Nicht die Welt

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Die Welt ist alles, was der Fall ist.

Ludwig Wittgenstein

 

 

Der Stress der letzten Monate lässt jeden weiterführenden Gedanken versanden.
In allem sehe ich mein begrenztes Selbst.
Jedes Auge, jedes Lächeln, besonders das ausbleibende, sind Spiegel.
Oft  bin ich müde von den ständigen Anwerfungen.
Beim Erwachen am Morgen wünschte ich, ich träumte.

Loslassen, denke ich, einfach loslassen. Alles, auch das eigene Leben, sich selbst überlassen. Nicht kämpfen, nicht versuchen (oder suchen). Die klammernden Finger am Gesims entspannen. Dann stürze ich eben, was ist so schlimm daran.

Mit Glück lande ich in einem Hasenbau.

(…)

Ich bin dabei, einiges in meinem Leben (grundsätzlich) zu ändern, um wieder hinauszukommen über das bloße Trommeln und Sandkuchen backen, über mein Katastrophenmanagement und den dazugehörigen Report.
Winzige Fortschritte zeichnen sich ab, auch in puncto Gelassenheit.

Manches lässt sich nicht lenken. Es lässt sich nur erdulden und der Umgang damit sich üben, wie früher beim Katastrophenalarm in der Schule: den Ernstfall proben.

Sich bei den Händen nehmen und ruhig den Raum verlassen.

(…)

Die Melancholie ist meine Grenze zur Welt.

Schon als kleines Kind lag mir bisweilen das Gewicht meines Lebens wie ein Stein auf der Seele. Nicht einmal weinen konnte ich dann und nur in der Bewegung, im Bewegt-werden, fand ich Trost.
Wenn ich in diesem Zustand war, setzte mein Vater sich mit mir ins Auto, wir fuhren durch die abendliche Stadt und später über die Landstraße auf die schwarzen Berge zu. Mit jedem Kilometer fühlte ich mich leichter, ganz so als verschlangen wir nicht nur die weiße Fahrbahnmarkierung, sondern spulten zugleich auch ein schweres Seil von meinem Körper herunter und entließen es in den Schutz der Böschung, wie ein Python.

Nebeneinander sitzen wir und blicken nach vorne:
die Katzenaugen der schwarz-weißen Holzbaken am Wegesrand, wie sie dastehen, nur für uns, und allein durch uns glimmen, in der Dunkelheit, in der wir sie einsam zurück lassen, hier am finsteren Waldesrand, während wir weiter dem bebenden Lichtkegel folgen, der bei jeder Unebenheit nach oben ausschlägt.

Mit seiner tiefen Stimme erzählt mein Vater mir von der Welt, früher und heute, und ich schaue aus dem Fenster in die Nacht und sehe sie vor mir, wie sie einmal war, lange vor meiner Geburt: ein dicker  zigarrerauchender Globus mit Hosenträgern, dünnen Beinen und braunen Herrenschuhen.

Ich vermisse meine Unbeschwertheit, die die Kehrseite dieser Traurigkeit ist. Ab und an bricht sie hervor, doch sie verweilt nur kurz und spielt in ihrer Ausgelassenheit mitunter ins Hysterische. Der Tanz nimmt ein schnelleres Tempo an. Aus Leichtigkeit wird Raserei. Die Choreographie gerät zu einem Zucken.

(…)

Nicht länger versuchen sich dem Würgegriff zu widersetzen.
Die Beine auszappeln lassen.

Aufgeben.

 

 

Erleichterung.

 

 

 

 

Bild: diadà, flickr
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

28 Kommentare zu “Nicht die Welt

  1. Loslassen und vielleicht fallen, sogar dann ist da aber die Weite des Raums, vielleicht nur ein paar Momente, aber doch. Die Weite suche ich, die Weite und die Freiheit der Entscheidung. Und wie du sagst, man kann ja auch weich fallen ……..

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  2. Deine Gedanken erkenne ich, da auch ich sie schon gedacht habe. Du bist nicht allein. Die Welt ist wie sie ist und man kann nur mit staunendem Auge zuschauen. Arabella schreibt oben vom Abgrenzen und das scheint der Schutzwall gegen eine verdammte Menschheit zu sein. Wir können nicht alles verstehen und sollten uns auch nicht bemühen es zu tun. In einer stinkenden Welt kann man nicht dagegen stinken. Bleibe bei deinen Prinzipien und leutchte! Was du eigentlich schon mit deinem Blog tust.

    ps. Während ich diesen Kommentare schrieb, verwandelte sich dein blog in Englisch. Ich bin verwirrt.

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    • “ Wir können nicht alles verstehen und sollten uns auch nicht bemühen es zu tun.“

      So ist es. Auch das ist loslassen: nicht alles versteehn müssen und wollen.

      Danke für Deine freundlichen und klugen Worte.
      (Weshalb mein Blog mit dir englisch parliert weeß ick ooch nich)

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  3. hier mal mein spiritueller senf zum loslassen:

    ein loslassen ist ein nicht eingreifen – ein geschehen lassen der dinge.

    ein lassen also – deweger auch ge-lassen-heit!

    wolle alles so, wie es geschieht.

    nicht mein wille, sondern dein wille geschehe.

    ein prinzipielles JA sagen zum leben – mit allem höhen und tiefen.

    denn das eine schließt das andere nicht aus.

    kein „entweder oder“ sondern „ein sowohl als auch“

    und ganz wichtig: gedankenhygiene.

    jeder wird von „schlechten – negativen“ gedanken überrollt.

    die kunst ist, sich nicht darin zu verstricken. kein drama daraus machen.
    gedanken kommen – laß sie vorüber ziehen – nicht festhalten – loslassen!!!!

    es geht alles vorüber

    und: meine gedanken sind nicht ich – es ist mein ego

    ohne gedanken bin ich frei

    und: es kommt meistens anders als wir denken

    wir können die welt nicht kontrollieren – aber versuchen unseren geist in die richtigen bahnen zu lenken.

    im zen heißt es: es ist alles gut so wie es ist!

    herzlichst – von einer die mitfühlt

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  4. Die Kindheit ist ja nicht nur, wie Jean Paul bemerkte, das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können – sie ist auch ein Käfig. Und durch die Gitterstäbe hindurch blicken wir auf die Welt. Das melancholische Grundgefühl weiß um diese Gitterstäbe, und ihre Unverrückbarkeit. Aber wenn dann jemand kommt wie Du, der die Gabe hat, sprachlich Funken daraus zu schlagen und geschliffene Edelsteine in die Welt zu setzen, bekommt das ganze absurde Theater ja schon wieder Sinn, und es zeigt sich, was wir alle doch wissen: die Welt ist mehr als das, was der Fall ist.

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    • Das Merkwürdige ist ja, dass die Kindheit manchmal (oft?) erst retrospektiv als Gefängnis erkannt werden kann. Solange man klein ist glaubt man immer, dass das eben so ist. Später erkennt man an den Lebensläfen anderer, welche Möglichkeiten man auch hätte haben können.

      Ich weiß nicht, ob die Welt mehr ist als alles, was der Fall ist. Doch mit jedem Jahr wird mir klarer, dass ich von der Welt nur wenig verstehe. Immerhin das.

      Funken und Edelsteine, selbstgemacht! Danke!

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  5. Diese überraschenden Bilder und Wendungen! Ich bin voller Staunen. Benjamins Satz in seiner Doppeldeutigkeit. Sein Werk, sein Ende. Kein Hasenbau, ihn aufzufangen.
    Schau mal in mein Blog: „nun trommeln sie wieder“.
    Ich lächle dir zu. Gerda

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  6. Du hast falsch zitiert, mein Schatz. Die Welt ist für Wittgenstein nicht „das“, sondern „alles, was der Fall ist“, denn diese „Welt zerfällt in Tatsachen“.
    Das ist wichtig, denn es eröffnet den Weg für alles, worüber sich zwar nicht sprechen, aber nicht nur schweigen, sondern was sich auch zeigen lässt. Das ist die Stille der geschlossenen Lider, das Glück des dunklen Zimmers, das ist nicht „die Welt“, das ist „die Welt, die uns etwas angeht“ (Nietzsche). Die einzig wirklich bedeutende.

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  7. Meinen erhobenen Daumen für die schriftstellerische Qualität des Beitrags. Die Aussage … herrje, du hast es wirklich nicht leicht, wie es scheint. Ich hoffe, du kannst loslassen. Ich hoffe, du gibst nicht auf.

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