Meine Mutter bewegte sich auf Schienen, sprachlich gesehen. Kannte man sie länger, wusste man oft schon, was sie als nächstes sagen würde, bzw. wie sie es sagen würde. Ihre Kurven waren nicht besonders anspruchsvoll oder raffiniert, zumindest was die rhetorische Gewandtheit anbelangte.
Vollbremsungen allerdings beherrschte sie aus dem Effeff, von hundert auf null, von hier auf jetzt gegen die Wand. Wenn sie genug hatte (enough is enough), war das Gespräch beendet. Stante pede und ohne Widerspruch, denn sonst wurde sie fuchsteufelswild.
Ich bin nie dahinter gestiegen, ob sich zwischen den Unmengen an Redewendungen, in die sie ihre Meinungen kleidete, eigene Gedanken versteckten, die über diese vernutzten (olàlà!) Sprach-Module hinaus gingen. Ich glaube, ich habe sie nie wirklich kennen gelernt, weil sie das entweder nicht wollte, oder sich selbst so fremd war, dass alles, was sie äußerte äußerlich bleiben musste. Was sie im Innersten bewegte, blieb hinter all den Floskeln und der perfekt geschminkten Maske einer Schönheitskönigin verborgen. Doch wenn ich sie auch nicht kannte, konnte ich sie doch vorhersagen. Ihre Reaktionen, ihr Aufbrausen, ihre Ausbrüche. Im Guten, wie im Schlechten.
Predictably unpredictable
Wir Kinder, genaugenommen mein Bruder und ich, als die beiden Kleinen, waren aus ihrer Sicht unfähig. Zu allem. Uns Verantwortung zu übertragen bedeutete den Bock zum Gärtner zu machen. Narrenhände! Falls wir doch mal etwas geregelt bekamen, dann nur mit hängen und würgen, aber klar, als Kinder unseres Vaters, war nichts anderes von uns zu erwarten. Wie der Herr so´s Gescherr und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Wir waren diese Reden gewohnt, fühlten uns davon nicht weiter auf den Schlips getreten, sahen aber angesichts der ever changing moods unserer Mutter oft den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, was dazu führte, dass wir die Ohren auf Durchzug stellten, wenn sie am Meckern war.
In Gesellschaft gab sie sich gerne naiv, um ihre liebreizende Wirkung auf Männer zu steigern. Sie sagte dann Sachen wie: Heiliges Kanonenrohr! oder Mein lieber Scholli und guckte süß aus der Wäsche. Der Erfolg war ihr so sicher, als hätte sie einen übergroßen Pyjama angezogen, hätte sich Sommersprossen aufgemalt und wäre wie ein Tanzbär einmal im Kreise herum getapst. Schnute und Wimpernklimpern zogen noch bei den meisten. Die anderen lächelten höflich oder verlegen dazu.
Mir waren diese offenkundig beifallheischenden Auftritte schon als Kind peinlich, ohne, dass ich hätte benennen können, was genau mich daran störte. Je älter ich wurde, umso mehr strengte mich auch das phrasenhafte Gerede, die sinnentleerten Worthülsen, das inhaltslose Geplapper an, das vor allem eins bewirken sollte: ihre Umwelt mit lautem Getöse auf zu Abstand halten, um sich hinter dem Wasserfall aus Silben zu verstecken.
Ich bin in meinem Leben keinem Menschen begegnet, der mir einsamer schien als meine Mutter.
Vor sechs Monaten ist sie gestorben und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke.
(Eigentlich sollte das ein Text über Redewendungen werden. Doch dann kam der Herbst)
Kenn ich irgendwoher. Zeit, Erziehung, Milieu: Ich hab fast den Verdacht, hauptberufliche Ehefrauen schauspielerten ihr Leben.
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Kennst Du auch? Die Hauptberuflichkeit ist vielleicht das Problem. Ein Leben, das kaum außerhalb der Familie stattfindet und über gelegentliche Parties/ Elternabende o.ä. nicht hinausgeht, macht doch irgendwann das Schauspielern, im Sinne einer machanischen Verkörperung dieser Rolle, notwendig, glaube ich. Ich stelle mir vor, dass Melania Trump ein solches Leben führt.
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Ich halte sie zumindest für ein Vorbild solcher Repräsentativmenschen.
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Das ist sie wohl, ja.
Manche freuen sich schon über diesen Glam im Weissen Haus.
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Liegt im Trend. Ich hörte mal, überraschend viele Studenten heute machen Benimmkurse und son Kram, passend zum Marmeladekochen und 50er Jahreklamottentragen. Wobei die Bärte der Jungs eher gegen 1870er neigen…
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Kenne ich auch…. nicht ganz genauso, aber dann doch. Einsam nicht nur die Mutter….
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Ist die Mutter einsam, ist das Kind es auch…
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Das berührt mich sehr. Danke für diesen Text. Kennst Du das Projekt https://tausendmutterbilder.wordpress.com/eine-seite/ – ? Daran musste ich beim Lesen denken. Und daran, dass ich nochmal wieder über meine eigene, einsame Mutter nachdenken wollte.
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Ja, ich kenne das Projekt. Ich möchte ja eigentlch gar nicht mehr über meine Mutter schreiben. Aber irgendwie ist diese erste Liebesbeziehung meines Lebens eben doch immer da, auch wenn ich glaube nun wäre es mal jut.
Ihre Einsamkeit und das viele Ungelebte, machen mich gedanklich manchmal richtig fertig.
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Gestorbene Mutter. Das kann noch dauern. Egal was war. Bei mir vier Jahre.
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Dauert wahrscheinlich wirklich noch. 6 Monate sidn noch gar nichts…
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Ah, und ich dachte, du hättest vorhin den Film im Ersten gesehen mit der psychotischen, obdachlosen Mutter…heftig.
Meine Mutter ist sechs Jahre tot und noch immer gibt es Phasen. Zum Glück kann ich mit meiner Schwester drüber reden. Manchmal beginne ich, woanders über sie zu reden, da rennen welche schreiend davon…
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Beim Schlafengehen sah ich, dass dieser Film gelaufen war und fand das sehr passend (ich schaue nicht fern).
Meine Schwester und ich reden auch manchmal über unsere Mutter, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Das hilft die Dinge einzuordnen.
Es geht mir wie Dir: wenn ich wonanders über meine Mutter udn das Ausmaß der ganzen Geschichte spreche, glaubt mir entweder niemand, oder die Leute sind schwer schockiert.
Als Kind denkt man ja, dass das alles normal ist und so sein muss. Das Erwachen kommt erst später und die nächsten Jahre ist man damit beschäftigt das gesellschaftliche Mutterbild, das Bild von sich selbst und das real Erlebte irgendwie zusammen zu bringen.
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Im Text sind mir viele Redewendungen aufgefallen, und erstaunt darüber, dass gerade du deine Gedanken in sprachliche Hülsen kleidest, fällt mir auf, dass du dabei bist, dich deiner Mutter zu nähern. Ich wünsche dir, dass du auf dem Weg bist, deinen Frieden mit ihr zu machen. Denn bei all ihren Fehlern, du hast doch einiges von ihr, und wenn sie dir nur ihre Schönheit vererbt hat. Das und Geist ist eigentlich mehr als den meisten Menschen vergönnt ist. In dieser Hinsicht bist du also reich beschenkt.
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Lieber Jules, die Redewendungen im Text waren sämtlich als Zitate gedacht, als Illustration sozusagen. Ich hab meiner Mutter verziehen, hab meinen Frieden mit ihr gemacht. Das ändert natürlich nicht die Vergangenheit, das, was geschehen ist zwischen uns. Manches wird auch nicht mehr gut, aber es ist eben auch nicht mehr wichtig.
Die aktuellen Texte über meine Mutter sind ein Abschied.
Ich fühle mich, bei allen Katastrophen und der schwierigen Geschichte, die mich mit meiner Mutter verbindet sehr vom Leben beschenkt. Danke für das große Kompliment!
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Liebe Tikerscherk, das hatte ich so verstanden, meinte auch nur eine Annäherung, um besser zu verstehen, nicht dass du dich dem Denken in Schablonen annäherst. „Manches wird nicht mehr gut“, aber es wird an Bedeutung verlieren.
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Da hast Du Recht. Und es verliert spürbar mehr an mehr an Bedeutung. Es ist, als würde meine Scholle immer weiter von ihrer wegtreiben, oder umgekehrt.
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Das war sehr anstrengend zu lesen.
Ein Gespräch mit so einer Mutter hätte ich nach Kräften vermieden. Das laugt doch aus!
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Wirkliche Nähe zu einem Menschen nicht aufbauen/aushalten zu können, ist eine schreckliche Bürde. Eine, der die wenigsten Menschen gewachsen sind. Dieses Erbe Deiner Mutter, immerhin, hast du sicher ausgeschlagen ;-)
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Mit der Nähe ist das so eine Sache. Man muss das Maß finden, in dem es einem gut geht. Zuwenig macht einsam, zuviel macht abhängig. Ich glaube, dass genau das die größte Herausforderung jeder Beziehung ist, und dass man sich immer und immer wieder einpendeln muss. Sicherheitshalber gleich soviel Abstand zuhalten, dass man niemals verletzt werden kann, ist zwar manchmal verlockend, aber nicht mein Weg.
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Stimmt. Allerdings ist die Abhängigkeit, denke ich, nicht eine notwendige Folge der Nähe. Sie entsteht eher infolge mangelnder Abgrenzung. So gesehen geht’s bei der Nähe, auch großer Nähe, vielleicht eher um die Fähigkeit, sie zulassen zu können, ohne etwas durch sie zu ersetzen. Na ja, Fachgesimpel, die Praxis macht eh was sie will… :)
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Stimmt, Nähe muss nicht Abhängigkeit bedeuten. Solange die Abgrenzung funktioniert und das richtige Maß gefunden wird, mit dem man sowohl bei sich, als auch bei dem anderen ist, können beide Seiten sich entfalten,wie auch miteinander schwingen.
Das allerdings bedeutet beinahe zwangsläufig immer wieder zu verhandeln, sich entsprechend der auch divergierenden Entwicklungen zu kalibrieren und sich stets auf Neue zu entscheiden dem anderen auf seinem Weg folgen zu wollen und dabei den eigenen nicht aus dem Blick zu verlieren.
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Stimmt. Klingt nach Arbeit. Ist Arbeit! (Die sich aber lohnt, vorausgesetzt es passt. Die Gefahr ist immer, die Beziehung mit einem schnellem Belohnungssystem zu verwechseln. Pflege und Wartung, sach ich ma. (Und schon kommt die Sonne zum Vorschein :) )
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Das hast Du schön gesagt.
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Der Apfel fällt eben manchmal doch recht weit vom Stamm. Denn wenn deine Sprache etwas nicht ist: floskelhaft. Sie ist voller selbstgedachter Gedanken und außerordentlich geschmeidig. Auch suchst du, anders als wohl deine Mutter, durch Sprache Nähe herzustellen – und meistens gelingt es dir in hohem Maße – wie in diesem Text. Sei herzlich gegrüßt- Gerda
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Ich versuche mich möglichst wenig auf solchen Schienen zu bewegen, wobei ich den Reiz von Sprichwörtern und Redewendungen durchaus sehe. Über das große Kompliment zu meiner Sprache und insbesondere zu dem, was sie erreicht, freue ich mich. Danke, liebe Gerda!
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„Eigentlich hätte … Doch dann kam der Herbst“
(Aus der Reihe: Sätze fürs Notizbuch oder für die Ewigkeit :-)
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:)
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Der Herbst ist toll. Wenn man die Kraft dafür hat.
Ich schicke Grüße und bitte um Vorbereitung des Zuhause auf meine Rückkehr! ;)
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Berlin, 14°C, Sonne. Gut so?
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Da ich bei sehr viel weniger Grad und regen losfahre: passabel.
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Passabel? Wir schreiben den 18. November!
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Dann wären ja 18 Grad passende gesessen, meinst du nicht? 😆
Ich denke ich bringe Regen mit…
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Sehr aufmerksam von Dir, danke. ;)
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schön geschrieben.
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Danke
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Wenn ich deine Beiträge über deine Mutter lese, schwebt mir immer noch dein Text im Hinterkopf, in dem du dich von deiner dementen Mutter verabschiedest. Eigentlich bei allen deinen Texten. Sehr kraftvoll, sehr traurig.
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Du meinst diesen Text: https://kreuzbergsuedost.wordpress.com/2015/04/23/abschied/
?
Meine Erinnerungen sind, seit diesem Wiedersehen, das zugleich ein Abschied von ihr war, sämtlich überschattet von dem Bild der dementen Frau in ihrem sperrigen Rollstuhl. Sie trug Pantoffeln. Das hat mich beinahe am meisten erschüttert.
Traurig ja.
Danke.
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Ja, den Text meinte ich. Kann ich verstehen, dass dir das nachgeht. Aber dein neuer Text wirkt schon distanzierter, nicht so erdrückt. Das ist gut.
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Unsere Schollen treiben immer weiter auseinander. Das ist traurig, bringt aber gleichzeitig den ausreichenden Abstand.
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