Da! (Der verlorene Hase)

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Was ich immer noch vermisse ist mein dunkelblauer Stoffhase mit den großen weißen Punkten. Auf einer Autofahrt nach Kassel habe ich ihn aus dem Fenster gehalten und irgendwann losgelassen.
Ich war 5 Jahre alt und verstand noch nicht, dass wir nicht alle einfach nur gemeinsam im Auto herumsaßen um irgendwann wieder auszusteigen, wenn meine Eltern die Zeit dazu für reif erklärten, so, wie wir zu scheinbar willkürlich festgelegten Zeiten den Esstisch verlassen und zum Spielen nach draußen gehen durften, sondern, dass wir uns tatsächlich fort bewegten. Weg von Zuhause. Ich glaubte mit dem Reisen, sei es so ähnlich wie mit dem Schlafen: man ging am Abend ins Bett und am Morgen stand man wieder auf. In der Zwischenzeit war man unterwegs ohne sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle gerührt zu haben.

Nachdem wir eine ganze Weile gefahren waren drehte sich meine Mutter nach hinten um, prüfte die Lage im Fond des Wagens und frug mich schließlich wo denn mein Hase abgeblieben sei. Vergnügt deutete ich aus dem Fenster: Da!

Wie kann man nur so dumm sein, schimpfte sie, jetzt ist er für immer weg!

Er ist nicht weg, greinte ich und zeigte weiter aus dem Fenster auf den Asphalt und die weiße Linie neben der Leitplanke, die sich während der zwei Stunden, die wir schon unterwegs waren nicht verändert hatten.
Natürlich war er noch da, mein Hase, doch meine Eltern wussten das nicht.

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Meine Großeltern schenkten mir, als ich gerade lesen konnte, ein Buch über einen Baum und dessen spannende Abenteuer. Schon beim Anblick des Umschlages ödete ich mich halb zu Tode, denn was bitteschön sollte so ein dicker verrindeter, alter Baum wohl erleben können, wenn er gezwungen war mit den Füßen fest in der Erde zu stecken und sich keinen Milimeter von der Stelle zu rühren. Seine Abenteuer, so dachte ich, bestanden lediglich darin den Vögeln und sonstigen Tieren hinterher zu blicken, wenn sie, nach einer kurzen Rast auf oder unter seinen Zweigen, wieder weiter zogen. Und wahrscheinlich stand der alte Baum auch noch im einsamen, stinklangweiligen Wald. Ich habe das Buch nie gelesen.

Inzwischen weiss ich, dass die größten Abenteuer genau so statt finden können: nämlich ohne sich von der Stelle zu rühren. Ein Blick, eine flüchtige Berührung, ein Gedanke, ein Traum.

(it´s all in your mind)

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Heute erstmal Hitze. In voller Leibhaftigkeit.

 

 

 

 

 

Bild: Giandomenica Jardella, Lady with rosary
Lizenz: Weitergabe unter gleichen Bedingungen cc2.0

12 Kommentare zu “Da! (Der verlorene Hase)

  1. manchmal geht es mir noch heute so, wenn ich viele hundert Kilometer fahre und in eine Art Autobahntrance verfalle, dann habe ich das Gefühl, dass nicht ich das Auto bewege, sondern die Strasse sich selbst, während ich still sitze und sinniere.
    Aber herrjeh … der Hase! Vielleicht geht es dir so mit ihm, wie mir mit dem roten Ball, den ich freudig ins Meer warf und nicht verstehene konnte, dass das meer ihn nicht zurückwarf – ich war 4 …

    liebe Grüsse vom hitzigen Sommerbeg, der gerade so herrlich abkühlt…
    Ulli

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  2. kassel ist ja berühmt als hasenbermudadreieck …..und irgendwo da wird er noch sein. vielleicht in einem kästchen auf dem dachboden einer dame, die am autobahnrand einen kleinen stoffhasen fand. sie hatten damals dort halten müssen, damit sich das kleine mädchen über die leitplanke übergeben konnte. als sie sich die tränen aus den augen wischte, schimmerte in den brennesseln ein kleines blaues etwas…. bei näherem hat es sich als stoffhäschen entpuppt, das das kleine mädchen für den rest der fahrt getröstet hat. drum hat sie es behalten, bis heute.

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  3. Ich LIEBE deine doppelbödigen Geschichten!
    Warst du es vielleicht, die die wunderschöne Puppe mit den blauen Haaren und dem blitzsauberen Schürzchen dort in der dunklen Gasse zwischen parkenden Autos verloren, so dass ich sie gefunden habe, nachts um zwei? Ich hob sie auf und setzte sie in eine Fensteröffnung, wollte gehen, brachte es nicht fertig. Diese Puppe in der anrüchigen Gegend lassen? Was würde ihr geschehen….
    Sie wurde zu meinem Modell für ein paar Bilder: die Abenteuer der Puppe mit den blauen Haaren.

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    • Es war nicht meine Puppe, die Du mitten in der Nacht gefunden hast, doch es hätte meine sein können. So ist meine Beinahe-Puppe die Deine geworden und dazu noch so inspirierend für Dich!
      Alles ist in Bewegung.
      Ich freu mich über Deine Freude an meine Geschichten, liebe Gerda!

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    • Klingt ja merkwürdig das über sich selbst zu sagen, aber ich glaube ich war ein ziemlich niedliches Kind. Auf eine Weise naiv und gutgläubig, wie ich es gerne wieder wäre und manchmal überraschend noch bin.

      Danke für Deinen Kommentar.

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  4. Bewegung, die als Stillstand empfunden wird, Stillstand, der Bewegtes einfängt. Schöne Fügung. Das Bild vom Baum, der mit seinen Füßen am Boden und mit seiner Krone im Leben ist, muss ich mal hin und her wenden. Irgendwas passt da auf mich.
    Einen schattigen Baum wünscht dir
    Rolf

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