over me

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Am Morgen erwache ich mit einer Textzeile im Ohr und sehe mich am Frankfurter Ostbahnhof unweit meiner Schule mit A. auf einem Mäuerchen sitzen. Er pafft. Ich schaue ihm zu und denke an meine Mutter, wie sie mit tiefausgeschnittenem Negligé am Frühstückstisch sitzt, eine Zigarette in der linken Hand, vor ihr eine halbvolle Tasse Filterkaffee.

Ich bin 12 Jahre alt und habe vor wenigen Wochen meine erste LP gekauft. Einzelne Liedfetzen gehen mir im Kopf herum. Hey, hey, you, you, get off of my cloud.
Als er ferig geraucht hat, steht A. auf, greift in seine Hosentasche und holt ein plattgesessenes Lederportemonnaie heraus, das an den Rändern rundgebogen ist. Er klappt es auf, zieht aus einem der Fächer einen Zeitungsausschnitt und reicht ihn mir mit einem Kopfnicken herüber. Liebe ist… steht da über einer Zeichnung mit zwei Figuren, einem Mann und einer Frau, die nebeneinander im Bett liegen, und darunter steht … jeden Tag mit Sonntagslaune zu erwachen. Ich weiss nicht was ich sagen soll und sage nichts.

Ein paar Wochen später sitzen wir auf der Mauer hinter der Post und rauchen, A.s Oberschenkel berührt meinen. Er legt den Arm um mich und sagt: Meine Eltern sind nicht Zuhause. Meine Füße brennen, als wir von der Mauer herunter auf den harten Boden springen. A. greift nach meiner Hand. Ich ziehe sie weg und binde, wie zur Erklärung, meine Schuhe. Wir gehen nebeneinander her in Richtung Röderbergweg, A. redet über Fußball und über die Mädchen in unserer Schule. Über Anke, die schon einen BH trägt.

Vor einem der graubraunen, grob verputzten Häuser bleibt A. stehen und holt einen Schlüssel heraus. Fast alle in meiner Schule tragen einen Wohnungsschlüssel bei sich. Ich nicht. Bei uns ist immer jemand Zuhause und falls nicht warte ich im Hof oder im Garten. Einmal saß ich mehrere Stunden am Fuße des Mammutbaums und schaute nach oben zu unserem Turm, in dem eine Leiche eingemauert ist und auf dessen Spitze eine Kugel aus Zinkblech steckt. Irgendwann kam meine Mutter vom Friseur zurück. Ich erkannte sie von weitem am Klang ihrer Absätze.

A. wohnt mit seinen Eltern in einer Genossenschaftssiedlung. In der Diele liegt graue Auslegware. Die Türen zu den Räumen sind geschlossen. Der Vorraum ist auf eine Weise aufgeräumt, wie ich es von Zuhause nicht kenne. Unsere Ordnung ist eher eine zufällige, hingeworfene. Diese hier ist grundlegend und sie riecht nach Putzmitteln und Seife.
A. zieht seine Schuhe aus, ich folge seinem Beispiel. Dann öffnet er die Türe zu einem der Zimmer. Es liegt im Halbdunkeln, die Rolläden sind herunter gelassen und an der Stirnseite befindet sich ein breites Bett mit einem regalartigen Aufbau am Kopfende. Ein Dutzend Bücher, alle etwa gleich hoch und dick, stehen darin, daneben ein schwarzer Radiowecker mit roten Leuchtziffern. A. macht eine kleine Lampe an und nun sehe ich, dass der Bettrahmen und der Aufbau komplett mit pfirsichfarbenen Samt bezogen sind. Ein glänzender Steppüberwurf in der gleichen Farbe liegt auf der Matratze, die Volants reichen hinunter bis zum Boden und erinnern an die Toilettenpapierumhäkelung in der Gestalt einer Flamencotänzerin, die man auf manchen Autoablagen sehen kann.

Setz dich zu mir, sagt A. der sich wie selbstverständlich aufs Bett gelegt hat und ich setze mich zu ihm. Die Matratze sinkt ungewohnt stark ein und ich rutsche ein Stück nach hinten um nicht abschüssig zu sitzen. A. streckt einen Arm nach mir aus und legt ihn um meine Taille, den Daumen hängt er in den Bund meiner Jeans ein, unsere Haut berührt sich. Ich fühle mich unwohl. Eine Weile geschieht weiter nichts. Wir schweigen, er liegend, ich sitzend, sein Daumen kreist auf meinem Bauch. Irgendwann richtet A. sich auf und streift zuerst seinen Pullover und dann das T-Shirt darunter ab. Ich ignoriere das so gut ich kann und schaue mir die Buchrücken des Bücherdutzends an. Unbezähmbare Angélique steht dort, oder Angélique und Ihre Liebe, daneben Angélique und die Versuchung und als letztes in der Reihe Angélique triumphiert.
Zieh dich aus,
sagt A. jetzt und guckt mich merkwürdig an. Ich bin unschlüssig was ich tun soll. Als er nicht aufhört mich anzustarren, ziehe ich meinen Pullover aus. Das T-Shirt auch, fordert A. und legt nun eine ganze Hand auf meinen Bauch.
Ich möchte nicht, antworte ich, da greift A. von hinten um mich herum und schiebt mein T-Shirt mit beiden Händen nach oben. Mit einem Ruck hat er mich aus dem Sitzen ins Liegen gerissen und mir mein zwei Handgriffen das Hemd ausgezogen. Wenn ich wie die C. Ohrringe trüge, hätte er mir jetzt das Ohrläppchen eingerissen, denke ich. A. setzt sich auf mich, fährt mit beiden Händen an meinem Körper hoch und runter und stößt mit seinem Becken gegen meines. Seine Augen sind glasig und seine Unterlippe hängt ein wenig. Ich schaue ihn an und spüre weder Angst noch Anspannung. Eher so etwas wie Verwunderung. Auf eine merkwürdige Weise erinnert er mich an unseren Graupapagei, wenn er, auf der Stange sitzend, mit dem  Kopf auf und ab wippt und um unsere Aufmerksamkeit buhlt.

Nach einer Weile, ich weiss nicht wieviele Minuten inzwischen vergangen sind, lässt A. sich auf mich sinken und ich spüre seine dampfige Haut auf meiner. Seine Beckenbewegungen werden härter und meine Hüftknochen schmerzen darunter. Grunzend beisst er in meinen Hals. Der Geruch von Speichel dringt in meine Nase und ich denke an einen Nachmittag mit unserer Nenntante im Günthersburgpark. Wir hatten Brötchen mit Esszettschnitten gegessen und sollten anschließend in ein Stofftaschentuch spucken, damit sie unsere Gesichter abwischen konnte. Mich ekelte davor.
A. sackt zusammen und bleibt regungslos auf mir liegen.  Ich warte einen Moment, bis ich sicher bin, dass es vorbei ist. Dann schiebe ich ihn weg, stehe auf und ziehe mich an.  Vor der Haustüre schlüpfe ich in meine Schuhe.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: Tobi Gaulke, Oerlikon Walk, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

20 Kommentare zu “over me

  1. Hach…. ein wunderbarer Tikerscherk-Text zu einer wunderfreien Geschichte. Das Bild mit dem buhlenden Graupapagei werde ich noch lane grinsend vor mir sehen. Und…. ach….esszettschnittenbrötchen, günthersburgpark und diese vollgespuckten abwischtadchentücher (die hätte ich bisher glücklicherweise vergessen)…. sooo voller Erinnerungen 😊

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    • Das Buhlen des Papageis ging mitunter so weit, dass er sein Futter hochwürgte, um uns damit zu bezirzen.

      Diese Esszettschnitten schmeckten ja eigentlich nur so mittel, aber sie waren besser als gar keine Schokolade.

      Manchmal hab ich schon Heimweh nach Ffm. Oder einfach nach einer Zeit, die mir überschaubar erschien.

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  2. So also fühlte sich das von der „anderen Seite“ her an, wenn die Jungs (zu denen ich damals leider nicht gehörte) schon früh beim anderen Geschlecht „landeten“. Danke für diese sprachlich sehr präzisen Einblicke (ins Tierreich ;-)

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    • Ich weiß nicht ob alle die gleichen Erfahrungen gemacht und sie so empfunden haben. Ich war damals immer eher in einer Beobachterposition, bei fast allem was ich erlebte. Es interessierte mich, aber ich nahm nicht wirklich daran teil.

      Du hast nichts versäumt, wenn Du diese doch irgendwie erbärmlichen Erfahrungen so nicht gemacht und Dir die Verheißung auf goldene Zeiten länger erhalten konntest.

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  3. Die Genauigkeit deiner Beobachtung und sprachlichen Umsetzung ist faszinierend, und spannend ist es zu lesen, quälend auch. Diese pubertären Annäherungen sind so was von peinlich, weil da Liebe noch gar keine Rolle spielt und es allein darum geht, das Technische irgendwie hinzukriegen und „Erfahrungen zu sammeln“. LG

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    • Das rücksichtslose Über-Jemanden-Hinweggehen ist in diesem Alter noch weitestgehend unverbrämt. Später lernt man, wie man sich zu verhalten hat, damit der Andere sich gesehen fühlt. Ein paar Wenige entwickeln tatsächlich das Bedürfnis nach gegenseitiger Nähe und Liebe. Da erst wird es schön im Leben und nicht mehr quälend.

      Ich danke Dir für´s aufmerksame Lesen und fürs Kommentieren!

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  4. „Schön“ – in Anführungszeichen, weil es gut geschrieben ist und doch eine unbehagliche („akward“) Situation schildert.
    Diese Texte gefallen mir am besten. Besser als die anspielungsreichen Texte mit Protagonisten, die ich mir nur schwer vorstellen kann.
    Röderbergweg, da in der Ecke wohne ich heute… komisch, sich vorzustellen, was sich da vor 30 Jahren ereignet hat…

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    • Ich ging auf das Helmholtz-Gymnasium. Meine juvenilen Erfahrungen spielen alle in der Ecke. Der Ostbahnhof hat immer noch eine gewisse Tristesse, die ich irgendwie mag.

      Danke für das Feedback- die anspielungsreichen Texte ergeben wohl nur Sinn, wenn man Teil meines Kosmos ist oder wenn man besonders empfänglich für genau die dort beschriebene Stimmung ist.

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