocken wie der märkische Sandboden. Irgendwann blieben die Vorhänge der Wohnung durchgehend zugezogen und drinnen bellten mit tiefer Stimme ihre zwei großen Hunde.
Nur noch selten begegneten wir uns draußen im hellen Tageslicht. Dann grüßten sie mich freundlich, die Pupillen ihrer Augen stecknadelgroß.

Hip Hop

Wenn ich an mich selbst denke, als Bild, sehe ich mich unter einer Betonbrücke mit massiven, kantigen Pfeilern stehen, der Boden sandig, weiches Licht fällt von der Seite ein. Es ist kurz nach der Jahrtausendwende und ich bin übertrieben sportlich gekleidet: eine violette Cargo-Hose aus Ballonseide, an den Knöcheln geschnürt, ein violett-weißer Blouson darüber, dazu klobige weiße Sneaker. Meine Haare sind kraus statt wellig, ich lache ein Zukunftslachen mit allen Zähnen und meine Hände formen mit ausgestreckten Armen eine Hip-Hop- Geste. Ich bin also überhaupt nicht Ich.

fade out

Für die Schwester sind es Samstage, für mich die Uhrzeit ihres Anrufes: 19.32.
Jeden Tag um diese Zeit.

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Ehe das lidschäftige Haus verkauft werden kann, muss Ordnung ins Chaos gebracht werden. Wegräumen was im Verborgenen bleiben soll. Sein Ansehen wahren und auch das seiner Lebensgefährtin, an die zu denken, mir unverändert ungute Gefühle macht. Meine Geschwister bleiben in Verbindung mit ihr. Die Kontaktsperre zu unserem Vater betraf allein mich.
Ein seit Generationen wiedergekäuter, dumpfer Refrain, der mit meiner Kinderlosigkeit und mit seinem Tod ausklingt.

Zentrum unseres Systems war immer der kluge, knochenlose, übergeschnappte Kanzler.

Wellen

Die GdL unter der Führung Weselskys kündigt zur Durchsetzung ihrer Forderungen Wellenstreiks an. Hoffen wir, dass der Reiseverkehr an Ostern gewährleistet bleibt und der Bekannte von der Küste in die Hauptstadt wird reisen können. 1. Klasse, hüstel, hüstel.


Auch meine Trauer kommt in Wellen und auf der Postkarte, die ich der Freundin schicke, steht thematisch zumindest halbwegs passend: Wir sind immer noch heiß, es kommt jetzt nur in Wellen. Dabei: Hitzewallungen kämen mir bis zum endgültigen Einzug des Frühlings gerade recht.
Nachts sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Das muss aufhören.


Nach einem melancholisch- schwermütigen End-of -the -world- as-we-know-it-Chat muss ich nach langer Zeit wieder an B like Berlin und seinen Abschiedsbrief vor fast 13 Jahren denken. Er war 55 und als er starb gab es weder Corona noch Trump.
Goldene Zeiten.
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( gestrichen)

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Drei (trei) keimende Kastanien (tres tristes tigres) habe ich auf der gestrigen Hunderunde aufgesammelt und sie später auf der Terrasse eingepflanzt. Ich hoffe, die kleinen Zukunftsbäumchen werden die ersten eisigen Unbillen ihres beginnenden Lebens überstehen und in einer brodelnden Zukunft den Nachgeborenen Schatten spenden.

In einem Wissenschaftspodcast über Trauer höre ich von der Unauslöschbarkeit geliebter Verstorbener in unseren neuronalen Netzwerken und dem daraus resultierenden Gefühl, der Tote müsse jeden Augenblick zurückkehren, so wie er es immer tat.
Trauer verändert gleichzeitig die Strukturen im Gehirn und hat sogar epigenetische Auswirkungen. Wir geben sie an unsere künftigen Kinder weiter.

Am Morgen, die demente Tigerin hat mich mit ihren kehligen Schreien geweckt, swipe ich in meinem Handy herum und versuche, endlich die Notruffunktion auszuschalten, die bei der Eingabe des Zugangscodes am unteren Bildschirmrand erscheint. Mehrmals schon habe ich mich im Halbschlaf vertippt und versehentlich die Polizei angerufen.

Beim Aufräumen des Phones stoße ich außerdem auf meine Notfallkontakte.
Papa steht da.
Ich schaffe es nicht, den Eintrag zu löschen.

Frühlingshügel

Unter dem Terrassenstuhl sprießen die zusammen gekehrten Sonnenblumenkerne.
Die Spatzen drängen sich auf dem Futterteller. Ihr Winterschweigen ist gebrochen: seit einigen Tagen tschilpen und zetern sie wieder.

Die geplante (palliative) Chemotherapie für den Besuchshund konnte verschoben werden. Der Wert des ionisierten Kalziums hat sich überraschenderweise normalisiert.
Morgens und nach dem Aufstehen hustet sie heftig. Bei unseren kurzen Runden bleibt sie bisweilen stehen oder legt sich mitten auf dem Gehweg flach auf den Boden. Ich nehme sie auf den Arm und trage sie ein Stück. Ihr Herz trommelt unter meiner Hand.

Heute vor 12 Wochen starb mein Vater.
Die Trauer ist in mich hinein gesunken wie in ein Moor.