große Pfützen, kleine Seen

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Als ich erwache spüre ich den warmen Körper des Katers neben mir. Ich greife in sein Fell, er schnurrt leise. Wir rollen uns ineinander und ich lausche seinem Atem. Draußen trommelt noch immer der Regen auf die Fensterbleche. Schon gestern Nachmittag hatten sich an den Straßenecken riesige Pfützen gebildet, kleine Seen mit schillernden Ölschlieren, wie ich sie als Kind mit Gummistiefeln durchpflügt habe. Am Himmel die dunklen Wolken und unten ich und die langen Nachmittage mit Kaugummiautomaten, Hagebutten und dem bewohnten Nest in der Hecke, unter der ich jeden Morgen ein Bounty vergrub, um es am Nachmittag, auf dem Nachhauseweg, wieder auszubuddeln und zu essen. Sobald ich in die Nähe des Nestes kam, reckten die Küken ihre Hälse, öffneten piepsend die riesigen Schnäbel und ich betrachtete ihre amputierten Arme, das Geflecht der Adern unter der wachsigen Haut und die dunklen Knubbel, hinter denen sich ihre blinden Augen verbargen. Sie taten mir leid.

Manchmal setzte ich mich auf eines der Kiesbetonmäuerchen vor den neuen Bungalows und beobachtete die winzigen roten Läuse, die dort ziellos hin und her krabbelten. Als wir ganz klein waren hatten wir sie mutwillig mit den Fingern zerdrückt, denn es hieß sie saugten Menschenblut. Danach waren die Finger rot und ich entschuldigte mich bei Gott.

Es zog mich nicht nach Hause an diesen Nachmittagen, wo meine Mutter mit ihrem aufwändigen Augen-Makeup und einer unvorhersagbaren Laune wartete. Besser war es, erst zum Abendessen zu kommen, und danach direkt auf mein Zimmer zu gehen um dort zu lesen, bis es Zeit war das Licht zu löschen.

So saß ich und und guckte und beobachtete die Amseln, die die Vorgärten der Siedlung regierten und die geduckt von Strauch zu Strauch rannten, in Deckung gingen, wie Soldaten in einem Gefecht, weiter liefen, und mich dabei nie aus den Augen ließen, den glänzenden schwarzen.

An der Telefonzelle neben dem Kiosk machte ich, wie jeden Tag Halt und schaute, ob jemand sein Wechselgeld in der Klappe vergessen hatte. Einmal fand ich ein Zweipfennigstück, das ich auf die Schienen am Wendekreisel legte. Nachdem die Tram die Haltestelle passiert hatte ohne zu entgleisen, holte ich die plattgefahrene Münze wieder von der Straße und betrachtete sie. Außer einer Rille in der Mitte, sah sie aus wie vorher. Nur in den Schlitz der Telefonzelle passte sie jetzt nicht mehr und die Frau vom Kiosk wollte sie auch nicht nehmen.
Zuhause würde mein Vater sie mir gegen ein Zehnpfennigstück eintauschen.
Ich musste nur warten, bis meine Mutter aus dem Zimmer ging.

 

 

 

 

Bild: https://www.flickr.com/photos/sludgeulper/3089547941
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

 

 

 

9 Kommentare zu “große Pfützen, kleine Seen

  1. etwas erinnert mich an meine kindheit – es war kein zweipfennigstück. es waren grobe kieselsteine, die wir auf das bahngeleis legten, uns versteckten, grausam angst hatten, der zug könnte entgleisen und es doch wieder machten.

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  2. Schön geschrieben und stimmungsvoll. Aber warum wurde das Bounty morgens vergraben? Ganz anrührend ist die Passage mit den Läusen und dass du dich bei Gott für deren Emordung entschuldigst. Ein bisschen traurig ist auch, dass du nicht gerne nach Hause gekommen bist, erst am Abend. Irgendwie schräg ist die nicht weiter erklärte Sache mit dem aufwändigen Augen-Makeup deiner Mutter. Dass aber die Straßenbahn das 2-Pfennigstück nicht platt gemacht hat … bei Zügen klappt es immer.

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    • @ Jules

      die Vorfreude auf das Bounty sollte meinen Tag durch Vorfreude versüßen und mir den langen Weg von der Schule nach Hause spannender machen – ich hatte immer Sorge, dass mich jemand beobachten und es eines Tages nicht mehr da sein könne. Umso besser schmeckte es dann.

      Das Augen-Makeup meiner Mutter stand dem von Hildegard Knef in nichts nach. Es hatte etwas Bizarres und Bedrohliches, wenn sie so derart überschminkt war. Eine Faustregel galt immer: je dicker sie auftrug umso übler war ihre Laune.

      Das mit den Zügen probiere ich demnächst mal auf der ICE-Trasse aus.

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  3. Schön geschriebener, melancholischer Blick in eine Kindheit, die anscheinend wenig Liebe kannte, dafür aber eine Welt für sich war. Und gut zu wissen, dass ich nicht der einzige war, der wenig mehr als rote Läuse als Freunde hatte.

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    • Danke schön.
      Wenig Liebe? Klang das so? Bis auf meine Mutter waren eigentlich alle ganz nett zu mir. Und mit der Freundschaft war das damals schon so wie heute: ich habe sehr wenige echte Freunde, die ich mir sehr sorgsam ausgewählt habe, und ich bin schon immer sehr gerne alleine gewesen. Das macht mich nicht traurig, sondern stark und unabhängig.
      Umgekehrt lese ich aber heraus, dass Du Dich vielleicht ein bisschen alleine gefühlt hast als Kind. Das hat sich zum Glück gewendet. Ich halte die Verklärung der Kindheit für eine der größten Illusionen, denen sich die Leute hingeben. Erwachsensein ist doch viel angenehmer.

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  4. „Zuhause würde mein Vater sie mir gegen ein Zehnpfennigstück eintauschen“ scheint mir eine Aussage über deine Mutter zu sein. Vielleicht gilt das sogar für den ganzen Text. Der scheint mir voll von Symbolen. Wenn das so ist, war das dann so schlecht? Ich meine, ist das Ergebnis wirklich so schlecht, dass Du ihr nicht verzeihen kannst?

    Na ja, bevor wir uns auch noch auf dem Schulhof nach dem Sport treffen lass mich noch schnell erwähnen, dass mich Dein Text an das Sein selbst erinnert, an das was uns prägte und daran, dass man alle Alter gleichzeitig ist. So ist das Treffen nach dem Sport doch nicht so abwegig, wenn Phantasie das ist, was uns leitet und Erinnerung Gegenwart ist..

    Bleib‘ (auch) ein Kind, ja.

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