Löschtaste

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Mit dem Finger an der Wand entlang, Worte ersinnen, die ein Blinder ertasten würde. Pünktchen-Botschaften auch auf den geprägten Taschentuchrändern.

I can see clearly now, summt es und die Zunge formt hinter geschlossenen Lippen die Worte dazu: I can see clearly now.

Beide Hände lege ich flach an die Wand in einem stummfilmischen Bedürfnis des Overactings. Horch! Das Ohr ruht auf dem groben Putz, die Augen zwischen Irrsinn, Empörung und frivoler Verzückung weit aufgerissen.

Andernorts hängt noch immer meine ausgestreckte Hand in der Luft, niemand der sie hätte ergreifen wollen. Nicht vor Publikum. Man muss nicht annehmen ständisches Denken hätte jemals aufgehört. Durch Nichtachtung sollt ihr die Fremden schmähen.

Könnte mir egal sein, wenn ich nur nicht so empfindlich ( ). Nicht erwiderte Höflichkeit stört mich seit jeher über Gebühr. Noch mehr, wenn sie sich unerklärlicherweise auf mich allein begrenzt und andere dargebotene Hände auf´s feingeistig Entzückendste willkommensäuselt.
Der Bekannte zieht die Augenbrauen zusammen. Ihm sind nun wirklich alle vollkommen wumpe, außer der Familie und mir. Ausgestoßen, auserkoren (ich erkiese, du erkiest, er/sie/es erkiest).

Mit Koliken schlage ich mich seit Tagen herum, jetzt weiß ich wie es den Pferden geht, oder den kleinen Kindern. Letzteres könnte ich selbst erinnern, gäbe es nicht diese rätselhafte Löschtaste der ersten Jahre. Was Du bis heute gelernt hast, vergiss getrost und pack die Pixiebüchlein weg, jetzt kommen Fibel& Bibel.

Ein Bild habe ich deutlich vor Augen: ein ellenlanger Gang (spannenlanger Hansel) und gleißendes Licht am Ende. Ein Fenster? Ein Kind fährt auf einem Dreirad, fort von mir ins Licht.
Vielleicht sind das auch nur Erinnerungen zweiter Hand, geborgt von der älteren Schwester, die damals schon alt genug war oder für alt genug gehalten wurde, um alleine einkaufen zu gehen. Da war sie drei oder vier Jahre und die Mutter zum dritten Male schwanger.

Der Bruder kam dann auch gleich ohne Herztöne zur Welt, so geht die Mär, genau weiß man´s ja nicht, denn viel wurde dazu erfunden und ersonnen und außerdem: Löschtaste.

Die Sonne scheint, die Uhr tickt, der Schicksalstag rückt näher und damit eine Entscheidung über mein weiteres Leben. Ich schwanke zwischen Angst und Zuversicht und ich freue mich auf die Zeit wenn dann doch mal alles gut gegangen ist und ich endlich die Muße finde die schöne Musik zu hören und würdigen zu können, die eigens für mich aufgenommen wurde. An meinen Klangrezeptoren läuten derzeit leider meist nur die Glocken: Alarm.

(Wenn´s erst vorbei ist, wird die Erinnerung an diese bangen Monate gelöscht).

 

 

 

 

 

 

gif Quelle: rebloggy.com

21 Kommentare zu “Löschtaste

  1. Löschtaste – wenn`s so einfach wäre!
    Vielleicht ginge auch die Taste für „Rettung durch Ressourcen“.-
    Es ist aber auch immer was.
    Hat der Bruder nie gelebt? (Im Familiensystem stäke er trotzdem irgendwo, oder!)

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    • Die Ressourcen sind allesamt mobilisert: juristischer, finanzieller und liebender Beistand. Dazu Trotz und Widerstand. Jetzt kann´s losgehen.
      Ansosnten versuche ich alles zu vergessen, was mir schlechte Gefühle bereitet. Hab eh viel zu lang und zu oft um meine Schmerzen herum gekreist.

      Der Bruder lebt. Er legte sich aber eine Apnoe zu. Es gelang ihm mühelos durch Luftanhalten eine Kohlenstoffdioxidvergiftung herbeizuführen um Wünsche durchzusetzen. Sein erpresserischer Atemstillstand ging immer auf, wir taten was er wollte.
      Jetzt lebt er irgendwo in der Einöde Brandenburgs und atmet die frische Landluft. So wurde mir erzählt.

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    • Das Gegenteil ist der Fall. Habe ich ab dem 3. Lebensjahr fleißig Eindrücke gesammelt und archiviert, so lösche ich sie jetzt nach und nach. Ich mache mir meine Biographie so wie sie mir gefällt. Am ende war alles ganz wunderbar. Darauf freue ich mich.

      Übrigens ist das Notieren der Geschehnisse ein guter Weg sie abzulegen, einstauben zu lassen, und schließlich zu vergessen. Mein Blog fungiert quasi als Löschapparillo.

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  2. Kontrolle, Alter, Löschtaste. Das müsste zum Systemreset führen oder?
    Der Drang des overacting ist ein wundervoller, gut wenn es auf Mitkasper trifft. Belustigend (für Kasper selbst) zumindest wenn nicht.

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    • Systemreset nun nicht gerade, aber doch eine neue Geschichtsschreibung irgendwann.
      Fängt schonmal damit an, dass ich als Kind vertauscht wurde. Ich war eigentlich der jüngste Spross einer sehr wohlhabenden liebenden Familie. Man brachte mich dann zu der falschen Mutter, die mich prompt nicht stillen wollte (Instinkt ist alles) und mir fürderhin das Leben schwer machte. Selbst nach ihrem Tode noch. In Zukunft wird es diese vermurkste Mutter-Kind- Beziehung nicht mehr geben und…. Du hast recht: Systemreset.

      Mein Bekannter liebt mein Overacting. Er tut aber immer so, als wäre es Ausdruck einer nervtötend abgedrehten Exzentrik. Stimmt natürlich nicht.

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  3. Meine Löschtaste hatte sich erst einmal verklemmt, dann ging ich ans umschreiben und das lief und läuft. Gerade heute habe ich gemerkt, dass es mir sogar egal geworden ist, ob es SO stimmte oder anders, wichtig ist, da ist kein Trigger mehr … eine ungeahnte Freiheit stellte sich ein.

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  4. Hach, du Liebe, was für ein Text, ich lese wieder und wieder und fühle zunehmend Begeisterung für deine Art zu schreiben und Beklommenheit ob der Echtheit des Beschriebenen.
    Wenn denn das Wünschen wieder helfen würde, müsstest du dir wahrscheinlich überhaupt keine Sorgen machen, denn jemandem wie dir wünscht wohl jeder nur Gutes…

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  5. Ach wäre das schön, würde ich die Löschtaste finden, welche Aussicht, doch es will mir nicht gelingen. Meine irren Abenteuer in fast 20 Jahren Reiseleben verblassen schneller als Papierfotos, werden überdeckt von dem trüben Alltag heute und die künstlichen Paradiese stehen mir nicht mehr zur Verfügung. Und die schönen Seiten beim Altern – ich finde sie nicht.
    Dir drücke ich auch ganz doll die Daumen…

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