Vom Balkon

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Am Morgen klingelt das Telefon. Ich taste in die Dunkelheit hinein und bekomme es nicht zu fassen. Müde ziehe ich meine Hand unter die warme Decke zurück und versuche die Störung zu ignorieren. Irgendwann hört das Läuten auf und ich sinke in einen tiefen Schlaf aus dem ich erst am Mittag erwache.

Nach dem Aufstehen suche ich im Netz nach der unbekannten Rufnummer und entdecke sie dort als Telefonspam vermerkt: Krankenversicherungs-Drücker. Wahrscheinlich wollten sie den Argentinier sprechen, den sie aus irgendeinem Grunde bei mir wohnhaft und an einer privaten Krankenversicherung interessiert wähnen.

Während ich überlege, wie diese Verknüpfung zwischen mir und dem Argentino zustande gekommen ist, und seit wie vielen Jahren sie nun schon vergeblich versuchen ihn bei mir zu erreichen, setzt ein Stockwerk über mir das samstagvormittägliche rhythmische Knarzen ein. Die Nachbarn erledigen den ersten Wochenendbeischlaf. Sie sind spät dran heute.
Nachher werden sie sich schreiend und Möbel rückend streiten und den Nachmittag über kiffend und mit hängenden Schultern auf ihrem Balkon herum lungern, von dem sie im Laufe des Tages alles, was bei ihrem Aufenthalt dort nicht mehr nützlich ist, lässig über die Schulter auf den Gehweg werfen werden. Joghurtbecher, Chipstüten, Plastiklöffel, Kippen.

Zwei Mal in den letzten Wochen ist der Streit zwischen den beiden derart eskaliert, dass dabei jeweils eine Scheibe der Balkontür zu Bruch ging. Die Scherben fegten sie später, nach dem Versöhnungssex, vom Balkon herunter. Auf meinen empörten Warnruf (Ey!), als das Glas klirrend neben mir aufschlug und in viele kleine Splitter zerbarst, reagierten sie mit einem vollkommen teilnahmslosen Gesichtsausdruck. Für einen Moment wusste ich nicht, ob sie mir leid sollten, oder ich Angst vor ihnen haben musste.

Inzwischen werfe ich beim Nachhausekommen stets zuerst einen vorsorglichen Blick nach oben. Das kommt meiner sommerlichen Gewohnheit, nach den Mauerseglern Ausschau zu halten, die sich am Abend mit ihren schrillen Rufen in die Häuserschluchten stürzen, entgegen.
Sehe ich die Nachbarn auf ihrem Balkon sitzen oder sind ihre Fenster geöffnet, suche ich mit einem schnellen Satz Zuflucht unter dem Erker neben der Eingangstüre und krame dort schon mal den Schlüssel hervor, um die Zeit, die ich beim Aufschließen ohne Deckung werde verbringen müssen, möglichst kurz zu halten.

Das klappt ganz wunderbar, ich betrete unversehrt und unbefleckt meine Wohnung, und so bleibt als einziges klitzekleines Ärgernis das nächtliche Getobe und Gepolter der beiden, sowie die Essensreste, die vor der Türe herum liegen und mich zwingen meinen allergischen Hund weiterhin nur mit Maulkorb aus dem Haus gehen zu lassen. Doch wollen wir nicht kleinlich sein, die Kothaufen der anrainenden Dogge sind viel schlimmer. Und so ist sie eben, die junge Liebe.

Neulich Nachts haben die ansonsten sehr berechenbaren Nachbarn es geschafft uns noch einmal in Erstaunen zu versetzen.

Unerwarteterweise gossen sie nämlich auf dem zweiten, zum Garten gelegenen, französischen Balkon ihre Blumen. Das Wasser splatterte herunter, dass es nur so eine Freude war, und nachdem die erste Kanne geleert war, wurde sogleich die zweite hinterher gekippt. Soviel Pflanzenliebe hätte man ihnen wahrhaftig nicht zugetraut.

Doch halt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Nachbarn, denen nicht nur jedweder Anstand fehlt, haben außerdem auch keinerlei Sinn für Ästhetik und folglich auch keine Blumen auf ihrem Balkon.

Was da so fröhlich herunter gespritzt kam war nichts anderes als Erbrochenes, oder, um im Sprachduktus meiner Nachbarn zu bleiben:

K-O-T-Z-E

Directemang vor die Tür zum Garten gekübelt, von wo sie im Laufe des nächsten Tages, durch die Fahrräder und die Sohlen der Hausbewohner, ihren Weg in den Durchgang und ins Treppenhaus fand.

Und nun raten Sie mal, wer die Schweinerei weggemacht hat.

 

 

 

 

 

Bild: bswise, under the skin, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

40 Kommentare zu “Vom Balkon

      • Da tät ich mir nicht sooo viele Illusionen über Bayern machen. Erfahrungsbericht aus Bayern: Mein Nachbar obendrüber stellt im Zweifelsfall die Bierflaschen auf die Dachschräge zum Kühlen, worauf sie in die Dachrinne rollen, dort vom Platzregen in die Senkrechte gespült werden und die Dachrinne per Verstopfung zum Überlaufen bringen. Er war`s aber nicht, sagt er, kann nicht sein, obwohl er als Einziger in der betreffenden Wohnung wohnt und es auch seine ausgefallene Biersorte ist. Hier wohnt also der Heilige Geist, der Flaschen in Regenrinnen stopft. Und der Nachbar ist auf freiem Fuß. Bayern ist ergo echt eine Reise wert …;)…
        Grüßle, Diander
        P.S. Sehr gern gelesen, das.

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        • Wenn man jetzt aber den Mann anzeigen täte und dieser sich bei seiner Festnahme widerspenstig zeigte, meinen Sie nicht auch, dass er dann gute Chancen hätte sich fixiert an eine Liege auf einer geschlossenen Station wiederzufinden und diese erst nach Jahren verlassen zu dürfen, mit dem einzigen Freund, der ihm geblieben ist, einer Yucca-Palme?
          Wenn nicht, dann habe ich ganz falsche Vorstellungen von Bayern (in das ich übrigens leidenschftlich gerne reise und wo ich ein paar Jahre studiert habe).

          Schöne Grüße von hier nach dort

          P.S:: Danke, freut mich!

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      • Ich täterts mal so sagen: Kommt drauf an, wessen Dachrinne er verstopft. Wenn er das bei einem Geldinstitutsgeschäftsführer oder in einer Wohnung eines Funktionärs der staatstragenden Partei macht, dann vielleicht. Bei einer proletarischen Rinne aber hat er halt einfach in der Starkbierzeit einen Suri gehabt, mei, dann wird das nicht so eng gesehen, mildernde Umstände.

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        • Hatter Glück gehabt, dass er eine so duldsame Nachbarin wie Sie hat, der Bierflaschenschlingel.
          Suri-Nachsicht (Suri, Suri, wo kommt jetzt des Wort bloß her?) scheint in Bayern ein Gebot der Nächstenliebe zu sein.

          Ich rätsele noch über die proletarische Rinne…

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      • Die Herkunft von Suri scheint etwas ungeklärt, im Zweifelsfall tendenziell immer aus dem Lateinischen. http://www.boari.de/woerterbuch/surrus.htm
        Und die „proletarische Rinne“ meinte „meine Dachrinne“ in Abgrenzung zur wichtigen „Dachrinne des Geldinstitutsgeschäftsführer“, das war wohl ein bisschen schief formuliert. Übrigens nehme ich gerne das ursprünglich formulierte „Du“, Proletarierin, die ich bin..;)…

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        • Bei Rinne musste ich an diese Geschichte denken, dass man(n!) angeblich in bayerischen Bierzelten am mitgebrachten Spazierstock entlangpinkelt, um den Tisch nicht verlassen zu müssen.
          Du (gerne Du!) hast das ganz passend formuliert, ich hab mich nur von wilden Assoziationen verloren.

          Die Erklärung für Suri gefällt mir, danke.

          (Und überhaupt: willkommen auf meinem Blog!)

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    • Gute Idee, doch die würden mich nur anglotzen, so wie sonst auch, wenn man zu ihnen spricht.
      Die Hausverwaltung sagt sie sei machtlos.

      Mir ist es langsam schnuppe. Immerhin will kein Hipster in ein Haus ziehen, das zugesprüht und vollgekotzt ist und aus dem nachts Schreie gellen wie: ich schlag Dich tot!

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      • Die Aussage der Hausverwaltung, sie sei machtlos, halte ich für eine bequeme Ausrede. Ich kann aber nachvollziehen, dass Sie nicht die Energie und die Nerven haben, denen wegen dieser Nachbarn immer wieder auf die Füße zu steigen oder den Vermietern mit Mietminderung zu drohen. Ein Lärmprotokoll zu führen, macht halt auch Arbeit.

        Ich finde es heldenhaft, dass Sie das Erbrochene beseitigt haben – ich hätte da bei der Hausverwaltung Terror gemacht, dass die das wegputzt. Und die Scherben hätten die auch auf den Tisch bekommen.

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        • Die Hausverwaltung profitiert von diesen Leuten, die jede Menge Geld bringen. Ich bin die einzige hier mit einem alten Mietvertrag.
          Ich tu mir schwer mit Drohungen gegenüber Leuten, mit denen ich unter einem Dach leben muss.
          Wenn alles gut läuft ziehen die beiden sowieso bald aus, weil sie sich trennen.

          Das Erbrochene hat niemand weg gemacht. Ich auch nicht. Der arme Hausmeister hat versucht die Schweinerei und den Gestank aus dem Treppenhaus heraus zu putzen. Hat ein paar Tage gedauert.

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  1. ja, wirklich sehr schön erzählt! Ich wünsche Dir einfach mal eine gemütliche, saubere, ruhige Auszeit in Bullerbü. Irgendwo muss das doch existieren. Auch in Berlin.

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  2. Die von Dir beschriebene Spezies klingt geradezu unmenschlich menschlich. Leider ist bei solch ausgeprägter Merkbefreitheit jeglicher freundliche Hinweis auf Fehlverhalten eine Perle vor die Säue, fürchte ich. Es sei denn, Du könntest es bewerkstelligen, die Doggenk..othaufen und die …ohgottmirwirdauxhschonschlecht…in der Wirkungsstätte ihrer Triebabfuhren zu hinterlegen…
    Wegziehen wäre wohl in diesem Fall effektiver…nur…wo wäre es besser oder anders…?
    Nachdenkliche Grüße✨

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    • Wegziehen kommt nicht in Frage. Ich finde keine Wohnung mehr im Zentrum, die ich bezahlen kann.
      Eines Tages verschwinden die beiden, da bin ich sicher. Spätestens dann, wenn sie sich trennen, udn das kann so lang nicht mehr dauern.

      Der Doggenkot würde vermutlich zu ganz anderen Ausbrüchen führen. Das mag ich mir kaum ausmalen…
      Am besten ist es, man ignoriert solche Leute. Wenn sie es zu bunt treiben, muss man irgendwann Hilfe rufen.

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  3. Beim Lesen hatte ich mehr und mehr gehofft, ganz unten dann einen Hinweis zu finden, dass es ja nur eine erfundene Geschichte ist. Nicht gefunden, sehr ernüchtert. Vielleicht ist da ja auch ein Ticken Feigheit drin in meinem Entschluss, aber ich verstehe mich jetzt besser denn je, dass ich aus der Stadt (wenn auch nicht Berlin) ins Voralpenland zurückziehen werde. Alles Gute jedenfalls!

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    • Ich erinnere mich, Du kommst aus dem Voralpenland. Sooo schön dort. Feige finde ich Deinen Entschluss gar nicht, zumal Du so gerne wanderst.

      Ich bin ein Stadtkind und brauche Trubel. Allerdings ist mir das auch ein bisschen zuviel manchmal.

      Wenn es halbwegs gut läuft, bin ich demnächst in Murnau, dann am Bodensee udn später in Franken, da kann ich wieder tanken für das Leben in der Stadt.

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      • Murnau, Bodensee, Franken – das sind wirklich drei schöne Regionen. Ich hoffe, du kannst dort die Kräfte tanken für die Stadt! Vor zwei Jahren hätte ich es mir ja noch nicht vorstellen können, die Stadt zu verlassen. Aber es hat sich manches verändert seither, eine Entwicklung.

        Darf ich neugierig fragen, über welche Route ihr von Murnau zum Bodensee fahrt? (Oder seid ihr das schon?)

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  4. Diese gedankenvollen, unreflektierten, Menschen treffe ich überall: in der U/S-Bahn, auf dem Gehweg, beim Autofahren, beim Radfahren – einfach überall. Die müssen normal sein und ich bin schon ausserhalb.

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    • Sei werden immer mehr. So läuft das, beim Generationswechsel und wahrscheinlich haben zu allen Zeiten die Älteren über den Verlust an Kutur und den Verfall der Sitten bei der Jugend geklagt.
      Nur dieses Mal stimmt´s halt auch.

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      • Eben, wie sind die ersten, bei denen das stimmt. Meine Überbarn vögeln morgens zwischen zwei und drei, das stört ungemein, weil ich jedesmal wach werde, wenn das Bett rhythmisch auf den Holzboden knallt.

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        • Du Armer.
          Ich denke dann immer, wer vögelt sündigt nicht, bzw. wirft solange wenigstens keinen Müll aus dem Fenster. Dann freu ich mich gleich wieder darüber, dass die Jugend sich so schön miteinander beschäftigt. Überhaupt ist doch jede Aktivität, die ohne Samrtphone auskommt begrüßenswert.

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  5. Meine Nachbarn sind auch so“ bezaubernd“- aber weil ich sie auch reden und husten höre sind die Wände wohl auch nicht ganz normal. Ist echt schwer was anderes zu finden, wenn man kein Geld aber Haustiere hat (obwohl ich in einer kleinen Stadt wohne).
    Mir wurde geraten dem Vermieter bescheid zu sagen oder die Polizei zu rufen, aber ich weiss nicht (weil sich der Vermieter auch sonst um nichts kümmert und ich mit der Polizei keine guten Erfahrungen habe)

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