Jetzt

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Bis zum Urlaub sind es noch zwei Monate und ich freu mich schon jetzt auf die Berge.

Eigentlich wollte ich vorher noch einmal in die Lübecker Bucht fahren, nach Travemünde. Nachdem aber die Urne meiner Mutter vor zwei Wochen dort ins Wasser geworfen wurde, hat sich das Thema für die nächste Zeit erledigt. Ich werde nicht mehr unbeschwert auf die Ostsee blicken können.

Der Duisburger erzählt von seinem Freund, der nach fast zwei Jahren, gemeinsam mit Mutter und Schwester, die Asche des Vaters auf der Zugspitze verstreuen wollte, der sich aber plötzlich durch einen unerwarteten Windstoß über und über mit den sterblichen Überresten seines Vaters bestäubt sah.

Der war voll mit´m Vadder, wie beim Dude, sagt der Duisburger und lacht lauthals.

So weit bin ich noch lange nicht, und werde ich wahrscheinlich auch nicht kommen, obwohl auch die Schwester und ich uns in Galgenhumor versuchen. Kürzlich schickte sie mir eine sms, in der sie über eine auf Norderney angespülte Urne scherzte. Ich musste lächeln und gleichzeitig brannten meine Augen vor Schmerz.

Was mich das Ableben meiner Mutter vor allem anderen gelehrt hat, ist, dass ich keine Zeit zu vergeuden habe. Ich möchte leben ohne Aufschub, ohne zu warten auf ein Morgen, das besser sein könnte, als das Heute. Es gibt kein Morgen. Es gibt nur jetzt.

Ich will glücklich sein, das genießen, was schön ist und den Blick weniger auf das lenken, was traurig ist und was fehlt.

Auch die Krankheit des Hundes erscheint mir angesichts meiner eigenen Endlichkeit auf einmal viel erträglicher. Dann wird sie eben sterben, das tun wir alle. Ich kann es nicht ändern, ich bin nicht Gott und selbst der kriegt das nicht besser hin.

Es ist etwas passiert mit mir in den letzten beiden Jahren, in denen der Tod so oft und von allen Seiten gegen mein kleines Schüttelgals klopfte. Eine Art Abhärtung, Gewöhnung und Akzeptanz des Unabänderlichen. Alles vergeht und mit dem Tod der Mutter bin ich zur Poleposition aufgerückt. Wir Kinder sind die nächste Sterbegeneration und die neuen Menschen sind schon da.

Immerhin ist die Ordnung wieder hergestellt: das Kind wird nach der Mutter gehen und nicht vor ihr, wie im Oktober 2014 beinahe geschehen.

Sir Stony hat mich neulich auf ein Audio-Dokument aufmerksam gemacht, das ich noch nicht kannte. Dort beschreibt mein Lebensretter sehr eindrücklich die Sekunden, in denen ich starb. (Er spricht tatsächlich von „sterben“). Wie die Seele den Körper verließ und wie ich dann wieder zurückkam von meinem Ausflug zum See.

Auch das ein immer wieder aufgeschobenes Vorhaben: zum See fahren, ans Schilf, Kontakt aufnehmen zu dieser anderen Welt in die ich schon einen Fuß gesetzt hatte und die so leicht und hell und warm war.

Nie ist der richtige Zeitpunkt dafür. Immer ist irgendwas.
Ich kann nicht mehr warten.

 

 

 

 

 

Bild: Lübecker Bucht, Wikimedia

23 Kommentare zu “Jetzt

  1. Nun lese ich hier alles ausführlicher, als in deinen Kommentaren bei mir. Ich wunderte mich noch leise, dass der Tod deiner Mutter noch so nah ist und verstehe nun.
    Ich bin mit dir und grüsse dich sehr herzlich
    Ulli

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    • Meine Mutter ist vor gut 1 Monat gestorben. Das ist noch nah, trotz oder auch wegen der Jahre, die wir uns nicht sahen. Die Art des Abschiedes, die Inszenierung ihrerseits haben mir einiges zu denken und zu fühlen gegeben. Es geht mir nicht schlecht, ich bin auf eine angenehme Weise empfänglich und berührt.

      Liebe Grüße an Dich

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      • Meine Mutter ist Ende Mai 1997 weit weg von mir gestorben, so, wie sie es wollte, allein. Es liegen noch Texte in der Schublade … daran muss ich gerade denken. Danke für deins, das mich gerade samtseidenweich berührt.

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  2. So ein beeindruckender Text, aus dem eine unglaubliche Strahlkraft und Präsenz scheinen.
    Ich lese ihn gerade zum dritten Mal einfach weil mich Ihre Gelassenheit ansteckt.
    Mir imponiert die Haltung gegenüber Leben und Tod, die einem keiner empfehlen oder lehren kann. Man kann sie nur selbst entwickeln.

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  3. Ich lese dies allein in einem unbekannten Hotel sitzend, möchte dir von fern auf die Schulter klopfen. War grad an der Lübecker Bucht u an dem runden kleinen Teich mit Seerosen, in den der goldene Ball der Prinzessin fiel. Ein Froschkönig mit goldenen Augen brachte ihn herauf. Ich war auch bei einer Freundin, die grad vom Totenreich zurückgekehrt war, und sah auf einem Hamburger Anleger eine Hochzeitsgesellschaft, die gegen ein aufziehendes Gewitter in die Barke stieg. Vollmond und Sommersonnenwende durchleuchten die oberen Sphären. Morgen fliege ich hindurch u in den Süden. Dir wünsche ich erhellte Tage. Gerda

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    • Schöne Bilder zeichnest Du, liebe Gerda, von Deiner Reise,
      Und wie das Leben so spielt, werde ich vermutlich in der nächsten Woche schon nach Lübeck reisen, wo die Urne meiner Mutter in der Bucht liegt, und werde dort meinen Hund einer Heilerin vorstellen.
      Ich danke Dir für Deine Anteilnahme udn die guten Wünsche.

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  4. Beschãftigen wir uns mit dem Gestern, werden wir traurig.
    Denken wir nur an das Morgen, werden wir ãngstlich.
    Leben wir im Heute, werden wir glücklich.

    Das habe ich letzte Woche gelesen und es geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich denke, dass das auch jemand war, der den Abgrund gesehen gat. So stelle ich es mir wenigstens vor.
    Ich glaube, wenn man den Frieden in sich finden kann, und sich einfinden kann in Leben und Tod, dann ist man vermutlich glücklich.
    Du bist auf einem guten Weg, so denke ich.

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    • So wahr!
      ich musste direkt an Eichendorffs Gedicht Symmetrie denken:

      O Gegenwart, wie bist du schnelle,
      Zukunft, wie bist du morgenhelle,
      Vergangenheit so abendrot!
      Das Abendrot soll ewig stehen,
      Die Morgenhelle frisch drein wehen,
      So ist die Gegenwart nicht tot.

      Der Tor, der lahmt auf einem Bein,
      Das ist gar nicht zu leiden,
      Schlagt ihm das andre Bein entzwei,
      So hinkt er doch auf beiden!

      Ich bin überzeugt davon, dass ich den richtigen Weg gefunden habe, auch wenn er noch lang ist.
      Menschen wie Du und ich, die solche existenziellen Erfahrungen gemacht haben und dem Tod bereits die Hand gereicht hatten, müssen sich wahrscheinlich ganz anders mit der Vergänglichkeit beschäftigen.
      Ich möchte diese Erfahrung in allen ihren Konsequenzen nicht missen.

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  5. Ein schönes Gedicht, ich kannte es bisher nicht.

    Kennst Du den Film „Palermo shooting“ von Wim Wenders?
    Er hat mich sehr berührt, da er für diese Grenzerfahrung Bilder hat, die mich nicht mehr loslassen..

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  6. Pingback: Schattenschrift in der Lübecker Bucht | GERDA KAZAKOU

  7. Ja, mit diesem Beitrag habe ich nicht gerechnet. Es macht mich betroffen und ganz , ganz leise. Ich höre was in mir gesprochen wird. Die vielen Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen. Aber nichts von dem ist real, wird real sein. Nur am Abend, im Rückblick erfasse ich, ich habe gelebt, gedacht, gefühlt, gehandelt, gelacht und geweint. Ich lebte. In der Gegenwart nehme ich das Leben nicht greifbar war. Es ist wie selbstverständlich, sowie der Herzschlag, den man auch nicht fühlt, wenn man nicht krank ist.

    Mütter sind auch Menschen,vor allen Dingen, waren sie Kinder. Sie haben und hatten eine Geschichte und diese Geschichte, ist ihre Vergangenheit mit der sie in der Gegenwart leben mussten. Es spricht für sich, dass Konflikte unausweichlich waren.

    Mütter dürfen tun, was immer sie tun, wenn es für sie eine Lösung ist. Auch wenn die eigenen Kinder es nicht verstehen. (eine humane Lösung)
    Sie sind eben Menschen und damit fehlbar.

    Aufrücken, in die erste Reihe. Niemand mehr haben hinter dem ich mich verstecken kann. Dem ich Schuld zuweisen kann, mit dem ich unzufrieden bin. Wo es doch nur an mir selber liegt. Dazu werden Mütter missbraucht. Nicht immer, aber oft.

    Wenn sie dann sterben, wenn sie nicht mehr da sind. Ausgelöscht, dann kommen die vielen ungesagten Worte in unseren Kopf, die verpassten Gelegenheiten. Die mangelnde Zuwendung.

    Was macht mich traurig, meine Mutter, mein Hund, meine Kinder, mein Mann, mein Freund?

    Oder ist es nur die Rolle, die ich besetzte, als sie noch lebten.

    LG.Monika

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    • Ich verstehe Deinen Kommentar leider nicht, bzw ich weiss nicht genau, was Du sagen möchtest.
      Mütter dürfen alles? Gewiss nicht.Trotzdem ist es gut ihnen zu verzeihen. Für sich selbst. Wir sind alle fehlbar.

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  8. Mütter dürfen tun, was immer sie tun wenn…… Für Mütter, würde ich gern Menschen, Erwachsene, einsetzen.(strafrechtliche Vorkommnisse ausgeschlossen)

    Kinder hingegen sehen ihre Mütter nur aus der Sicht des Kindes, ein Leben lang.
    Sie sind ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
    Ihr Leben hängt von ihnen ab, nicht das Leben der Mutter vom Kind.

    Ein Kind, im Kindesalter sieht nicht den fehlbaren/ unfehlbaren Erwachsenen, sondern seine Beurteilung liegt auf der emotionalen Ebene und das prägt. Es kann Unverständnis, Ablehnung, Verachtung entstehen. Im Idealfall, Liebe, Zuwendung, Wohlbehagen, Verständnis, Wärme.

    Mütter sind die mächtigsten Menschen. Durch ihren Tod, schwebt die Wolke Macht nicht mehr über uns. Sie wird an uns weitergeleitet, auch wenn Du es nicht wahrhaben willst. Es ist das Erbe, wenn wir in die “ Poleposition“ gelangen, wir gehen nie leer aus.

    Trauer ist ein Reifungsprozess, schmerzlich aber auch befreiend.

    LG. Monika

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    • Es ist nicht so, dass ich irgendetwas nicht wahrhaben wollte, nur zweifle ich daran, dass es die Wahrheit gibt. Ich habe keine Kinder. Das Staffelholz und damit die potenzielle Macht, nehme ich mit ins Grab. Da ist gut so, denn ich weiss nicht ob ich es besser als sie hätte machen können. Sie war nicht zur Mutter geboren, ich anscheinend auch nicht.

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