Die Wanja

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Was man alles hätte erreichen können, denke ich, und mein Blick schweift von den Ordnern auf dem Tisch zu den Krähen auf dem Baum.
Wäre ich nur ein bißchen weniger faul, hätte ich nur etwas mehr Durchhaltevermögen, Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis oder wäre wenigstens meine Grundeinstellung materialistischer und ich auf Anhäufung irdischer Güter und das damit verbundene Ansehen bedacht, dann, ja dann hätte wahrscheinlich vieles oder zumindest manches aus mir werden können.
So aber, ist so ziemlich gar nichts aus mir geworden und es tut mir nicht einmal Leid darum, denn mir fehlt tatsächlich jede den Augenblick überdauernde Vision eines anderen Selbst, und jeder Versuch eines alternativen Entwurfes endet in samtvorhangschwerem Glam und Glimmer oder in an Schlichtheit nicht zu überbietender hölzerner Askese, was in etwa einen Eindruck meiner heillosen Ziel- und Perspektivlosigkeit vermittelt.

Manche Leute werden Eisschnellläufer und eilen und gleiten im Kreis herum. Andere schürfen oder schieben virtuelles Geld hin und her, einer reißt Karten ab oder tüftelt und grübelt sich unsichtbare Sachen zusammen, die er in Formeln fasst mit deren Hilfe irgendwann sichtbare Sachen hergestellt werden können.
Der Vater einer Bekannten, ein Mathematiker, hat solange gerechnet und formuliert bis ganz am Ende ein Atomkraftwerk dabei heraus kam, worauf er nicht stolz und worüber er irgendwann sogar sehr traurig war. Im vergangenen Jahr ist er schließlich gestorben und das Atomkraftwerk steht immer noch und niemand kann sagen wie lange das gut geht bis irgendwer durch austretende Strahlung zu Tode kommt. Solche Dinge passieren durchs Denken, es gibt zahllose Beispiele dafür.

Um überhaupt erstmal die Ruhe zu haben, konsequent zu denken, bräuchte es ein gutes Zeitmanagement, überlege ich, während ich eine Handvoll Kaffeebohnen in die Mühle werfe und den Startknopf drücke, dann wüsste man genau wie lange ein Vorgang oder eine Verrichtung im Schnitt dauert, würde die errechneten Zeitspannen aneinanderhängen, ein paar Sicherheitspuffer draufschlagen und sich, sofern man im Zeitplan wäre, alle 4 Stunden eine halbe Stunde Pause gönnen, statt wie bisher jede Stunde 10 Minuten. Falls man schneller war als erwartet, könnte man diesen Zeitgewinn als Guthaben auf ein Zeitkonto packen und würde damit schön viel Freizeit rausschinden, die ich auch so habe, allerdings ohne das Gefühl sie rechtschaffen verdient zu haben.
In jedem Fall wäre alles was man täte 1000 Mal effektiver als jetzt. Die stündlichen Unterbrechungen tun dem Flow nicht gut und fördern nur immer weiter den Müßiggang.
Alle 4 Stunden zu pausieren bedeutete aber auch auf ein Pensum von maximal 3 Cappucini vor 16 Uhr zu kommen, was meinem schwindelerregend niedrigem Blutdruck (85/65) gewiss nicht gut bekäme und meine ohnehin eher flache Leistungskurve nur noch mehr in den Keller drückte.

Mit der annähernden Koffeinkarenz gäbe ich zudem den letzten Pfand, den ich im Falle eines jemals abzulegenden Gelübdes in die Waagschale werfen könnte, um damit Schonung für mich oder einen geliebten Menschen zu erbitten, aus der Hand.
Was hätte ich der Göttin des Universums dann noch zu bieten? Schokoladenverzicht oder Schlafentzug?

Vieles hätte aus mir werden können, denke ich, als der fünfte oder sechste Kaffee des Tages mir heiss die Kehle hinunter rinnt und mein Blick wieder auf den riesigen Papierhaufen fällt, den abzuarbeiten ich mir als Tagewerk vorgenommen hatte. Doch da es draußen schon dunkelt und selbst die zänkischen Spatzen langsam Ruhe geben und Frieden einkehrt im winterlichen Garten, wische ich die Papiere beherzt vom Tisch in den Metallkäfig hinein und fange an, mir Gedanken über mein unverdientes Abendessen zu machen.

 

 

 

 

Bild: Yulya Evdokimova flickr Юля Евдокимоваj105_025s Республика Марий Эл, лето, 2013
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

22 Kommentare zu “Die Wanja

  1. Du hättest zum Beispiel eine Kaffee-Plantage in Kolumbien oder Ecuador verwalten können. Das Kaffee trinken wäre dann ein Teil Deiner normalen Arbeit geworden. In Deiner Freizeit hättest Du natürlich über den revolutionären Aufbruch oder einen dramatischen Liebesroman geschrieben.

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  2. Unverdient ist das Abendessen bestimmt nicht. Oder jedenfalls nicht weniger verdient als das von anderen Leuten. Man lebt, man überlebt. Viel mehr kann man nicht verlangen.

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  3. …du bist du kannst so viel…du schaffst das….Immer wieder will ich Dir das dauernd schreiben, Dich anfeuern während mir deine Texte um die Ohren pfeffern wie ich es liebe und selten mal lese. Also schreib, schreib alles auf. Den ganzen Kram, die Glitzerbeute aus den bitteren Neigen, aus den vollen Krügen Leben….
    Du bist viel. Denn Du kannst träumen, du kannst schreiben wie der Teufel. Das ist Deine Gabe. Ein Buch wäre echt der Bringer.
    Nurmalso.
    Mutpunkt für Dich.
    Ein Meervoll…

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  4. „…gar nichts aus mir geworden…“
    „unverdient“ – es schwebt ein größeres Unwohlsein über den Dingen oder schräg dahinter, jedenfalls schwelend…
    Vielleicht wäre zu sagen: Kommt Zeit, kommt Licht!?

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          • Du hörst, was du hörst, nicht was sie sagen und denken, liebe Tiker. Auch das Gehörte ist Projektion, ist Echo deiner Gedanken. Würdest du wirklich hinhören, dann käme dir ein voller Wohlklang entgegen ohne verzerrte Frequenzen. Da würdest du dann hören: So wie du bist, bist du vollkommen. Alles Liebe dir!

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            • Liebe Gerda, Du bist gewiss eine kluge Frau und vielleicht auch eine Hellseherin. doch glaub mir, ich weiß was ich höre und da gibt es Leute, die sagen mir, dass ich ja leider nichts aus meinem Leben gemacht und meine Talente nicht genutzt habe. Das wertet mich nicht ab, denn es ist eben ihre Art die Welt zu sehen und alles nach seinem unmittelbaren ökonomischen Nutzen, seiner Verwertbarkeit zu beurteilen. Auf dieser Skala schneide ich nicht sehr gut ab. Dafür bin ich eben die Königin der Prokrastionation und des glücklichen Müßiggangs.

              Einen schönen Tag Dir!

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  5. Danke für diesen Text mit den mir auch so vertrauten Gedanken.
    Für mich anfügen würde ich zum Ende: Ich bin nichts. Und. Ich bin alles. Oszillierend zwischen beidem manchmal eine große Zufriedenheit.

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    • Alles und Nichts ist ja am Ende eher Alles, oder?
      Mir ist das inzwischen so einerlei. Früher wollte ich gerne Spuren hinterlassen in der Welt. Heute genügt es mir, gut zu schlafen, zu essen und viel zu lachen.

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    • Ich dachte bei meinem Text an den starken Wanja von Ottfried Preussler. Der faulste Mann des Dorfes, der Kraft sammelt, um irgendwann Abenteuer zu bestehen und Zar zu werden. Mit meinem Vornamen wurde mir die Zarinnenzukunft ja quasi schon in die Wiege gelegt. Jetzt muss ich nur noch ein paar Jahrzehnte Kraft sammeln. Bis zum Beginn meiner großen Reise zum Erfolg stärke ich mich mit Kaffee.

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  6. Woran liegt’s, dass ich mich zur Zeit immer öfter in anderen Texten selbst wiederfinde. Daran, dass ich selber nichts zustande kriege? Na dann passt ja deine wunderbare Rechtfertigung des Müßiggangs ja erst recht.
    Verspätete Glückwünsche zu allem Neuen, auch zur süßen neuen Welpin.

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