Kielwasser, oder Da war doch was

nordsee_helgoland_kielwasser
Nachtragend zu sein ist eine neue Erfahrung für mich.
Bis vor kurzem hätte ich das Gegenteil von mir behauptet, was übrigens genau so stimmt.
Denn meistens vergesse ich viel zu schnell, viel zu viel.
Ich habe Übung darin. Von klein auf.

Vor einiger Zeit meldete sich Ale bei mir. Ganz unerwartet. Ob sie mich besuchen dürfe, wenn sie demnächst nach Berlin käme. Ihre Stimme klang unsicher.
War da was? Was war da bloß?
Außer ihrem blöden Abgang fiel mir nichts ein, was ich ihr hätte nachtragen sollen. Warum also nicht?

Als wir uns ein paar Wochen später im Café gegenüber sitzen, scheint sie nervös und schielt dann und wann verstohlen aus den Augenwinkeln zu mir herüber. Ein Blick, den ich von früher kenne. Und wie früher nervt sie mich bereits nach wenigen Sätzen mit ihrer Art und dem unpointierten Erzählstil, der in merkwürdigem Kontrast steht zu der sich überschlagenden Stimme und den weit aufgerissenen Augen.
Ich hatte das vergessen.
Nach kurzem Abgleich der Eckdaten unserer Leben stockt das Gespräch, wir rühren in unserem Kaffee herum und schauen aus dem Fenster. Verlegenes Schweigen. Ein Blick auf die Speisekarte führt sie schließlich zu ihrem Thema: Teigtaschen. Ihre Leidenschaft. Selbstgemacht und gefüllt mit allem Möglichen, auch mit Süßem. Als Nachspeise. Heiß oder kalt. Mit Eis oder ohne. Total lecker. Besonders gut mit verschiedenen, selbstgemachten Saucen. Auch so ein Hobby.
Eine Mischung aus Missbehagen und zäher Langeweile macht sich in mir breit. Ich fühle mich schlecht. Dieser Widerwille ihr gegenüber. Obwohl wir uns so lange nicht gesehen haben, ödet sie mich in Grund und Boden. Meine Mimik verhärtet sich und ich kriege diese Zustände. Ich muss hier raus. Was habe ich überhaupt mit mit diesem Menschen zu schaffen? Unsere Zeit ist längst vorbei. Die Erinnerung daran eine schwache Kontur. Doch statt zu gehen bestelle ich noch einen Cappuccino, stütze mein Kinn auf die Hand und schaue durch sie hindurch.
Sie plappert weiter.
Ohne Antennen, ohne Verstand.

Was war da bloß? Da war doch was.

Nach zwei Stunden schnappe ich aus einem verzweifelten Impuls mein Handy und murmele irgend eine Entschuldigung, während ich die Nummer des Unterfranken wähle. Kaum geht er dran, pflaume ich ihn schon an. Wo er denn bleibt und warum er mich versetzt hat, wir sind doch verabredet!
Sind wir? Für einen kurzen Augenblick versteht er nicht.
Ich spüre Ales bewundernde Blicke. Ja, ich erinnere mich. So war das. Sie mochte fast alles was ich tat und eiferte mir nach. Auch und besonders in Äußerlichkeiten: Haare, Stiefel, Lidstrich, Musik. Genau so war das.
Kurz darauf steht der Unterfranke in der Tür des Cafés und winkt zu uns herüber. Ale mustert ihn von oben bis unten und ihr Gesicht fängt an zu leuchten. Holla! Sexy! sagt sie und das s klingt lasziv-weich, als hätte sie Sahne sagen wollen. Ich schaue sie an.

Da war doch was.

Als der Unterfranke zur Toilette geht, legt sie tantenhaft eine Hand auf meinen Arm: Du hattest immer die tollsten Männer!
Ich bin sprachlos.
Zu dritt sitzen wir da und Ale erzählt. Vom Kochen. Der Unterfranke hört ihr zu, fragt nach und drückt unter dem Tisch mein Knie. Ein Bier später empfiehlt er sich. Ale und ich bleiben vor unseren halbvollen Gläsern sitzen und schauen aus dem Fenster in die Dämmerung.
Ich hatte Angst dich anzurufen, sagt sie plötzlich in das Schweigen hinein.
Angst?  wiederhole ich überrascht und drehe mich zu ihr, wieso das denn?
Ich dachte, du bist immer noch sauer.
Ich wüsste nicht warum.
Meine Antwort erstaunt sie derart, dass sie sich entgeistert zurücklehnt und dabei beinahe von der Bank fällt.
Du weisst es nicht?
Nein, ich weiss es nicht. Sag Du es mir. Ich schaue sie an. Sie zieht die Augenbrauen zusammen und eine merkwürdige Mischung aus Unglauben und Verärgerung zeichnet sich in ihrem Gesicht ab.
So schlimm? frage ich.
Sie zögert, scheint nach den richtigen Worten zu suchen. Atmet ein und dann wieder aus. Mehrmals. Schließlich platzt es aus ihr heraus. Schnell und aufgeregt. Und es klingt nicht wie ein Geständnis, sondern wie ein Vorwurf.
Das weißt du nicht mehr? Ich habe mit T. geschlafen. Und mit F. Und ich habe mich mit J. getroffen.
Und plötzlich, als hätte sie einen geheimen Knopf gedrückt, ist alles wieder da. Das ganze Bild.
Ja, so war das damals. Das war es.

Sie hatte sich mit meinem Freund verabredet, während ich mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Als er sich nicht für sie interessierte, war sie weiter gezogen zu meinem langjährigen Ex-Freund. Nachdem dieser nicht mehr wollte, hatte sie es beim Nächsten versucht. Was mein war, sollte auch ihres sein. Dass sie sich dabei, wir wohnten zusammen,  meiner Klamotten und meines Parfums bediente, war noch das Geringste. Jahrelang fischte sie in meinem Kielwasser, bis ich sie eines Tages beim Lesen meines Tagebuches erwischte und kurzerhand aus der Wohnung warf.
Das alles hatte ich erstaunlicherweise vergessen. Nur der Abschied, der war mir in Erinnerung geblieben.
Ale starrt mich jetzt an, als erwartete sie ein großes Donnerwetter. Den erlösenden Knall.
Ich schaue in ihre grünen Augen und fühle nichts. So schnell wie die Empörung gekommen ist, so rasch ist sie auch verflogen.
Macht doch nichts, höre ich mich sagen, hatte ich alles längst vergessen. War nicht so wichtig.
Fassungslosigkeit und Enttäuschung stehen ihr ins Gesicht geschrieben.

Am nächsten Tag erzählt mir der Unterfranke, dass sie ihm ihre Telefonnummer gegeben hat.

 

(Photo: http://www.rostseite.de, Kielwasser)

31 Kommentare zu “Kielwasser, oder Da war doch was

    • Das ist der beste Kommentar, den ich zu dem leidigen Thema „liken“ lese – so sarkastisch ist es mir bisher noch nicht eingefallen. Ich habe lange Zeit mal die Likes im Blog abgeschaltet – hat gar nichts genutzt, weil im WP-Reader weiter geliked werden kann.
      Jetzt lese ich den Text richtig.

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      • @Clara

        Es hat, aus meiner Sicht, etwas lieb- wenn nicht respektloses einen Text, hinter dem, und das weiß man als Blogger ja, einiges an Arbeit steckt, nicht einmal zu überfliegen und schon zu liken. Weg damit.
        Nein, ich mag das nicht.
        Dahinter scheint mir der Wunsch zu stecken im Gegenzug selbst möglichst viele Likes zu bekommen. Aber wofür? Will man wirklich ungelesen gelobt werden? Ich jedenfalls nicht.

        Man kann die Likes also gar nicht deaktivieren, weil im Reader doch noch geliked werden kann?

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        • Dein letzter Satz ist genau richtig – jedenfalls habe ich das bei mir so festgestellt.
          Ich hatte teilweise Artikel mit einer Zeile eingestellt, die nur eine Vorankündigung enthielten. In WP habe ich die Likes natürlich deaktiviert – und wusste dann, als doch einige kamen, wer nur im Feedreader von WP liket und nicht liest.
          Es hat nichts mit Neid, sondern nur mit Unverständnis zu tun, wie manche Blogger für ein mittelschlechtes Foto über 100 Likes bekommen, manche dümpeln so bei ca. 60 rum – immer die gleichen Like-Leute, egal, welche Qualität das Foto hat, von der Qualität eines Textes zu schweigen.
          Viele gestatten ja nur den ersten Absatz im Feed zu lesen und hängen dann noch 1000 Worte oder so im Originalblog an. Viele rufen nie und nimmer das Original auf, sondern kommentieren und liken anhand des ersten Absatzes.
          Es ist zum K*o*t*z*e*n
          Von WP wird ja auch eine Like-Statistik geführt, die was mit der Rankingliste zu tun hat: Bloggerolympiade. Da lobe ich mir doch das Motto: Teilnehmen ist alles.

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    • Ich halte es grundsätzlich so: Entweder oder – wenn ich kommentiere, gibt es kein Like, wüsste nicht warum. In seltenen Fällen like ich mal nur – aber dann habe ich auch gesehen oder gelesen, bin nur kommentarmüde.

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      • Na ja… sagen wir mal: Das würde helfen! Ich seh gerade Krimi und bastel dabei an einem Doppeldecker aus dem ersten Weltkriege, dem Großen. Ich darf das, weil ich den halben Tag unterm Benz gelegen und die andere Hälfte bei Schrauberkumpels verbracht hab. Was gucksu denn lieb?

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        • Unter uns: Ich schaue „Azul oscur, casi negro“. (Dunkelblau, fast schwarz). Sehr kitschig, wirklich. Hab ich eigentlich vor ein paar Tagen zum Einschlafen reingelegt. Abgebrüht wie ich bin, dachte ich ich würde sofort weglullern. Hab aber immerhin die Hälfte geschafft vom Film. jetzt kommt der zweite Teil.
          Ein Lieferwagen kommt drin vor. Und eine Nikon. Reicht wahrscheinlich nicht?
          Bastel Du am besten am Flieger weiter und ich an der Liebe.
          Auf bald im Blogflur, gute Nacht!

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  1. Ach wie hübsch: Jetzt isse eingeschlafen! Das nächste mal sollte sie es lieber mit »Herz und Hand« mit Anthony Hopkins versuchen. Liebe gips auch, aber vor allem Indian-Bikes und Speed auf zwei Rädern.
    Na dann schlaf mal schön :-)

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  2. Dieses Wechselspiel von Vergessen und Nachtragen ist mir sehr gut bekannt, doch leider vergesse ich meist die wichtigen Dinge und tragen Leuten Dinge nach, die ich für meinen eigenen Seelenfrieden besser vergessen sollte.
    Muss ich noch üben!

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    • Du kennst es auch?
      Ich müsste mal üben nachtragender zu sein.
      Einmal grüßte ich einen Typen auf der Straße, der mich Wochen vorher im Garten mit einem Messer bedroht hatte. Ich sah das Gesicht, dachte, den kenn ich doch, und nickte freundlich.
      Er war äußerst irritiert und grüßte vorsichtig zurück. Seine merkwürdige Reaktion erstaunte mich und dann fiel es mir wieder ein…

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  3. Achja, so ist das mit der Großherzigkeit. Sie macht auch vergesslich.
    ( aber der dummen Nuss, der hätte ich…)
    Ach egal, vermutlich hätte ich das auch vergessen.
    Schön geschrieben…

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    • Hat wahrscheinlich gute Gründe, dass ich das alles vergesse. Wer will schon Gram und Ärger mit sih herum schleppen und davon bitter werden?
      Danke, freut mich, wenn es Ihnen gefällt.

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  4. Handlungsaktive Menschen sind nicht nachtragend. Das können nicht handlungsaktive Menschen nicht nachvollziehen und verstehen. Musste ich auch erst lernen.

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    • Vielleicht bin ich dann eher ein handlungsaktiver Mensch. (Obwohl ich nicht ganz verstehe was das eine mit dem anderen zu tun hat. Meinst Du, sie haben erst gar keine Zeit zum Nachtragen, weil sie immer nach vorne blicken und in Bewegung sind?)

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  5. Ach, ich find’s gut, wenn man nicht nachtragend ist. Warum sollte man sich diese vielen negativen Gefühle aufheben, das macht doch nur depressiv. Obgleich in diesem Fall die plötzliche Erinnerung geholfen hätte, eine unangenehmes Treffen zu vermeiden. Und das hätte auch den Unterfranken geschont ;-)

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    • Wenn man einen Freund hat wie den Unterfranken, hat man´s gut.
      Gewundert hat er sich allerdings auch, wieso ich das alles vergessen hatte.
      Ich finde es auch gut nicht nachtragend zu sein. Das Vergessen ist so heilsam.

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  6. Ich habe es heute life verfolgen können, wie ein absolut neuer Leser in einundeinhalb Minuten meine fünf letzten Beiträge mit Likes versehen hat. Schon einen richtig zu lesen, würde mehr Zeit beanspruchen.
    Ich MUSS mir was einfallen lassen, damit ich mich nicht zu sehr darüber ärgere.

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    • Das verstehe ich. Es könnte aber in dem Falle so sein, dass der Leser einige Deiner Texte gelesen hat und am Ende die „Bewertung“ vornimmt. Ich hab da manchmal schon gemacht: mich erst festgelesen und dann gelobt.
      Wäre ja schön, wenn es dieses Mal so wäre. :)

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