Arcachon

Lili hatten ihre linksliberalen Eltern sie genannt und als das berühmte Foto vor dem Bahnhof entstand, war sie schon nicht mehr mit meinem Bruder liiert. Trotzdem muss ich immer an sie denken, wenn ich eine dunkelgelockte Frau im Trenchcoat sehe, was zugegebenermaßen nicht besonders oft vorkommt, und dann denke ich auch an M. der dieses Bild geschossen hat und an die große Düne in Frankreich und den Geruch von Pinienharz und die Lichtspiele im Sand und an die verliebte B., die glaubte, dass der Beischlaf den M. sie eines Tages lieben lassen würde.

Wenn ich von Süden kommend durch die Adalbertstraße gehe, führt mein Weg an der Tagesklinik vorbei und jedes Mal denke ich an das Kind, die Nichte oder den Neffen oder auch das Neffix, das nicht geboren wurde und ich denke an die Ex-Frau meines Bruders, die inzwischen nur wenige Häuser entfernt lebt, wie mir der Argentinier verraten hat, mit dem sie irgendwann einmal ein Techtel hatte.

An meinen Bruder und seine Frau denke ich ebenso, wenn ich Karlshorst höre und dann sehe ich sie vor mir, wie sie sich im Wohnzimmer des kleinen Häuschens halbnackt auf dem Sofa räkelt und wie des Bruders Mitbewohner sie ermahnt, sich bitte etwas überzuziehen. Der Mitbewohner mit einem Faible für lateinamerikanische Frauen, war jener Mann, der ein überbuchtes Flugzeug nicht nehmen konnte, das dann ohne Überlebende abstürzte und damit im Falle seiner Mitreise dem Namen seiner Frau zu trauriger Gültigkeit verholfen hätte: Soledad.

Inzwischen ist mein Bruder ein gutes Dutzend Mal umgezogen und hat wahrscheinlich halb so oft die Partnerin gewechselt, oder die Partnerinnen ihn. Jetzt wohnt er in einer alten Schule, oder einem Bahnhof irgendwo in Ostdeutschland und seine Hobbies sind Katzen, E-Gitarren und ein alter Sportwagen. Eine nette Freundin hat er auch, so erzählt man. Ich hoffe, es geht ihm gut.

Zuletzt und zum ersten Mal nach langer Zeit gesehen habe ich ihn bei der Beerdigung der Lieblingstante im Winter 2017. Da war sein Haar wieder länger und gewellt und an den Fingern trug er Silberschmuck und um den Hals einen Lederriemen mit silberner Sonnenscheibe oder Maya-Kalender und er war immer noch mein Bruder, auch wenn er mich nur knapp grüßte und nicht mit mir sprach.

Möglicherweise, ich erinnere mich nicht genau, hatte die Schwester an diesem Tag etwas mehr Kontakt zu ihm und hat ihn noch. Doch jeder von uns bleibt eine Boje und mit der Distanz zueinander stecken wir unser Gebiet ab und trotz der vielen Unwetter ist keiner von uns bisher untergegangen und das ist beinahe mehr als man hätte erwarten können als alles begann.

 

 

 

 

 

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10 Kommentare zu “Arcachon

  1. wenn die welt größer wird und die entfernungen auch, dann schwirren selbst nahe verwandte nurmehr wie planeten aneinander vorbei. meine große schwester, die mir schon im alter stets sehr fern war, ist mir nach dem tod der eltern näher gerutscht, weil sie den familienzusammenhalt als ihre aufgabe sah und obendrein altersmilde wurde. davor hatten wir schon den bruder verloren. mit der großen telefoniere ich ca. vierteljährlich, mit der anderen ungefähr einmal im jahr. gesehen habe ich die eine zuletzt vor bald fünf jahren, bei der anderen kann ich es nicht sagen. erstaunlicherweise fühlen sich die telefonate mit ihnen oft an, als hätten wir uns gestern erst getroffen. irgend etwas ist da anscheinend doch.

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