Nicht gestillt worden zu sein zähle ich nicht zu den Katastrophen, die mein Leben begleiten seit ich denken kann. Das machte man damals so. Ungewöhnlich war schon eher, lediglich dem mittleren von drei Kindern die Flasche zu geben. Genauso unüblich war es, nur eines der drei in den Ganztagskindergarten und später in die Ganztagsschule zu schicken.
Mittags, wenn meine Geschwister Schulschluß hatten, stand ich an dem Zaun zur Straße und schaute ihnen nach. Ich war nicht traurig. Ich schämte mich vor meinen Erziehern.
Später, auf dem Heimweg, ging ich durch eine der Schrebergartenkolonien, die es damals noch gab. Ein steiler, rundum zugewachsener Hohlweg, so eng, dass zwei Menschen sich nur mit Mühe aneinander vorbei drücken konnten, führte zur Straße hinter unserem Haus. Unter seinem dichten Blätterdach roch es nach reifen Brombeeren und nach Kot. Schillernde Fliegen brummten durch die satte Luft und Wespen rissen Stücke aus den feuchten Eingeweiden plattgetretener Würmer. Hier und da fand ich einen vertrockneten Lurch, manchmal auch eine tote Amsel, die mit offenen Augen auf der Seite lag. Sie tat mir leid. Über allem wucherten die Schlingpflanzen.
In meiner Erinnerung rettete mein Vater nicht nur die madenzerfressenen, überfahrenen Katzen, die ich nach Hause brachte, simsalabim, er entließ sie auch, kaum dass sie wieder atmen konnten, in die Freiheit. Wenn ich nach seinen streng geheimen Operationen das Zimmer betrat und die Tiere streicheln wollte, pflegte er vage aus dem Fenster zu deuten. Da läuft sie. Ich schaute hinaus und sah sie im Gebüsch verschwinden.
Unter dem Dachfenster im Zimmer des Kindermädchens stand ein altes Bett. Die Matratze war so weich, dass ich mit den Füßen einsank und die Federn quietschten, wenn ich darauf hin und her hopste.
Eines Tages, ich bin allein im oberen Stockwerk, hüpfe und springe ich wieder laut singend auf dem Bett herum und schaue, den Kopf in den Nacken gelegt, in den blauen Himmel über mir. Ehe ich mich versehe landen meine Füße statt auf der weichen Matratze auf dem Bettrahmen, ich knicke um und werde mit Schwung auf den Boden geschleudert, wo ich mit dem Kinn aufschlage. Es knirscht und ein spitzer, heller Schmerz durchzuckt meinen Schädel. Dann ist es still. Ich rühre mich nicht. Etwas warmes quillt aus meinem Mund und läuft langsam die Wange herunter. Blut. Ich wimmere leise, doch der Ton geht unter in einem kehligen Gurgeln.
Nach einer endlosen Weile rappele ich mich vorsichtig auf. Mir ist schwindlig und mein Kopf schmerzt. Aus meinem Mund strömt immer noch das Blut, mein T-Shirt ist nass und rot. Ganz vorsichtig taste ich mich in Richtung Treppenhaus. Beim Hinuntergehen muss ich mich am Geländer festhalten.
Was soll ich bloß meiner Mutter sagen.
Als ich das Wohnzimmer betrete sehe ich sie auf dem Sofa liegen. Sie raucht und liest, vielleicht trinkt sie auch Kaffee. Ich weiß es nicht mehr. Woran ich mich gut erinnere ist ihr Gesichtsausdruck und die zusammengezogenen Augenbrauen. Ich sehe sie aufspringen, mit schnellen Schritten auf mich zulaufen, mich am Arm hochreissen und aus schmalen Lippen etwas sagen, doch ich kann sie nicht verstehen, denn ich schreie aus Leibeskräften. Die Spitze meiner Zunge baumelt lose an eine schmalen Streifen Fleisch. Es schmeckt nach Metall und Schleim und Tränen.
Später, nach ein paar aufgeregten Telefonaten, sitzen wir im Taxi. Sie vorne, ich hinten. Den Kopf vornüber gebeugt halte ich eine Plastiktüte unter mein Gesicht. Auf ihrem Grund sammelt sich das Blut in einer tiefroten Lache. Der Taxifahrer wirft mir durch den Rückspiegel einen strengen Blick zu.
Am Klinikeingang empfängt uns mein Vater und streichelt mir übers Haar. Im Behandlungszimmer desinfiziert er meine Zunge, klemmt Zellstoffwürste darunter und fügt sie mit seinen Zauberhänden wieder zusammen.
Dieser Text ist so dicht geschrieben, wie der Hohlweg eng gewesen ist. Beeindruckend dicht rücken die Worte sehr nah an mich ran. Ich will das nicht mehr zerreden und es lieber noch einmal lesen.
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Danke, Mitzi.
Wenn Du es fühlen kannst, habe ich es richtig gemacht.
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Die Geschichte vom Heilen alles Kaputten, schön. Eigentlich ungewœhnlich, dass ein Kind schon das sieht, was verfallen ist, falsch ist, und versucht es zu retten.
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Wenn der Vater Arzt und der Großvater Pfarrer ist, kommt man auf solche Ideen. Das Mitgefühl wurde mir väterlicherseits quasi in die Wiege gelegt.
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Einen guten, fantasievollen Papa gehabt zu haben, das rettet uns!
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Das tut es.
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Auf eine Art verstörend und dann doch wieder einfach nur schön.
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So, wie Du es empfindest war es: zwischen Einsamkeit und Geborgenheit.
Danke.
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„…und streichelt mir übers Haar“…
Das rettet alles. Diese Geschichte wird Anteil haben an guter neuer Woche und zahlreichen Überlegungen, Blogs betreffend. Danke
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Du hast Recht. Genau diese kleinen Gesten des Trostes und der Vertrautheit können alles retten. So war es bei mir.
Bin gespannt auf Deine Blog-Überlegungen, falls Du sie überhaupt öffentlich machen wirst.
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Oh Mann, ist das heftig… Und ja, dicht geschrieben… ich hab Schmerzen vom Lesen bekommen.
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Es war beides, wie Libra in ihrem Kommentar schrieb. Schlimm und schön. Das, was man gemeinhin Gefühlsbad nennt.
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…es ist so eine Distanz darin…so eine unglaubliche Einsamkeit…die einfach so ist als Tatsache und aus dieser heraus entwickelt sich die Empfindung der Welt…
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Einsamkeit aber auch Geborgenheit. Diese beiden Gefühle bilden die Pole meiner Welt.
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Dass du alleine hinten gesessen hast…
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Meine Mutter war nie besonders gefühlsdusselig. Krankenschwester mit überaus pragmatischer Veranlagung.
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Was für ein wundervoller Vater…
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Ja, das war und ist er.
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